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Palästina und der Staatsstreich in Ägypten

Gaza hört die Signale vom Tahrir-Platz

Analyse

Der Staatsstreich in Ägypten wird in Palästina mit ambivalenten Gefühlen verfolgt: Mursis Absetzung könnte die Gegner der Hamas zum Widerstand motivieren – oder Demonstrationen zur Überwindung der palästinensischen Spaltung inspirieren.

Mit großer Sorge wurde in Gaza die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Muhammad Mursi verfolgt. Der Sturz des Präsidenten aus den Reihen der Muslimbrüder durch das Militär erschüttert die palästinensische Gesellschaft. Zum einen wird die Schließung des Grenzübergangs Rafah und der Tunnel zwischen Ägypten und dem Gazastreifen die israelische Blockade wieder verschärfen. Zuletzt hatten tausend Personen täglich die Grenze überquert.

 

Durch die Schließung der Tunnelwirtschaft wird der Warenverkehr wieder gänzlich in den Händen Israels liegen. Zum anderen sehen viele Palästinenser Parallelen zwischen der politischen Situation im Gazastreifen und Ägypten: In beiden Gesellschaften hatten Parteien des politischen Islam die Macht. In Palästina war der Beteiligung am politischen System nicht nur innerhalb der Hamas eine intensive Diskussion vorangegangen. Auch außenstehende Beobachter fragten sich, ob eine Partei aus dem islamistischen Spektrum überhaupt zur demokratischen Beteiligung fähig sei. Ihre Fähigkeit, Prinzipien wie Pluralismus, Toleranz und Meinungsfreiheit anzuerkennen, wurde in Frage gestellt.

 

Nach sieben Jahren Hamas-Herrschaft haben sich in Gaza einige Mechanismen zum Interessenausgleich eingeübt

 

Optimisten verwiesen auf das türkische Modell, wo die AKP scheinbar problemlos die demokratischen Regeln befolgte. Pessimisten verwiesen auf den Iran, in dem ein religiöser Wächterrat Politik und Gesellschaft dominiert. In Ägypten, wie auch in Palästina ist die Herrschaft der Parteien des politischen Islam demokratisch legitimiert gewesen. Während in Palästina unter anderem die internationale Gemeinschaft verhinderte, dass die Hamas nach dem Wahlsieg 2006 die Regierungsgeschäfte führt, waren es in dieser Woche in Ägypten das Militär und Massen unzufriedener Bürger, die für die Absetzung Mursis verantwortlich waren.

 

In beiden Fällen sind die Gesellschaften tief gespalten. Nicht nur die Frage der Machtteilung, sondern vor allem, welchen Stellenwert die Religion in Politik und Gesellschaft einnehmen soll, trennt die Lager. Säkulare, westlich orientierte Kreise der Bevölkerung befürchten eine Islamisierung des öffentlichen Lebens, der kulturellen Einrichtungen und der Bildungsinstitutionen. Feste Regeln für den Schutz von Minderheiten und die Verortung der Religion im gesellschaftlichen Gefüge haben sich weder im von der Hamas regierten Gazastreifen, noch im post-revolutionären Ägypten etabliert.

 

Gleichwohl hat man in Gaza nach sieben Jahren Hamas-Herrschaft einige Mechanismen zum gesellschaftlichen Interessenausgleich eingeübt. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben einen informellen Konsultativstatus erlangt. So wurden besonders umstrittene Gesetze wie beispielsweise das Bildungsgesetz oder das von der Scharia geprägte Strafgesetz von der Hamas mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen diskutiert.

 

Verfängt der Aufruf zur Rebellion in Gaza?

 

Trotz der politischen Spaltung tagen regelmäßig Komitees zur Vorbereitung der Versöhnung von Fatah und Hamas aus Westjordanland und Gaza unter Beteiligung aller palästinensischen Parteien. Das »Komitee für politische Freiheiten« hat sich zu einem Gremium entwickelt, in dem grundsätzliche Regelungen zu Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Bewegungsfreiheit, aber auch aktuelle Fälle von Verhaftungen oder der Behinderung von Reisefreiheit diskutiert werden.

 

Doch der palästinensische Versöhnungsprozess scheint durch den Militärcoup in Ägypten gefährdet. Nach langen Jahren der Spaltung hatte sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass beide Seiten Kompromisse eingehen müssen. Nun erhalten durch den Putsch im Nachbarland diejenigen Aufwind, die sich mit der Hamas nicht arrangieren wollen. Ob der Aufruf zur Rebellion in Gaza gegen die Hamas, der im Internet kurz nach dem Sturz Mursis kursierte, wirklich Gehör findet, bleibt abzuwarten.

 

Sicher ist jedoch, dass hier kein unabhängiges Militär existiert, dass die Macht hat, die Hamas abzusetzen. Das wird den Aktionsradius der oppositionellen Gruppen einschränken. Doch wenn sich erneut massenhaft Demonstranten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sich für Versöhnung einsetzen, mag vom Tahrir-Platz in Kairo doch ein positives Signal für Palästina ausgegangen worden sein.

Von: 
Ingrid Ross

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