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Religion, Nation und Demokratie im Kaukasus

Im Kreis der Kaukasus-Kenner

Feature

Ein Band über Religion, Nation und Demokratie im Südkaukasus zeigt, dass Objektivität keine notwendige Voraussetzung für gelungene Forschung ist, Großmachteinfluss oft überschätzt wird – und was säkulare Regime anfällig für Umstürze macht.

Buchpräsentationen von wissenschaftlichen Publikationen sind selten sexy. Und doch gibt es Ausnahmen: Eine davon war der Abschluss des Forschungsprojektes »Religion, Nation and Democracy in South Caucasus« Mitte November 2014 an der Universität im schweizerischen Freiburg. Mehr als ein Dutzend Wissenschaftler waren im Auftrag eines Forschertrios, bestehend aus dem Religionswissenschaftler Alexander Agadjanian (Moskau), dem Sozialwissenschaftler Ansgar Jödicke (Freiburg) und dem Politik-Philosophen Evert van der Zweerde (Nijmegen) vor drei Jahren losgezogen, um zu untersuchen, welche Rolle die Religion und ihre Institutionen in Bezug auf Nation und Demokratie in der jüngsten Geschichte der drei südkaukasischen Republiken Armenien, Aserbaidschan und Georgien spielt.

 

Nun präsentierten sie die Ergebnisse ihrer Forschung in einem 280-Seiten starken Sammelband erschienen im renommierten Routledge-Verlag. Es ist an sich schon als beachtliches Wagnis zu werten, eine Gruppe von Wissenschaftler drei Jahre gemeinsam an einem Projekt arbeiten zu lassen, die größtenteils selbst aus den kriegsversehrten, benachbarten und teils verfeindeten Gesellschaften Aserbaidschans, Armeniens und Georgiens stammen.

 

Dreht sich das Projekt zudem noch um Fragen der Identität, des Glaubens, der Kultur und Ethnizität und der demokratischen Mitbestimmung, so sitzen die verschiedenen Kriege, die aktuelle Politik und die ganz persönlichen Schicksale der beteiligten Forscher immer mit am Schreib- und Konferenztisch. Nur wenige Tage nachdem das aserbaidschanische Militär einen armenischen Kampfhubschrauber vom Himmel geholt hatte, diskutierten in Freiburg Armenier und Aserbaidschaner gelassen über die möglichen Folgen der Ereignisse. Ein konkreter Beweis dafür, dass ein Dialog jenseits der festgefahrenen Friedensverhandlungen auch in heißen Zeiten des Konflikts möglich ist.

 

Nun kann man sich natürlich fragen, ob unmittelbare Betroffenheit eine gute Voraussetzung ist für unabhängige, der Objektivität verpflichtete Forschung? Kritiker des »Elfenbeinturms« kamen zumindest voll auf ihre Kosten. Aus Sicht der südkaukasischen Regierungen hatten wohl viele der zumeist jungen Teilnehmenden an der Abschlusskonferenz bereits mit der Wahl ihres Forschungsthemas die Grenze von Wissenschaft und Politik verwischen lassen, gleichzeitig aber womöglich ihre Relevanz erhöht: Schließlich ging es da um sensible Themen wie die Konstruktion nationaler Identität über den Religionsunterricht in armenischen Schulen, um Säkularisierungstendenzen und ihre Umkehr im Georgien des Ex-Präsidenten Michail Saakashvili oder um die Oppositionsbewegungen in Aserbaidschan.

 

Heiße Eisen für die Machthabenden, spannend auch für Analysten und Politikberater jenseits des Wissenschaftsbetriebes. Kein Wunder, dass mit Tobias Privitelli vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auch ein Vertreter des Schweizer OSZE-Vorsitzes mit ihm Raum saß und auch die allseits bewunderten Südkaukasus-Koryphäe Tom de Waal vom Think Tank Carnegie Endowment for International Peace (CEIP) es sich nicht nehmen ließ, ein Inputreferat zum Thema Stabilität und Wandel zu halten.

 

Vorgestellt als »von allen Konfliktparteien unbestrittene Autorität« verkörperte de Waal so gut wie kein anderer die direkte Schnittstelle von Politik und Wissenschaft. Und so erteilte de Waal auch zunächst allen Geopolitik-Fans eine Absage und betonte, dass man sich in Bezug auf politische Stabilität im Südkaukasus viel zu häufig auf die großen Player in der Nachbarschaft (Russland, Türkei, Iran) konzentriere. Dabei seien interne Faktoren in Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie den Konfliktgebieten Abchasien, Südossetien und Karabach wesentlich relevanter.

 

De Waal bestätigte zudem, was auch die jungen Forschern in ihren Artikeln zu Tage gefördert hatten: Dass Aserbaidschan, entgegen aller Ängste vor einem Erstarken des politischen Islams in der Region, von allen drei südkaukasischen Republiken die säkularste sei. Religion sei hier kein besorgniserregender Faktor. Trotzdem sei das ölreiche Aserbaidschan tendenziell am instabilsten und das gerade weil die Regierung immer repressiver gegen Kritik und Andersdenkende vorgehe.

 

Dies mache das Regime unflexibel und damit anfällig für jenen besonderen und unvorhersagbaren Wendepunkt, den Moment, der das Fass zum Überlaufen bringt – wie zuletzt auf dem Maidan in der Ukraine. Was einen solchen Prozess auslösen und wann dies geschehen könnte, ließ de Waal jedoch offen. Fazit: Empfehlenswerte Lektüre für alle Freunde des Südkaukasus, für Osteuropaforschende, Einsteiger und Fortgeschrittene.

 


Religion, Nation and Democracy in the South Caucasus

Alexander Agadjanian, Ansgar Jödicke, Evert van der Zweerde (Hrsg.)

Routledge, 2015

279 Seiten, 135 Euro 

Von: 
Sara Winter Sayilir

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