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Präsident Mursi und Militärrat-Chef Tantawi

Fortsetzung und Absetzung

Analyse

Die Luftwaffe fliegt, führende Funktionsträger ebenso. Präsident Mursi und Militärrat-Chef Tantawi demonstrieren Stärke. Derweil werden die riesigen Infrastrukturprobleme des Landes offenbar.

Die Lage auf der Sinai-Halbinsel nach dem gewaltsamen Angriff auf einen ägyptischen Militärposten am Sonntag, bei dem 16 Soldaten und acht Angreifer getötet wurden, und der darauf folgenden Offensive der ägyptischen Armee gegen mutmaßliche Attentäter eskaliert zunehmend. Die ägyptische Armee hat massiv Truppen auf dem Sinai zusammengezogen und nach weiteren Attacken unbekannter bewaffneter Gruppen auf ägyptische Polizei- und Militärposten im Norden der Halbinsel um die Provinzhauptstadt Al-Arish am Dienstag die Jagd auf die unbekannten Täter eröffnet.

 

Auch Mittwochvormittag gab es erneut Zusammenstöße in der Provinz Al-Arish. Sowohl aus israelischen Regierungs- und Armeekreisen als auch seitens der ägyptischen Armee werden die Angreifer als islamistische Extremisten bezeichnet, die aus dem Gaza-Streifen eingesickert seien und der palästinensischen Islamistenszene nahe stünden, ohne jedoch konkrete Hinweise oder gar Beweise für diese Behauptungen zu liefern.

 

Zwar tummeln sich im Sinai kriminelle Gruppen und Beduinen, die sich auf Entführungen von Touristen spezialisiert haben, derartig schlagkräftige und gut organisierte Angriffe sind in dieser Form jedoch neu und wecken Zweifel an den offiziellen Informationen. In der Tat sind die Umstände der militärischen Eskalation auf der Sinai-Halbinsel mehr als dubios.

 

Das ägyptische Militär ist wahrlich keine Provinzarmee, auch ob der US-Militärhilfe von 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich. Am Sonntag schafften es die Angreifer dennoch, zwei gepanzerte Armeefahrzeuge in ihre Gewalt zu bringen und damit gar die israelische Grenze zu überqueren, eines der Fahrzeuge soll auf der Grenzlinie von einer Landmine gesprengt worden sein, das zweite wurde von der israelischen Luftwaffe mit einem gezielten Luftangriff ausgeschaltet.

 

Bei den Attacken auf die Grenzposten in Al-Arish am Dienstag meldeten Nachrichtenagenturen und ägyptische Medien unter Berufung auf Armeekreise, das Militär hätte die Angreifer, die es erneut geschafft hätten, gepanzerte Fahrzeuge zu kapern, verfolgt und bis zum Donnerstag 30 Extremisten getötet. Unklar bleibt, wieso plötzlich eine derart große und gut organisierte Gruppe aus dem Nichts auftaucht und fähig ist, der ägyptischen Armee problemlos Fahrzeuge zu entwenden und die israelische Grenze zu überqueren.

 

Warum haben die ägyptischen Sicherheitsdienste ihre Grenzpolizei ins offene Messer laufen lassen?

 

Die Zwischenfälle auf dem Sinai haben den innerägyptischen Machtkampf zwischen Präsident Muhammad Mursi und den ihm nahe stehenden Muslimbrüdern sowie dem Obersten Militärrat (SCAF) unter dem vorsitzenden Feldmarschall Tantawi erneut verschärft. Nachdem sich andeutete, dass sich beide Machtblöcke inzwischen aus realpolitischen und pragmatischen Gründen miteinander arrangiert haben könnten, eskalierte der Konflikt in den vergangenen Tagen erneut.

 

Während aus Armeekreisen harsche Kritik an Mursi laut wurde, nachdem er der Trauerfeier und der Beerdigung der am Sonntag auf dem Sinai getöteten Soldaten fernblieb und nur seinen neuen Regierungschef Hischam Qandil schickte, entließ Mursi am Mittwoch eine Reihe von Funktionsträgern in der Provinz Sinai und dem Sicherheitsapparat.

