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Sowjetisches Erbe in Armenien und Georgien

Moskaus langer Schatten über dem Südkaukasus

Feature
Sowjetisches Erbe in Armenien und Georgien
Skyline von Gjumri

Eine 15-stündige Zugfahrt trennt Batumi, das »Las Vegas Georgiens«, vom verschlafenen Gjumri in Armenien. Ein Reisebericht über die Geheimnisse zweier Städte, die kaum unterschiedlicher nicht sein könnten.

Nur wenige Besucher beginnen ihre Armenien-Reise in Gjumri. Die Stadt in der nördlichen Provinz Schirak ist die zweitgrößte des Landes. In Deutschland würde es aber Gjumri mit seinen 110.000 Einwohnern nicht einmal in die Top 50 der bevölkerungsreichsten Städte schaffen. Abseits von seinem Zentrum rund um den Vartanants-Platz wirkt Gjumri wie eine Kleinstadt. Das liegt auch an dem inoffiziellen Wahrzeichen der Stadt: den vielen niedrig gebauten Häusern aus schwarzem Vulkanstein. Die meist Jahrhunderte alten dunklen Vulkanit-Wände haben schon mehrere Erdbeben überlebt.

 

Wenn man sich aus dem Stadtzentrum herauswagt, erblickt man schnell eine typisch sowjetische Kolossalstatue. »Mutter Armenien« ist nahezu identisch zu einem ähnlichen Monument, das die Skyline von Armeniens Hauptstadt Eriwan dominiert. Wenn man sich an Joggern, Kriegsdenkmälern und anhänglichen Straßenhunden auf der umliegenden Grünfläche vorbeigeschlängelt hat, kann man von »Mutter Armenien« aus die gesamte Stadt überblicken.

 

Nur einen Hügel entfernt sieht man die Schwarze Festung. Eine russische Zitadelle, ähnlich wie Gjumris Häuser aus Vulkanstein erbaut. Die Russen hatten die Stadt 1804 von den Persern erobert. Für das Zarenreich war Gjumri einst ein wichtiges Bollwerk gegen die Osmanen. Die eindrucksvolle Festung ist heute ein Veranstaltungssaal – ein Museum sucht man hier vergebens. Etwas weiter dahinter erkennt man eine weitere Befestigungsanlage. Eine, die man nicht in den Touristenführern findet.

 

»Oh, das ist die Rote Festung«, erzählt uns eine Angestellte des Geschichtsmuseum am Vartanants-Platz am nächsten Tag. »Die ist nicht für Touristen zugänglich. Die Russen unterhalten dort eine Militärbasis.« Das Geschichtsmuseum ist an einem Seiteneingang des Rathauses versteckt. Von Motten zerfressene Teppiche rösten vor der Tür in der Mittagssonne. Die Führung durch die Ausstellung endet schnell. Unser Guide rattert Fakt um Fakt herunter. Unter russischer Herrschaft hieß Gjumri einst Alexandropol – benannt nach der damaligen Zarin (und preußischen Prinzessin) Alexandra Fjodorowna. Es sollte nicht der letzte Namenswechsel der Stadt sein: Dass Gjumri später nach Lenin in Leninakan umbenannt wurde, erfährt man hier nicht. Doch mit dem Beginn der Unabhängigkeit Armeniens endet die Ausstellung abrupt.

 

Sowjetisches Erbe in Armenien und Georgien
Vor »Mutter Armenien« findet man Monumente an die großen Schlachten um sowjetische Städte im Zweiten Weltkrieg.

 

In der Sowjetunion war Leninakan ein bedeutendes Industriezentrum. Aufmerksame Augen erspähen noch immer Hammer und Sichel an manchen Gebäudefassaden. Neben einer Tankstelle finden wir ein verrostetes Denkmal aus Sowjetzeiten: »Wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt im großen Maßstab« steht darauf, im Hintergrund liegt eine Raumsonde.

 

Etwa 100 Meter weiter steht ein Denkmal für den Nazi-Kollaborateur Garegin Nschdeh, eine Gallionsfigur des armenischen Nationalismus. 1918 half er als Parteimitglied der »Armenischen Revolutionären Föderation« (ARF) die erste Armenische Republik zu gründen, kämpfte bis 1921 gegen die Bolschewiken und stellte ab 1942 eine armenische Fremdenlegion für Hitler-Deutschland auf. Doch Stalin wollte Nschdeh für eine Kampagne gegen die Türkei gewinnen: Als Versuche den Nationalisten zu kooptieren scheiterten, starb er schließlich in einem russischen Gefängnis.

