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Vor den Kommunalwahlen in der Türkei

Erdogans Formel

Kommentar

Der Tod von Berkin Elvan läutet die nächste Polarisierungsphase in der Türkei ein. Vor den Kommunalwahlen geht es nicht nur um die Standortbestimmung für Premier Erdogan und seine AKP, sondern um den sozialen Frieden im gesamten Land.

Man kann dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan vieles vorwerfen in diesen Tagen, doch Trauer zu heucheln, wo er keine empfindet, gehört nicht dazu. Die erste und bisher einzige Reaktion Erdogans auf den Tod des 15-jährigen Berkin Elvan, der während der Gezi-Proteste im Sommer von einer Tränengaspatrone der Polizei getroffen worden war und am Dienstag nach 269 Tagen im Koma verstarb, waren beruhigende Worte in Richtung der Finanzmärkte.

 

Der Tod des Jungen und die dadurch ausgelösten Massenproteste würden die Wirtschaft des Landes nicht weiter negativ beeinflussen, die türkischen Märkte hätten schon ganz andere Krisen überstanden, sagte der Regierungschef in einem Interview mit dem regierungsnahen Privatsender Kanal 24 am Tag der Beerdigung Berkin Elvans. Dass es noch zynischer geht, bewies ein Tweet des AKP-Politikers Egemen Bagis, bis vor Kurzem noch Minister für EU-Angelegenheiten und spätestens seit seinen Äußerungen während des türkischen Protestsommers bekannt als Erdogans aggressivster Scharfmacher.

 

Bagis bezeichnete die hunderttausenden Menschen, die am Tag der Beerdigung von Berkin Elvan auf die Straße gingen, um ihre Wut und Trauer zu demonstrieren, als »nekrophil«. Der Entrüstungssturm, den er damit auslöste war wohl selbst einem kritikresistenten Schandmaul wie Bagis zu viel. Nur eine Stunde später löschte der Ex-Minister den umstrittenen Tweet und beklagte sich im selben Atemzug darüber, er sei falsch verstanden worden, weil »Provokateure« seine Aussage verzerrt hätten. 

 

Dass Präsident Abdullah Gül den Eltern öffentlich sein Beileid aussprach, ging bei soviel geballter Ignoranz und Herzlosigkeit fast unter. Gül hatte noch einen Tag vor Berkins Tod bei dessen Familie angerufen, doch da war der Zustand des auf 16 Kilogramm abgemagerten Jungen schon so kritisch, dass es kaum noch Hoffnung gab. In den neun Monaten zuvor hatte sich kein einziger Politiker um den zum Zeitpunkt seiner Verletzung 14-Jährigen gekümmert.

 

Berkin Elvan hatte mit den Gezi-Protesten in Istanbul nichts zu tun, er wollte nur Brot holen gehen, als ihn ein Tränengas-Geschoss am Kopf traf. Der Staat verweigert bis heute die Aufklärung des Falls und deckt die Polizei, die sich laut Erdogan während der Gezi-Proteste ohnehin nichts hat zuschulden kommen lassen, sondern Stoff für »ein Heldenepos« geliefert habe.

 

Die Unfähigkeit, im Angesicht von Tragödien gemeinsam zu trauern

 

»Wenn ein Land es noch nicht einmal schafft, gemeinsam um einen 15-jährigen Jungen zu trauern, dann gibt es in diesem Land kein Volk, was diesen Namen verdient«, schrieb der prominente türkische Kolumnist Ertugrul Özkök in der Hürriyet am Tag nach der Beerdigung Berkin Elvans im Istanbuler Stadtteil Okmeydani. Das trifft es einerseits. Denn die türkische Gesellschaft ist heilloser gespalten denn je.

 

Erdogans verschärfter Polarisierungskurs hat im vergangenen Jahr dazu geführt, dass nationalistisch-konservative Massen und säkular-liberale Teile der Bevölkerung sich so feindselig gegenüber stehen wie schon lange nicht mehr. Und auch diese beiden Lager sind in sich zerklüftet, in verschiedene Minderheiten und Interessengruppen mit jeweils eigenen Agenden. Und selbst Erdogans eigenes Lager fällt im Zuge der anhaltenden Korruptionsvorwürfe und des Machtkampfes zwischen ihm und dem einflussreichen islamistischen Prediger Fethullah Gülen immer weiter auseinander.

