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Ramadan und Militärputsch in Ägypten

Armee gut, Muslimbrüder böse

Feature

Es heißt, wer den Ramadan in Ägypten nicht erlebt habe, wisse nicht, was Feiern bedeutet. Doch zu Beginn des Fastenmonats ist eines klar: In diesem Jahr wird alles etwas anders als sonst. Ein Rückblick auf die vergangene Woche.

Freitag, 5. Juli: Zwei Tage nach dem Militärputsch gegen Mohammed Mursi haben die Muslimbrüder zum »Tag der Ablehnung« aufgerufen. Die Gewalt eskaliert – in Alexandria werfen Anhänger Mursis zwei Teenager von einem Wasserturm, in Kairo eröffnen Militär und Polizei das Feuer auf Pro-Mursi-Demonstranten. Schockierende Videos auf Youtube dokumentieren beide Vorfälle – und steigern den Hass auf beiden Seiten. »Das ist in ein paar Tagen vorbei«, sagt Ahmed, ein Mursi-Gegner auf dem Tahrir-Platz.

 

»Die Islamisten können sich nicht dauerhaft gegen das gesamte Volk stellen.« Er trägt eines jener Plakate von General Sisi, die man fast überall in der Stadt für umgerechnet rund 15 Cent erwerben kann. Wurden nach der Absetzung Mubaraks noch die Opfer der Revolution gefeiert, hat sich nun ein Personenkult um den General gebildet, der Mursis Präsidentschaft am 3. Juli beendete. Er geht einher mit einem Kult um das Militär im Allgemeinen – jedes Mal wenn Kampfjets mit ihren Kondensstreifen die ägyptischen Flagge in den Himmel über Kairo malen, brandet tosender Jubel auf.

 

Mursis Unterstützer reagieren auf die Militärflieger erwartungsgemäß anders. Sie strecken ihre Schuhe in den Himmel – das islamische Pendant zum Mittelfinger. Im Laufe des Tages zieht ein Protestzug zum Maspero-Gebäude am Nilufer. Das Hauptquartier des ägyptischen Staatsfernsehens ist nur etwa einen Kilometer vom Tahrir-Platz entfernt – eine Provokation für Mursis Gegner. An und auf der Brücke des 6. Oktober, die dazwischen liegt, kommt es am Abend zu massiven Straßenschlachten.

 

»Wir werden kämpfen, bis Sisi hängt und Mursi wieder Präsident ist«, sagt Mohammad, ein Ingenieur, der für eine bekannte Hotelkette arbeitet. Er hat sich vorbereitet, trägt einen Motoradhelm, eine Schutzweste, dicke Stiefel und Handschuhe. Und eine Tüte mit Steinen und Molotowcocktails.

 

Der Boden ist mit Steinen übersäht, ein ausgebranntes Auto versperrt die Fahrbahn

 

Verglichen mit den Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz wirkt die Demonstration vor dem-Maspero Gebäude eher beschaulich. Doch das kümmert hier niemanden. »Gott ist auf unserer Seite, er wird uns unterstützen«, sagt Mohammed. Terroristische Anschläge möchte er nicht ausschließen. Ein paar Meter weiter lädt ein Mann mit langem Bart ein veraltetes halbautomatisches Gewehr. In regelmäßigen Abständen werden Kämpfer von der »Front« zurückgetragen, blutüberströmt und teilweise bewusstlos.

 

Andere kommen nur kurz zurück, um Steine zu holen. »Allahu Akbar« schreien sie, als sie sich zurück ins Getümmel stürzen und wirken dabei deutlich entschlossener als die Kämpfer auf der anderen Seite. Und das ist eine beunruhigende Erkenntnis dieses Tages: Die Islamisten mögen in der Unterzahl sein. Doch in ihren Reihen finden sich einige, die bereit sind, sehr weit zu gehen. Seitenwechsel. Auch die Mursi-Gegner graben Pflastersteine aus, auch sie werfen Molotowcocktails, Chinaböller und schießen mit Feuerwerksraketen.

 

Und auch sie haben einige scharfe Waffen dabei. Die gewaltsame Auseinandersetzung suchen heute beide Seiten. »Das sind Faschisten, sie wollen Ägypten zerstören – wir müssen gegen sie kämpfen«, sagt ein Demonstrant. Auch das Anti-Mursi-Lager hat dutzende Verletzte zu beklagen. Nachdem die Armee die Kämpfe mehrere Stunden gewähren ließ, rücken gegen halb zehn Uhr am Abend mehrere Radpanzer an und verjagen die Pro-Mursi-Demonstranten.

 

Während sie zum Maspero-Gebäude vorrücken, lassen die Soldaten einige Mursi-Gegner auf ihren Panzern mitfahren – die Sympathien sind gegenseitig. Doch der Eingriff der Armee kommt spät – wieder gab es Tote und Verletzte. Die Brücke und ihre Umgebung sind ein Schlachtfeld. Der Boden ist mit Steinen übersäht, an einigen Stellen sieht man Blutspuren, ein ausgebranntes Auto versperrt die Fahrbahn. Insgesamt kommen in Ägypten laut Gesundheitsministerium an diesem Freitag auf beiden Seiten 36 Menschen um, 1138 weitere werden verletzt.

