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Muslimbrüder und Wirtschaft

Die Brüder der 1 Prozent

Analyse

Die Muslimbrüder fordern einen Umbau aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und eine Renaissance islamischer Werte. Doch ihre wirtschaftliche Vision steht nicht für eine Abkehr der verfehlten neoliberalen Politik des alten Regimes.

Es wird heiß in Ägypten und die Stromausfälle häufen sich. Täglich zwei Stunden ohne Strom sind mittlerweile zur Regel geworden. Verantwortlich dafür sind die geschrumpften Devisenreserven, welche seit der Revolution stetig gesunken sind. Mittlerweile ist Ägypten nicht mehr in der Lage, genügend Gas für seine veralteten, meist Gas-betriebenen Kraftwerke einzuführen. Ein Kredit mit dem IWF wird als unausweichlich angesehen, seit über anderthalb Jahren verhandelt, und doch stetig aufgeschoben.

 

Die an den Kredit gebundenen Sparmaßnahmen umfassen die Kürzung von Subventionen, die aller Voraussicht nach auch den verwundbarsten Teil der ägyptischen Bevölkerung – die 40 Prozent, welche unter der Armutsgrenze leben – hart treffen werden. Politische Beobachter gehen davon aus, dass die Regierung Mursi zu einer solch unpopulären Maßnahme erst nach dem erhofften Gewinn der nächsten Parlamentswahl ansetzen wird.

 

Der Hauptgrund für das Hinauszögern der Verabschiedung des IWF-Kredits ist jedoch eher das politische Kalkül der Regierung Mursi als ideologische Berührungsängste der Muslimbrüder mit den wirtschaftspolitischen Vorgaben des Währungsfonds. Muslimbruder Amr Darrag, Minister für Planung und internationale Kooperation und hauptverantwortlich für die Verhandlungen mit dem Währungsfond, erklärte bei seinem Amtsantritt im Mai, der Kreditabschluss mit dem IWF bleibe auch weiterhin die erste wirtschaftspolitische Priorität.

 

Mit dieser Erklärung folgt er nicht nur den Notwendigkeiten einer klammen Finanzlage, sondern auch den Vorstellungen innerhalb der ökonomischen Elite der Muslimbrüder. Der soziale Konservatismus der Muslimbrüder ließ westliche Beobachter lange vermuten, die Organisation stünde dem neoliberalen Kapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts feindselig gegenüber. Dabei ist ihre Wirtschaftselite schon lange Teil des globalen neoliberalen Mainstreams.

 

Die ökonomische Agenda der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder ist ein explizites Bekenntnis zu freien Märkten und wirtschaftlicher Konkurrenz – religiös belegt mit dem Hinweis, der Koran fordere freie Märkte. Das Wirtschaftsprogramm der Muslimbrüder fordert einen Rückzug des Staates aus sämtlichen Wirtschaftszweigen, die Eindämmung von Monopolen und eine treibende Rolle des Privatsektors bei Schlüsselprojekten zur Entwicklung des Landes.

 

Wohlfahrt statt Umverteilung

 

Religiöse Spenden an die Armen – »Zakah«, eines der fünf Grundgebote im Koran – sollen in eine staatliche Stiftung geleitet werden, welche die Verteilung an die Unterschichten gewährleistet. Diese Stiftungen ähneln den privaten Wohlfahrtseinrichtungen in angelsächsischen Ländern, wo der Staat die Versorgung der Unterschichten auf das Minimalste beschränkt. Entscheidend ist: Diese Wohlfahrtseinrichtungen stehen für individuelle Akte der Großzügigkeit – jedoch nicht für eine strukturelle Umverteilung zugunsten der Unterprivilegierten.

 

Bei einem Blick auf die Eliten der Muslimbrüder wird plausibel, dass Umverteilung nicht  notwendigerweise Teil ihrer Agenda ist. Der nach verbreiteten Einschätzungen derzeit mächtigste Mann der Organisation ist Khairat El-Shater, ein Geschäftsmann, der über Jahrzehnte ein vielseitiges Business-Imperium aufgebaut hat. Die Spanne seiner Geschäftsbereiche reicht von Möbeln, Textilien, Traktoren und petrochemischen Erzeugnissen bis hin zu Management Consulting. El-Shater gilt als Anführer des konservativen Flügels innerhalb der Muslimbrüder.

 

Etliche ihm loyal ergebene Mitglieder der Muslimbrüder arbeiten in einer seiner zahlreichen Firmen. Khairat El-Shater wurde 2007 zusammen mit seinem Business-Partner Hassan Malek wegen des Vorwurfes der Geldwäsche zu einer Gefängnisstrafe von 7 Jahren verurteilt. Manche Analysten gehen davon aus, dass weniger die politische Furcht vor den Muslimbrüdern hinter dieser Entscheidung des alten Regimes stand. Vielmehr wollte sich die Clique loyaler Geschäftsleute um Mubaraks Sohn Gamal unliebsame Konkurrenten vom Hals schaffen.