 

Die tiefen Gräben innerhalb der Gesellschaft spiegeln sich tatsächlich auch in der Unfähigkeit wieder, im Angesicht von Tragödien gemeinsam zu trauern. Für die Einen ist etwa Berkin Elvan das jüngste Opfer einer Regierung, die ungestraft Unschuldige ermordet. Der Junge, der doch nur Brot kaufen wollte, ist zum Symbol dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit geworden.

 

Andere aber verbreiten auf Twitter und Facebook Fotos des Teenagers, die ihn beim Protest zeigen, mit Mundschutz, die Fäuste gestreckt, die Hände zum Siegessymbol geformt. »Sieht eher aus wie ein Terrorist, als ein Kind, das zum Brotholen geht«, kommentieren viele AKP-Anhänger nun triumphierend das in den sozialen Netzwerken verbreitete Foto, während Regierungsgegner versuchen, das Bild als Montage zu entlarven. Als spielte das eine Rolle. Als würde die Teilnahme an einer Demonstration tatsächlich den Tod eines Kindes rechtfertigen.

 

Je höher der Wahlsieg der AKP, desto mehr Instabilität im Land

 

Andererseits aber hat die Trauer um Berkin, wenn auch nicht das ganze Land, so doch zumindest die Protestbewegung wieder vereint, die seit den Massenaufständen rund um den Gezi-Park in Istanbul im letzten Sommer immer mehr an Elan verloren hatte. Korruptionsskandale, immer neue belastende Telefonmitschnitte, die drohende Internetzensur, all das hat in den vergangenen Monaten nur vergleichsweise wenige Menschen auf die Straße getrieben.

 

Am Tag der Beerdigung von Berkin aber waren es mehrere Hunderttausende im ganzen Land, die gemeinsam ihre Wut auf die Regierung hinausschrien. Wie besorgniserregend die neu aufkeimende Protestwelle so kurz vor den für Premier Erdogan so wichtigen Kommunalwahlen ist, zeigte sich dann daran, wie hart seine Sicherheitskräfte die Aufmärsche niederschlugen. Berkin Elvan lag kaum unter der Erde, als Einsatzkräfte mit Wasserwerfern und Tränengas den friedlichen Protestzug im Stadtteil Sisli auseinandertrieben, um ein Vordringen der Massen zum Taksim-Platz zu verhindern.

 

In der Nacht zum Donnerstag kam es zu den gewaltsamsten Ausschreitungen der letzten Monate. Zwei weitere Menschen kamen ums Leben. In der Provinz Tunceli starb der junge Polizist Ahmet Küçüktag nach einem Einsatz, offenbar an den Folgen von Tränengas-Einwirkung. Und in Istanbul wurde der 22-jährige Burak Karamanoglu in einem Streit am Rande der Beerdigung von Berkin Elvan von Mitgliedern der linksextremistischen Terrororganisation DHKP-C erschossen.

 

Die genauen Umstände seines Todes sind noch unklar, doch die regierungstreuen Teile der Twitter- und Facebook-Communities geben sich seit Bekanntwerden seines Todes alle Mühe, ihn als jüngstes Opfer der »Gezi-Provokateure« darzustellen. Auch wenn bisherigen Informationen zufolge gar keine Demonstranten in der Nähe waren, als der tödliche Schuss fiel. Der Schock über den Tod von Berkin Elvan mag die Protestbewegung zumindest für den Moment neu mobilisiert haben.

 

Die Massentrauer täuscht aber nicht darüber hinweg, wie feindselig und aufgeheizt die Stimmung in der Türkei zwischen Anhängern und Gegnern der Regierungspartei inzwischen ist. Ein Triumph für die AKP bei den Kommunalwahlen am 30. März könnte diese Spannungen sogar noch verschärfen. In Istanbul könnte es für Erdogan zwar durchaus eng werden. Gewinnt seine AKP aber die Wahlen, ist mit neuen, noch heftigeren Unruhen zu rechnen, als man sie in den letzten Tagen erlebt hat. Je höher der Wahlsieg der AKP, desto mehr Instabilität im Land. auf diese Formel scheint es derzeit hinauszulaufen in der Türkei.

Von: 
Yasemin Ergin

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