 

Vergebliche Bemühungen um Deeskalation

 

Montag, 8. Juli: Eigentlich war vor allem der Sonntag mit großer Sorge erwartet worden. Wieder hatten die Muslimbrüder zu massiven Protesten aufgerufen, wieder werden noch massivere Gegenkundgebungen abgehalten. Der Tag bleibt weitgehend friedlich in Kairo, doch die Erleichterung währt nur kurz. Denn was sich am frühen Montagmorgen ereignet, übertrifft die schlimmsten Befürchtungen. Vor dem Sitz der Republikanischen Garde kommt es zu Zusammenstößen zwischen Armee und Islamisten.

 

Was genau passiert ist, bleibt umstritten – fest steht jedoch, dass am Ende 51 Mursi-Anhänger tot und 435 weitere verletzt sind. Die Armee behauptet, die Demonstranten hätten versucht, das Gebäude zu stürmen. Doch selbst wenn das stimmt, hat es das Militär offensichtlich nicht geschafft, mit gewalttätigen Demonstrationen umzugehen, ohne gleich ein Blutbad anzurichten. Spätestens jetzt drängen sich die Vergleiche mit den Massakern der anderthalbjährigen Militärherrschaft nach der Revolution geradezu auf.

 

Und es stellt sich die Frage, wie die Armee mit der ungleich größeren Demonstration vor der Rabaa al-Adawiya-Moschee umgehen wird. Ebenso unverantwortlich gestaltet sich der Umgang mit der Tragödie. Nur wenige Stunden nach dem Massaker setzt die »Tamarrod«-Bewegung die Muslimbrüder per Twitter mit den Nazis gleich. Der Vergleich ist nicht neu, konterkariert aber alle  Versuche der Deeskalation. Erschreckend nimmt sich auch die Berichterstattung in den staatlichen und privaten ägyptischen Medien aus.

 

Moderatoren bezeichnen die Mursi-Befürworter durchweg als Terroristen und Extremisten. Die Version der Sicherheitskräfte wird kritiklos gestützt, es werden fast nur Interviews mit Vertretern von Armee und Polizei gesendet. Vielleicht ist es Zensur, vielleicht ist es Selbstzensur – sicher ist nur: Berichtet wird, was die Sicherheitskräfte, aber eben auch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, derzeit hören wollen: Armee gut, Muslimbrüder böse.

 

Kritische Medien werden von den Autoritäten drangsaliert und den Mursi-Gegnern angefeindet

 

Kritische Medien werden von den Autoritäten drangsaliert und den Mursi-Gegnern angefeindet. Unmittelbar nach dem Putsch waren bereits mehrere der Muslimbruderschaft nahestehende Fernsehsender sowie der ägyptische Ableger von Al-Jazeera geschlossen worden. Mehrere internationale Journalisten – darunter auch n-tv-Korrespondent Dirk Emmerich – werden stundenlang festgesetzt. Dem CNN-Korrespondenten Ben Wedeman wird sogar mitten in einer Liveschalte die Kamera weggenommen.

 

Trauriger Höhepunkt ist die Pressekonferenz der Sicherheitskräfte. Nachdem mehrere ägyptische Journalisten »Al-Jazeera raus« skandieren, werden die Korrespondenten des katarischen Senders tatsächlich des Saales verwiesen. Ohne Zweifel hatte der Sender in der Tat während der Aufstände zu Gunsten der Muslimbrüder berichtet. Doch verglichen mit der einseitigen Berichterstattung der ägyptischen Medien nach dem Putsch wirkt Al-Jazeeras Parteinahme für Mursi nun fast harmlos.

 

Eine wirkliche Erklärung für die vielen Todesfälle liefert die Pressekonferenz nicht. Die Videos, die beweisen sollen, dass die Demonstranten zuerst angegriffen haben, zeigen Szenen bei hellem Tageslicht. Die Kämpfe waren indes kurz nach Sonnenaufgang ausgebrochen. Die Dämonisierung der Islamisten ist unfair und wenig hilfreich. Genau wie Mursis Gegner sind auch dessen Unterstützer zu heterogen, als dass man sie alle in eine Schublade stecken könnte.

 

Außerdem repräsentieren sie nach wie vor einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Insbesondere abseits der Großstädte haben die Menschen nicht vergessen, dass die Muslimbrüder durch ihre karitativen Einrichtungen vielen Armen Zugang zu medizinischer Versorgung und anderen elementaren Diensten ermöglichten. Diese Menschen nun pauschal anzufeinden, wird die Wiederherstellung des sozialen Friedens nicht erleichtern. Es sei kein Militärputsch, sondern eine Volksrevolution, steht auf Plakaten und Transparenten am Tahrir-Platz.

