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Naseef Naeem über das Referendum in Syrien

»Von einem Durchbruch kann man nicht sprechen«

Interview

Während die Gewalt anhält, soll das syrische Volk über eine neue Verfassung abstimmen. zenith sprach mit dem Verfassungsrechtler Naseef Naeem über das Referendum und die jüngsten verfassungsrechtlichen Entwicklungen in Ägypten und Tunesien.

zenith: Der syrische Präsident Baschar al-Assad hat für den 26. Februar eine Volksabstimmung über einen neuen Verfassungsentwurf angekündigt. Viele Beobachter halten das ursprünglich für März geplante Referendum für ein politisches Ablenkungsmanöver. Sehen wir jedoch zunächst einmal von der politischen Motivation al-Assads ab: Was würde sich mit der reformierten Verfassung auf verfassungsrechtlicher Ebene ändern?

Naseef Naeem: Die offensichtlichste Änderung betrifft die Position der Baath-Partei, die in der gegenwärtigen Verfassung als Führungspartei in Staat und Gesellschaft bezeichnet wird. Diese Monopolstellung der Baath-Partei wird in dem neuen Verfassungsentwurf abgeschafft. Dort heißt es nun in Artikel 8,  dass das politische System in Syrien auf der Grundlage der politischen Pluralität beruht. Demnach wäre Syrien ein Mehrparteienstaat und die Baath-Partei müsste sich einem Parteienwettbewerb stellen. Man muss in diesem Zusammenhang aber immer folgendes vor Augen haben: Wir reden hier über Verfassungsnormen in der Theorie. Ob die Verfassungsnormen in der Praxis Anwendung finden, weiß momentan niemand.    

 

Wie bewerten Sie aus verfassungsrechtlicher Perspektive den neuen Entwurf?

Von einem Durchbruch kann man nicht sprechen. Viele Änderungen waren längst überfällig. Ein Beispiel: In dem neuen Verfassungsentwurf wurde der Bezug auf den Sozialismus gänzlich gestrichen. Der Begriff Sozialismus war im syrischen Kontext jedoch ohnehin seit geraumer Zeit inhaltsleer: Bereits seit den neunziger Jahren entwickelt sich Syrien von einer Staatswirtschaft in Richtung Privatwirtschaft. Wichtiger als die Änderungen ist jedoch das, was in dem neuen Verfassungsentwurf nicht geändert wurde: So verfügt der Präsident nach wie vor über eine enorme Machtfülle. Der Präsident besitzt weiterhin die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen, er kann weiterhin Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Damit bleibt der Gesetzgebungsprozess in der Hand des Präsidialamtes, statt vollständig auf das Parlament überzugehen.

 

Die Gewalt zwischen syrischen Regierungstruppen und den Aufständischen scheint stetig zuzunehmen. Manche sprechen bereits offen von Bürgerkrieg. Man kann sich kaum vorstellen, dass in einem solchen Klima der Gewalt über die konkrete Ausgestaltung einer Verfassung diskutiert wird. Dennoch die Frage: Existiert so etwas wie eine verfassungsrechtliche Debatte in Syrien?

Die Debatte fand überwiegend innerhalb der Verfassungskommission statt. Über die staatlichen Medien wird versucht, die angestrebten Änderungen zu erläutern. Von einer öffentlichen Debatte kann man daher nicht sprechen.


Naseef Naeem

Der gebürtige Syrer studierte an den Universitäten in Aleppo und Damaskus Rechtswissenschaft. Von 1999 bis 2002 war Naeem in Syrien als selbständiger Anwalt tätig. Im Jahr 2007 promovierte er zum Thema »Die neue bundesstaatliche Ordnung im Irak« an der Universität Hannover. Derzeit arbeitet Naeem an seiner Habilitation zu den Verfassungen im Irak und im Sudan. Naeem lebt in Berlin.

 


Sie haben die Verfassungskommission angesprochen, die den neuen Verfassungsentwurf erarbeitet hat. Wie beurteilen Sie die Zusammensetzung der Kommission?

Bei der Beurteilung der Kommission darf man es sich nicht zu einfach machen. Natürlich sind die Mitglieder der Kommission vom Präsidenten bestimmt und nicht vom Volk gewählt worden. Gleichwohl ist zumindest der Versuch erkennbar, den multiethnischen und multireligiösen Charakter Syriens abzubilden. In der Kommission sitzen Sunniten, Alawiten und Christen. Auch islamistische Kräfte waren an der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes beteiligt. Dennoch bleibt natürlich die Frage der Legitimation. Insbesondere unter dem Eindruck der jüngsten Gewalt lehnen viele Oppositionelle eine Zusammenarbeit mit al-Assad strikt ab.     

 

Was bezweckt al-Assad mit der Vorverlegung des Referendums? Und wie ernst ist es ihm mit den Reformen?

Der Zweck der Vorverlegung des Referendums ist der gleiche wie bei allen Reformankündigungen seit Beginn der Krise vor fast einem Jahr: Das Regime versucht, die explosive Lage zu beruhigen. Ob die Reformversprechen ernst zu nehmen sind oder nicht, kann ich von außen nicht beurteilen. Fragt man Syrer in Syrien, so erhält man unterschiedliche Antworten. Die Einen begrüßen den Verfassungsentwurf, die Anderen sehen darin vor allem ein politisches Manöver der Regierung.