 

Ein Wandel der Business-Eliten, kein Wandel in der Vision

 

Nach der Revolution wendete sich das Blatt. Khairat El-Shater und Hassan Malek wurden im März 2013 aus dem Gefängnis entlassen. Es wurden Verfahren gegen Mitglieder der regimetreuen Business-Clique um Gamal Mubarak eingeleitet. Stahl-Magnat und NDP-Mitglied Ahmed Ezz wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Vermögen wurden eingefroren, Verfahren wegen Korruption und Veruntreuung eingeleitet. Ein Teil der alten Wirtschaftselite verließ in weiser Voraussicht das Land.

 

Das Militär hielt die regimetreuen Geschäftsleute nicht für notwendig, um die Kontrolle zu bewahren und die eigene Macht zu erhalten. Im Gegenteil – die Geschäftsclique um Gamal Mubarak vertrat eine extrem neoliberale Haltung und stand dadurch in einem Spannungsverhältnis zum Militär, welches in seinen eigenen »Staatsfirmen« nach wie vor zwischen 25 und 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft kontrolliert und Privatisierungen misstrauisch gegenübersteht.

 

Der Übergang des Landes von Mubaraks regimetreuen Günstlingen zu dem engen Kreis reicher Geschäftsleute innerhalb der Muslimbrüder steht für einen Wechsel der Eliten – jedoch nicht für einen Wandel in der ökonomischen Vision. So erklärte Hassan Malek in einem Interview mit Bloomberg, die Politik von Hosni Mubaraks ehemaligem Minister für Handel und Industrie, Rachid Mohamed Rachid, sei prinzipiell richtig gewesen. »Rachid wusste, wie ausländische Direktinvestitionen anzuziehen sind.

 

Wir können heute von richtigen Entscheidungen in der Vergangenheit profitieren.« Während seiner Amtszeit war Rachid für die Privatisierung des Industriesektors und ausländische Direktinvestitionen verantwortlich. Leblose Zeugen dieser Politik sind die neuen Wohnstädte in der Wüste um Kairo: Uniforme Villensiedlungen und Satelitenstädte mit mehrstöckigen Gebäuden, in denen ein großer Teil der Häuser leer steht und als Investitionsanlage dient. Die Armenviertel der Stadt mit ihren geschätzten 6 bis 8 Millionen Einwohner zählen hingegen zu den am dichtesten besiedelten Flecken der Erde.

 

Sameh al-Bargy ist ein ehemaliges Mitglied der Muslimbrüder. Er trat aus der Organisation aus, weil diese ablehnte, sich als offizielle NGO registrieren zu lassen – ein Schritt, der sie zu finanzieller Transparenz gezwungen hätte. Über die wirtschaftliche Agenda der Brüder sagt Barqy: »Die ökonomische Vision der Muslimbrüder ist im Kern extrem kapitalistisch. Eines ihrer größten Probleme zurzeit zeugt von einer Parallele zu Mubaraks alter Partei: Die Ehe zwischen Macht und Geld.«

 

Man beherrscht die globale Business-Sprache

 

Der Politikprofessor Joshua Stacher von der Kent State University nennt erfolgreiche  Geschäftsleute wie Khairat El-Shater und Hassan Malek »das neoliberale Gesicht der Organisation«. Diese haben keine Berührungsängste mit dem Westen. Etliche von ihnen, wie auch Präsident Mursi selbst, haben in den USA studiert.  Nach Analyse des Politik-Professors Ashraf al-Sherif von der American University in Cairo (AUC) versucht El-Shater einen Kreis aus »neoliberalen Technokraten« um sich zu bilden, welche im Westen und bei internationalen Investoren Vertrauen erwecken sollen. »Sie sprechen gutes English, tragen gute Anzüge und beherrschen die internationale Business-Sprache.«

 

In einem Interview mit dem Wall Street Journal kurz nach Mursis Amtsantritt im Juni 2012 nannte Khairat El-Shater eine »strategische Partnerschaft« mit den USA eine der außenpolitischen Hauptprioritäten. Dies werde nicht nur der Anerkennung der Muslimbrüder zugute kommen, sondern auch den Zugang zu den internationalen Kreditmärkten erleichtern. Diese pragmatische Politik hat die Wahrnehmung der Organisation in den amerikanischen Medien im Verlauf der letzten zwei Jahre merklich verändert.