 

Doch das gewaltsame Vorgehen der Armee gegen die Islamisten und die Repressalien gegen die Medien lassen diese Aussagen immer weniger glaubhaft wirken. Noch bedenklicher: Für viele Demonstranten sind derlei Aktionen plötzlich in Ordnung – solange sie sich gegen die Muslimbrüder oder als feindlich wahrgenommene Medien richten. Und das ist die zweite beunruhigende Erkenntnis: Das Anti-Mursi-Lager ist bei weitem nicht so liberal und demokratisch gesinnt, wie es sich gibt.

 

Premier Al-Beblawi genießt den Respekt der ägyptischen Jungend

 

Dienstag, 9. Juli: Nach tagelangen Querelen um die Position des Premierministers einigen sich die Oppositionsparteien auf Hazem Al-Beblawi. Friedensnobelpreisträger Mohammed El Baradei, der lange als Favorit für die Position galt, wird Vizepräsident und soll sich auf die Außenpolitik konzentrieren. Der neue Premierminister war unter der post-revolutionären Militärregierung kurzzeitig stellvertretender Regierungschef und Finanzminister gewesen.

 

Der liberale Ökonom genießt den Respekt der ägyptischen Jungend, weil er zurücktrat, nachdem das Militärregime im Oktober 2011 auf Proteste koptischer Christen mit einem Massaker reagierte, das 28 Tote und 212 Verletzte forderte. Doch es ist nicht ohne Ironie, dass Al-Beblawi nun wieder auf eine Spitzenposition vom Militär gehievt wird– nur zwei Tage, nachdem die Armee bei einem ähnlichen Massaker fast doppelt so viele Demonstranten tötet.

 

Der Ökonom Al-Beblawi, der Diplomat El Baradei und der Jurist Adli Mansour sollen nun also das Land aus der Krise und zurück in die Demokratie führen. Nachdem die ägyptische Jugend zum zweiten Mal binnen weniger Jahre einen Präsidenten abgesetzt hat, übernehmen damit ein 76-Jähriger, ein 71-Jähriger und ein 67-Jähriger vorerst das Land. Dennoch gibt Grund zum vorsichtigen Optimismus.

 

Al-Beblawi wird auch von der salafistischen Nour-Partei gestützt und hat den Muslimbrüdern bereits Kabinettsposten angeboten. Durch sein globales Netzwerk und seine Reputation könnte El Baradei durch den Putsch beschädigte Beziehungen zu westlichen Ländern zu reparieren. Doch die Herausforderungen bleiben gewaltig. Erste Anzeichen für einen Zerfall der gemeinsamen Front gegen Mursi mehren sich, nachdem Präsident Mansour ein Verfassungsdekret zur Regelung der Übergangszeit veröffentlicht.

 

»Tamarrod« beschwert sich, nicht eingebunden worden zu sein und lehnt das Dekret rundweg ab. Kritisiert werden vor allem die Allmacht des Präsidenten und mögliche Spielräume für Repressalien. Christen und Säkulare sind über den beibehaltenen Scharia-Bezug verärgert, der wiederum den Salafisten nicht weit genug geht.

 

Vielleicht kommt Ramadan doch zur richtigen Zeit

 

Mittwoch, 10. Juli: Das erste Fastenbrechen des Ramadan sei deutlich ruhiger ausgefallen als im vergangenen Jahr sagt, Sameh, ein koptischer Christ, der als Englischlehrer in Kairo arbeitet. Ob das mit der politischen Situation zusammenhängen könnte? Möglich. Vielleicht sei der Tag aber auch einfach heißer als beim letzten Mal. Seit Tagen rätselt Ägypten, wie sich die politische Lage auf den Fastenmonat auswirkt. Und andersherum. Denn wer tagsüber nichts trinken darf, kann kaum den ganzen Tag in der Sonne stehen und protestieren oder gar kämpfen.

 

Kairo bleibt tagsüber weitgehend ruhig – abgesehen von Haftbefehlen gegen prominente Muslimbrüder, unter anderem gegen Muhammad Badie, das geistige Oberhaupt der Organisation. Es wird vermutet, dass sich die Betroffenen auf der Demonstration vor der Rabaa al-Adawiya-Moschee verstecken. Von dort setzt sich in der Nacht ein Marsch zum Präsidentschaftspalast in Bewegung. Die rund 1.000 Demonstranten tragen symbolische Särge, in ihren Slogans bezeichnen sie Sisi als Verräter und fordern Mursis Wiedereinsetzung als Präsident.

 

Vor dem Präsidentschaftspalast treffen sie auf die Armee. Wiederholen sich nun die Ereignisse vom Montag? Rund 100 Meter trennen beide Seiten. Die Stimmung ist angespannt. Die Armee startet die Motoren ihrer Panzer und richtet Scheinwerfer auf die Demonstranten. Die bewegen sich langsam auf die Soldaten zu. Einige Demonstranten fordern ihre Mitstreiter dazu auf, stehen zu bleiben. Sie beginnen eine Menschenkette zu bilden, um die Aggressiveren unter ihnen zurückzuhalten. Ein Demonstrant mit Megafon fordert die Menge auf, der Armee durch friedliches Umkehren eine Lektion zu erteilen. Und die Demonstranten kehren tatsächlich um. Vielleicht kommt Ramadan doch zur richtigen Zeit.

Von: 
Ragnar Weilandt

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