 

Kann eine Verfassungsreform unter den gegenwärtigen Umständen zur Befriedung der Lage beitragen? Oder sind die Fronten bereits derart verhärtet, dass eine Annäherung zwischen Regierung und Opposition ausgeschlossen ist?

Dass die Fronten verhärtet sind, ist offensichtlich. Ob die Verabschiedung einer neuen Verfassung zu einer Annäherung beitragen kann, ist schwer zu sagen. Man kann nicht einmal genau sagen, wie das Referendum denn praktisch durchgeführt werden soll. Wie ist die Sicherheitslage beispielsweise in Homs? Werden sich die oppositionellen Kräfte am Referendum beteiligen? Von außen ist das alles kaum zu beurteilen, da neutrale Quellen sehr schwer zu finden sind. Es erscheint mir unmöglich, ein genaues Bild von der Lage in Syrien zu zeichnen.

 

Während in Syrien die Abstimmung über die Verfassung also nächste Woche abgehalten werden soll, wurde in Ägypten bereits im vergangenen März eine Übergangsverfassung vom Obersten Rat der Streitkräfte verkündet. In Tunesien tagt die verfassungsgebende Versammlung bereits seit vergangenem November. Inwiefern lassen sich die angesprochenen Staaten auf verfassungsrechtlicher Ebene miteinander vergleichen? Oder anders gefragt: Stehen Tunesien, Ägypten und Syrien verfassungsrechtlich vor den gleichen Problemen?

Die angesprochenen Staaten sind im Prinzip schwer miteinander zu vergleichen. Tunesien ist ein kleines Land mit einer verhältnismäßig homogenen Bevölkerung, während Ägypten über eine große Bevölkerung verfügt und vor allem Syrien ethnisch und religiös sehr plural, oder besser gesagt heterogen, ist. Tunesien ist kein Maßstab für Syrien oder Ägypten. Auf verfassungsrechtlicher Ebene entwickeln sich die Länder aus meiner Sicht in unterschiedliche Richtungen: Tunesien tendiert zu einem parlamentarischen System, während Ägypten und Syrien weiterhin an einer starken Stellung des Präsidenten festhalten.

 

Können Sie das konkretisieren?

Der jetzige Präsident in Tunesien wurde durch die verfassungsgebende Versammlung und nicht direkt durch das Volk gewählt. Das deutet darauf hin, dass die Tunesier dem Parlament auch zukünftig eine starke Stellung einräumen wollen. Dies ist in Syrien und Ägypten anders. In Ägypten beispielsweise soll der Präsident in einer Direktwahl vom Volk gewählt werden. Er wäre dadurch Chef der Exekutive und in einer verfassungsrechtlich stark legitimierten Position. Der ägyptische Verfassungsdiskurs ist an dieser Stelle jedoch widersprüchlich: Einerseits soll der Präsident direkt vom Volk gewählt werden, andererseits soll er vor dem Parlament politisch verantwortlich sein. Verfassungsrechtlich wäre dies Neuland.

 

»Eine komplette Streichung des Religionsbezuges ist unrealistisch«

 

Der europäische Diskurs über die verfassungsrechtliche Lage in den Staaten des Arabischen Frühlings kreist vor allem um ein Thema: Die zukünftige Rolle des Islams. Ist die Frage, ob der Islam in den jeweiligen Verfassungen als rechtlicher Bezugspunkt fungiert oder nicht, tatsächlich von derart großer Bedeutung?

Ob sich die jeweiligen Verfassungen auf den Islam beziehen oder nicht, ist zunächst einmal von geringer Bedeutung. Eine komplette Streichung des Religionsbezuges erscheint momentan ohnehin sehr unrealistisch zu sein. Entscheidend ist die Antwort auf die Frage, wie der Islam in der praktischen Anwendung des Rechts verstanden wird: Wird der Islam als absolutes Dogma verstanden? Können religiös begründete Normen die Grundrechte nach Belieben einschränken? Ist es also gestattet, dass eine Frau im Vergleich zu einem Mann nur die Hälfte erbt, obgleich die Verfassung die Gleichheit von Mann und Frau festlegt?

 

Sowohl in Ägypten, als auch in Tunesien sind die islamistischen Kräfte als eindeutige Sieger aus den Wahlen hervorgegangen. Inwieweit stellen die islamistischen Gruppen eine Gefahr für den Verfassungsprozess dar?

Die Islamisten haben die Wahlen gewonnen und ihrerseits nun die Wahl zwischen pragmatischer Realpolitik und überzogenem moralischen Konservatismus. Akzeptieren sie, dass der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle ihres Landes darstellt, oder verbieten sie Alkohol und das Tragen von Bikinis am Strand? Solche Fragen spielen in Tunesien eine geringere Rolle als in Ägypten. In Ägypten gibt es durchaus Kräfte, die eine völlige Abkehr vom Westen fordern. Diese Kräfte orientieren sich mehr und mehr an Saudi-Arabien und hoffen, dass das Königreich auf lange Sicht in der Lage sein wird, westliche Staaten als Wirtschaftspartner zu ersetzen.

Von: 
Fabian Wagener

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