 

Seine Statue überblickt heute einen staubigen Kreisverkehr. Seine ARF ist heute die größte Oppositionspartei Armeniens und bestimmt seit der Unabhängigkeit den nationalistischen Tenor im Land. Unter Protesten der politisch irrelevanten Kommunistischen Partei Armeniens hatte hier Gjumris nationalkonservativer Bürgermeister 2011 eine alte Statue zu Ehren des Bolschewiken Suren Spandarjan entfernt und mit einer des Nationalistenführers ersetzt.

 

Anders als im Baltikum, Georgien oder mittlerweile der Ukraine ist das finale Urteil der Armenier über die Sowjetzeit noch nicht gefallen. Doch niemand hat Interesse, über die alten Tage zu diskutieren. Einerseits will man sich die Nabelschau nicht leisten, während man nach wie vor im Konflikt um die Region Bergkarabach mit Nachbar Aserbaidschan steckt. Anderseits auch weil viele Armenier durchaus positiv auf die Sowjetunion zurückblicken. Ungefähr die Hälfte der Menschen glauben, dass sie heute schlechter leben als zu Zeiten von Fünf-Jahresplan, Sputnik und Co., zumindest wenn es nach den Ergebnissen einer Umfrage des »Caucasus Research Resource Centers« aus dem Jahr 2022 geht. Bis diese Debatte geführt wurde, werden Armeniens Straßen weiterhin von alten sowjetischen und neuen nationalistischen Denkmälern gesäumt sein.

 

Was in Deutschland unvorstellbar klingt, ist in Armenien Realität: Der Nachtzug Richtung Georgien rollt auf die Minute pünktlich in den Bahnhof von Gjumri. Doch während auf dem deutschen Schienennetz täglich ungefähr 40.000 Züge versuchen, ihr Ziel zu erreichen, halten in Gjumri pro Tag nie mehr als zehn Lokomotiven. Der alte sowjetische Bahnhof wirkt dafür fast überdimensioniert. Bis auf ein Modell eines Panzerzugs der Roten Armee herrscht in den Bahnhofswarteräumen gähnende Leere.

 

Sowjetisches Erbe in Armenien und Georgien
Vergangene Zeiten: ein sowjetisches Denkmal in Gjumri

 

Sofort nach Reisebeginn breiten unsere Sitznachbarn Brot, Gurken und Wurst über den Zugtisch aus. »Wir sind Armenier, leben aber in Moskau«, erzählt das Geschwisterpaar. Über eine Million Armenier leben in Russland. »Wir kommen jedes Jahr nach Armenien. Aber hier fehlt der Strand«, sagt die Schwester. Der Zug Richtung Bademetropole Batumi schlängelt sich durch die Grenztäler zwischen Armenien und Georgien.

 

Um 10 Uhr abends ist die Grenze erreicht. Es ist Zeit für die Zoll- und Passkontrolle. Vor dem kleinen georgischen Zollhäuschen mit sonnengebleichter Ukraine-Flagge an der Hinterwand bildet sich sofort eine unkontrollierte Schlange. Was auffällt: Viele russische Pässe wandern durch die Hände der Zollbeamten. Die Grenzer brummen kurz bei jedem neuen Pass. Die georgische Attitüde gegenüber den Russen lernt man unweigerlich kennen, wenn man Georgien besucht.

 

»Nicht schon wieder eine Demo«, flucht unser Fahrer. Nach 15 Stunden Zugfahrt sitzen wir im Stau in Richtung des Stadtzentrum von Batumi fest. Der Grund: Proteste gegen ein russisches Kreuzfahrtschiff, das in der Hafenstadt anlegen wollte. An Bord und Auslöser der Demos: Mehrere Musiker, die Russlands Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Einer der Künstler, Mitya Fomin, hatte sogar bei einem Propagandakonzert das russische Heer und die Moskauer Führung gefeiert. Mehrere Hunderte haben sich versammelt. In Georgiens Hauptstadt fanden ebenso Solidaritätskundgebungen statt. Die Busse, die die Kreuzfahrtschiffurlauber abholen sollten, werden blockiert. Schließlich dreht das russische Schiff ab.

 

Doch die Russen sind längst da. Die Schwarzmeerküste Georgiens ist ein beliebter Urlaubsort im gesamten postsowjetischen Raum. Doch die meisten Touristen kommen aus Russland: Im vergangenen Jahr war fast jeder vierte Tourist ein Russe. Auch weil vielen Russen wegen der Sanktionen weniger Urlaubsziele zur Verfügung stehen. Abseits der Demos ist die Stimmung in Batumi entspannt. Solang sich russische Touristen benehmen, nimmt man ihr Geld gerne.

