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Status Quo von Jerusalem

Die Misere nach der Mauer

Analyse

Ostjerusalem soll einst die Hauptstadt eines palästinensischen Staates werden. Doch der politische Status Quo fordert seinen Tribut: Checkpoints und behördliche Schikanen lähmen den Handel, Armut und Arbeitslosigkeit erreichen Rekordwerte.

Als im Anschluss an die Osloer Friedensverhandlungen 1993 eine Interimsregierung der Palästinensischen Autonomiebehörde gegründet wurde, wählte sie als Regierungssitz eine eher unbedeutende Kleinstadt einige Kilometer nördlich von Jerusalem: Ramallah. In den Jahren, die auf die ersten Abkommen folgten, erlebte Ramallah einen Bauboom. Optimistisch, was den weiteren Verlauf des Friedensprozesses anging, kauften viele Palästinenser aus der Diaspora Land in der neuen administrativen Hauptstadt.

 

Auch wenn der Aufschwung mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada vorerst ein jähes Ende nahm, hat Ramallah sich in den vergangenen 20 Jahren zum politischen und ökonomischen Zentrum für die Palästinenser des Westjordanlands entwickelt. Im Gegensatz dazu hat Ostjerusalem – das historische Zentrum der Palästinenser und die anvisierte Hauptstadt ihres künftigen Staats – im selben Zeitraum einen massiven ökonomischen Niedergang erlebt.

 

Durch den 2002 begonnenen Bau der Mauer – im offiziellen israelischen Jargon »Sicherheitsbarriere« und von vielen Palästinensern »Apartheid-Mauer« genannt – wurde die Stadt von ihrem Hinterland abgetrennt. Anders als zuvor konnte nun nur noch problemlos durch die israelischen Checkpoints nach Ostjerusalem gelangen, wer die blaue Ostjerusalemer Residenzkarte besaß. Die Einnahmen vieler Ostjerusalemer Betriebe brachen ein – nach Schätzungen der israelischen NGO »Association for Civil Rights in Israel« (ACRI) schlossen seit Beginn des Mauerbaus rund 5.000 Betriebe ihre Türen oder mussten Konkurs anmelden.

 

Nun droht auch das einzige Ostjerusalemer Gewerbegebiet in Wadi al-Joz, nördlich der Altstadt, geschlossen zu werden. Wegen der unkalkulierbaren Unannehmlichkeiten, welche die israelischen Checkpoints auf Warentransport und den Pendelverkehr von Arbeitnehmern ausüben, denken viele hier ansässige Unternehmer darüber nach, ins Westjordanland umzuziehen. Auch die Krankenhäuser und Gesundheitszentren in Ostjerusalem sind in Finanznot geraten, seitdem für einen großen Teil ihrer ehemaligen Patienten jenseits der Mauer der Zugang zur Stadt nur noch mit Sondergenehmigung der israelischen Behörden möglich ist.

 

Der Massenkonkurs und die Umsiedlung von Betrieben haben sich massiv auf die Armutsrate in der Stadt ausgewirkt: Nach Zahlen von ACRI aus dem Jahr 2012 ist Jerusalem, das ehemalige ökonomische, politische und kulturelle Zentrum der Palästinenser, heute eine Stadt, in der 78 Prozent der 360.000 arabischen Bewohner unter der Armutsgrenze leben. Die Armutsrate von Kindern liegt mit 84 Prozent noch höher. Das ist ein merklicher Niedergang: 2006 lagen die jeweiligen Zahlen noch bei 64 respektive 73 Prozent.

 

Laut derselben Statistik sind 40 Prozent der volljährigen Männer und 85 Prozent der Frauen in Ostjerusalem nicht berufstätig. Durch den Niedergang von Betrieben und das Fehlen von qualitativen Ausbildungsprogrammen für die arabische Bevölkerung ist ein Großteil der Berufstätigen auf schlecht bezahlte handwerkliche Arbeit in israelischen Betrieben angewiesen.

 

Für höher qualifizierte Tätigkeiten fehlen vielen Ostjerusalemern oft die Hebräischkenntnisse. Zudem weigern sich manche Arbeitgeber im Westteil der Stadt, Araber einzustellen. Häufig werden in solchen Fällen Sicherheitserwägungen als Grund angeführt.

Von: 
Martin Hoffmann

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