 

In einem Portrait bei Bloomberg vor einem Jahr beschriebt Suzy Hansen die Malek-Familie als bescheiden, gläubig und idealistisch – »als wären sie aus einer weniger zynischen Ära in unsere Zeit transportiert worden.« Ihre Schilderung zieht eine Parallele zum glaubensbefeuerten wirtschaftlichen Eifer der Calvinisten: »Ihr Glaube an Gott treibt ihre wirtschaftlichen Ambitionen an. Mit ihrem Arbeitsethos und scheinbarem Verzicht auf Müßiggang und Sünde können sie in jedem Wettbewerb bestehen.«

 

Mehr republikanische Partei als Al-Qaida

 

Die Kombination aus sozialem Konservatismus und neoliberaler wirtschaftlicher Ideologie unter den Muslimbrüdern veranlasste den amerikanischen Journalisten Avi Asher Schapiro gar zu der Aussage, die Gruppe habe im Grunde mehr Gemeinsamkeiten mit der Republikanischen Partei in den USA, als mit den Dschihadisten von Al-Qaida. Diese Gemeinsamkeiten haben zu neuen Allianzen geführt. Jedenfalls sieht dies ein großer Teil der ägyptischen Opposition so. In deren Augen werden die Muslimbrüder mittlerweile ähnlich von den USA unterstützt wie zuvor das Regime Hosni Mubaraks.

 

Yasser Rota, Mitglied der Jugendorganisation der liberalen Partei »Freie Ägypter«, ist der Meinung: »Die USA unterstützen die Muslimbrüder, weil sie mit ihnen einfacher ihre Interessen in der Region wahren können.« Die Guardian-Autorin Rachel Shabi geht davon aus, dass die Muslimbrüder im aktuellen ägyptischen Machtkampf die beste strategische Wahl für die USA seien – weil sie das gegenwärtige ökonomische Machtgefüge nicht in Frage stellen. Deshalb sei die bisherige Kritik der USA an Mursis Angriff auf Gewaltenteilung und Pressefreiheit sehr zaghaft ausgefallen.

 

Auch außenpolitisch sei kein wesentlicher Bruch zu erwarten, jedenfalls keiner, der sich negativ auf die wirtschaftlichen Interessen der Eliten innerhalb der Organisation auswirken könnte. Dies macht die Muslimbrüder laut Shabi in westlichen Sicherheitskreisen akzeptabel. Doch auf der ägyptischen Straße könne das für die Organisation zum Bumerang werden. 

 

Tatbestand »Präsidentenbeleidigung«

 

Denn neben der stagnierenden ökonomischen Lage hat sich auch die Situation von Zivil-und Menschenrechten in vielen Bereichen nicht verbessert und in manchen verschlechtert. Mit einer Anklagewelle gegen unabhängige Medien wurden ein Fernsehsender geschlossen und etliche Chefredakteure von staatlichen Zeitungen ausgetauscht. Der Vorwurf der »Präsidentenbeleidigigung« traf nicht nur zahlreiche Journalisten, sondern auch den bekannten Fernsehkomiker Bassam Youssef.

 

Zudem wurden in der jüngsten Vergangenheit bei dem Versuch von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und Unterstützern der Muslimbrüder zu berichten, regelmäßig Journalisten angegriffen. »Reporter ohne Grenzen« erklärte die Regierung Mursi jüngst zu einem der »Feinde der Pressefreiheit«. Gerichtsverfahren wegen »Beleidigung des Islams« vervielfachten sich seit der Revolution. Häufig richten sich diese Prozesse gegen koptische Christen. In etlichen Fällen wurden christliche Lehrer unter Berufung auf Schüleraussagen von Eltern angezeigt, die den Salafisten nahestehen.

 

Und während bei der jüngsten Eskalation im späten Januar in Suez und Port Said erneut 50 Menschen durch Gewalt seitens der Sicherheitskräfte ums Leben kamen, ist bisher kaum ein Mitglied des Sicherheitsapparates für vorherige Gewaltakte belangt worden. Wenn darüberhinaus die »Brüder der 1 Prozent«, wie Politik-Professor Stacher von der Kent State University sie nennt, die Wirtschaftspolitik des alten Regimes fortführen, drohen weitere Bevölkerungsschichten in dieselben neoliberalen Mühlen zu geraten wie zuvor in den späten Mubarak-Jahren.

 

Die NGO »Budget and Human Rights Observatory« schätzt, dass als direkte Folge der Privatisierungspolitik dieser Phase mindestens drei Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Indirekt betrifft das bei der durchschnittlichen Familiengröße in Ägypten 15-20 Millionen Menschen.  Der unabhängige Ökonom Reda Issa sagt dazu: »Wir sind der Ansicht, dass Mubaraks Wirtschaftspolitik nach der Revolution hätte korrigiert werden sollen. Wenn wir dasselbe Spiel spielen, bekommen wir dieselben Resultate.«

Von: 
Martin Hoffmann

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