 

Georgiens aktueller Zwist mit Russland ist um die 30 Jahre alt. Als die Kaukasusrepublik in den Neunzigern die Unabhängigkeit erlangte, spalteten sich zwei hauptsächlich von Minderheiten bevölkerte Regionen im Norden Georgiens ab: Abchasien und Südossetien. Georgiens nationalistische Regierung hatte den zwei Regionen ihre Autonomierechte entziehen wollen. Zwei hässliche Kriege folgten, inklusive ethnischen Säuberungen auf beiden Seiten. Moskau unterstützte die Regierungen in Abchasien und Südossetien und bekam im Gegenzug die Erlaubnis, in den abtrünnigen Teilrepubliken Militärbasen einzurichten. Laut Völkerrecht auf georgischem Territorium.

 

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In Batumi überwiegen Steinstrände.

 

Wenn man an den Stränden Batumis nicht gerade Georgisch oder Russisch hört, dann auf jeden Fall Türkisch. Staatlichen Statistiken zufolge kommen monatlich 80.000 türkische Touristen nach Georgien. Doch für einen entspannten Tag am Meer hätten Badebegeisterte aus Anatolien vor etwas mehr als 100 Jahren gar keine Grenze überqueren müssen: Von 1614 bis 1878 beherrschten die Osmanen Batumi.

 

Mit der osmanischen Herrschaft kam auch der Islam nach Georgien: Viele Georgier konvertierten. In der UdSSR hatten Muslime in Batumis Provinz Adscharien sogar eine eigene Autonome Sozialistische Sowjetrepublik – die einzig an eine Religion gebundene Autonomie in der Sowjetunion. Die damals noch junge türkische Republik hatte darauf gedrängt. Die Autonomie hielt die Sowjets aber nicht davon ab, auch hier muslimische Gläubige zu verfolgen. Batumis Moscheen verschwanden: Von 158 blieben nach den ersten zwei Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft zwei Moscheen übrig. Viele Muslime hielten dennoch an ihrem Glauben fest. Heute ist Adscharien zu 40 Prozent muslimisch. Doch die meisten Muslime leben außerhalb von Batumi, das heute ein christlich dominierte Stadt ist.

 

Vielleicht weil Batumi mit seinen hochprozentigen Partys und großen Kasinos unattraktiv für fromme Muslime ist. Das »Las Vegas am Schwarzen Meer« hat mit all seinen Lastern einen Bauboom losgetreten. Gigantische 17 Stockwerke hohe Hotels wie das »Orbi City« werden derzeit aus dem Boden gestampft. Die Neubauten mit Meerblick überragen die meist fünf- oder sechsstöckigen Wohnhäuser der georgischen Anrainer.

 

Vielen Einwohnern stößt aber sauer auf, wer die Neubauten bezieht. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs siedelten viele Russen nach Batumi um. Laut Georgischer Nationalbank gingen im November 2022 19 Prozent aller Immobilienkäufe von russischen Staatsbürgern aus. Russische Aussiedler bevorzugen das kosmopolitische Batumi gegenüber der Hauptstadt Tbilisi. Zumal sie sich in Batumi sicherer fühlen: Tbilisi ist übersät mit teils aggressiv russenfeindlichen Graffitis

 

Aber auch in Batumi sind die Neuankömmlinge vielen Einheimischen suspekt. Das können auch Ukraine-Flaggen, die viele als Solidaritätsbekundungen in ihren Geschäften aufhängen, nicht ändern. Viele Immigranten haben Restaurants, Cafés und Friseursalons eröffnet. Allerdings verlangt das georgische Gesetz, dass Geschäfte die Bedienung in georgischer (oder abchasischer) Sprache anbieten müssen. Das stellt viele russische Aussiedler vor Herausforderungen: Ein Sprachkurs dauert zu lange, aber wegen des Personalmangels finden viele russische Betreiber auch keine georgisch-sprachige Mitarbeiter. Was folgt, sind Strafzahlungen oder sogar Schikanen von Nachbarn, die mit Vokabel-Quizzen anrücken.

 

Wer die Badestrände, die russischen Cafés und die Bettenburgen satt hat, kann jederzeit mit einem Schnellzug Richtung Tbilisi entkommen. Doch dem russischen Einfluss entgeht man nicht. Über 30 Jahre sind vergangen seit dem Fall der Sowjetunion. Armenien und Georgien sind unabhängige Staaten. Doch die Präsenz des großen Nachbarn im Norden wiegt noch immer schwer. Sei es in Form von Immigranten, Militärbasen oder verrosteten sowjetischen Statuen. Doch ein Eindruck überwiegt: Armenien und Georgien sind selbstsicherer geworden. Auch wenn das neue Selbstbewusstsein mit Nazi-Statuen und Hass gegen russische Immigranten auch hässlichen Seiten zur Schau stellt.

Von: 
Raphael Bossniak

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