 

Geheimdienstchef Murad Mowafi hatte Anfang der Woche noch behauptet, ebenso wie der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad schon im Vorfeld des Anschlags am Sonntag vorgewarnt gewesen zu sein. Warum die ägyptischen Sicherheitsdienste dann aber ihre Grenzpolizei ins offene Messer haben laufen lassen, wird aus seinem Statement nicht klar – und ist gewiss kein Lob für das Militär, das leichtsinnig das Leben seiner Soldaten auf Spiel zu setzen scheint.

 

Mursi reagierte neben der Unterstützung der Armee für eine großangelegte Offensive auf dem Sinai mit umfangreichen Entscheidungen in Personalfragen am Mittwoch. Neben Geheimdienstchef Mowafi, der nach seinen öffentlichen Kommentaren über Vorabinformationen zu den Anschlägen entlassen wurde und durch Muhammad Rafet Abdelwahed, musste auch der Gouverneur der Provinz Sinai seinen Hut nehmen.

 

Des Weiteren sind der Leiter der Präsidentengarde, die Sicherheitsberater im Innenministerium und für die Kairoer Sicherheitskräfte sowie vermutlich in Absprache mit SCAF-Chef Tantawi auch der Chef der Militärpolizei entlassen worden. Ob die Geschassten allesamt nur Bauernopfer darstellen oder der Sicherheitsapparat tatsächlich seit der Revolution seine Arbeit auf dem Sinai durch die Konzentration auf die Hauptstadt vernachlässigt hat, bleibt fraglich.

 

Sicher ist, dass die Neubesetzung wichtiger Posten im Sicherheitsapparat beiden Machtblöcken nutzen wird. Auch wenn Muslimbrüder und Militärführung die undurchsichtige Situation in der Ostprovinz des Landes nutzten, um ihren innenpolitischen Machtkampf um mediale Deutungshoheit der Ereignisse mittels gegenseitiger Beschuldigungen fortzusetzen, arbeitet die militärische Eskalation auf dem Sinai gegen einen unbekannten gesichtslosen Feind, der scheinbar willkürlich und grundlos Soldaten tötet, der Konterrevolution in die Hände.

 

Massive Probleme in der Strom- und Wasserversorgung

 

Seit der Inthronisierung Mursis als neuem Staatspräsident am Nil ist die Revolution von 2011 faktisch eingeschlafen. Gewiss ist die Zivilgesellschaft lebendiger denn je, doch auf machtpolitischer Ebene entscheiden alte Kader aus Armeekreisen und, wie ein Mitglied der koptischen Gemeinde es treffend auf den Punkt bringt, »das religiöse Gesicht des alten Regimes«.

 

Die Machtteilung zwischen Muslimbrüdern und Militärs scheint besiegelt, auch wenn nach wie vor nicht entschieden ist, wer von beiden die Führungsrolle in der politischen Sphäre einnehmen wird. Nach dem Chaos der letzten 18 Monate sind beide Machtblöcke jedoch gezwungen, sich wieder mit realpolitischen und alltäglichen Problemen des Landes und der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

 

Neben den wieder öfter auftretenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und christlichen Gemeinschaften nehmen seit gut drei Wochen die Probleme in der Wasser- und Stromversorgung massiv zu. Demonstrationen gegen die schlechte Versorgungslage insbesondere in der Region Giza schlugen in den vergangenen Wochen mehrfach um in Ausschreitungen zwischen der wütenden Bevölkerung und der Staatsmacht um.

 

Zwar sind derartige infrastrukturelle Instabilitäten in Giza, der drittgrößten Stadt des Landes südlich von Kairo, zum Alltagsproblem geworden, doch seit Anfang August gibt es fast täglich Stromausfälle – auch im Stadtzentrum Kairos. Am Donnerstagmorgen fiel im Großraum Kairo und in weiteren Landesteilen gar großflächig der Strom aus.

 

Selbst das Metronetz, das in Kairo täglich bis zu 4 Millionen Passagiere transportiert, stand zeitweise still, die U-Bahnhöfe wurden nur mit Notstrom beleuchtet. Fraglich bleibt, wie lange die militärischen Auseinandersetzungen auf dem Sinai die Menschen von Protesten gegen die Sozial- und Infrastrukturpolitik des Regimes ablenken und abhalten werden. Die Regierung und Präsident Mursi versprachen schließlich, die stockende Stromversorgung zügig zu stabilisieren.

Von: 
Sofian Philip Naceur

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