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Militärzensur in Israel

»Ausländischen Medien zufolge«

Analyse

Der Fall des »Gefangenen X« führt Israel das Dilemma seiner Militärzensur vor Augen. Hat einer der besten Geheimdienste der Welt nicht den blassesten Schimmer, wie sich heutzutage Nachrichten unter Menschen verbreiten?

Eines Tages im Jahr 2010 standen die Beamten vom israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet plötzlich in der Redaktion von Ynet, dem Online-Ableger der altehrwürdigen Tageszeitung Yedioth Ahronoth. Ein Journalist hatte von einem Gefängniswächter mit offensichtlich schlechtem Gewissen Wind von einem mysteriösen »Gefangenen X« im Hochsicherheitsgefängnis von Ramle bekommen und die Nachricht eben online gestellt. Die Beamten haben die Enthüllung innerhalb weniger Minuten von der Seite genommen und den Journalisten intensiv verhört.

 

Dann kehrte jahrelang Ruhe um den Häftling ein und selbst den investigativsten Journalisten Israels war es unmöglich, mehr herauszufinden und erst recht etwas zu veröffentlichen. Eine gerichtliches Verbot (»Gag Order«) verbat jegliche Berichterstattung über den Gefangenen ohne Namen als auch über das Verbot an sich. Bis vor wenigen Wochen im Frühjahr 2013 der australische Fernsehsender ABC eine Reportage ausstrahlte, in dem die Identität des Gefangenen, der sich Ende 2010 im Gefängnis erhängt hatte, aufgedeckt wurde. Israel und seine Journalisten standen nur daneben und waren Zuschauer einer brisanten Aufdeckung im eigenen Land.

 

Ministerpräsident Netanjahu und Mossad-Chef Tamir Pardo höchstpersönlich luden die führenden Redakteure Israels zu einer dringlichen Sitzung und baten die Anwesenden von der Berichterstattung über den nunmehr entlarvten, toten Gefangenen Ben Zygier und einem Verweis auf die ABC-Doku abzusehen. Die Nachrichtensperre hatte weiterhin Bestand, aber der Youtube-Link zur TV-Doku verbreitete sich online erwartbar schnell. Erst als drei oppositionelle Knesset-Abgeordnete unter dem Schutz ihrer Immunität den Fall in einer parlamentarischen Fragestunde ansprachen, zerbröselte innerhalb von wenigen Tagen die ganze Fassade der Nachrichtensperre.

 

Die Regierung gab in Wulff’scher Salami-Taktik nur sowieso schon bekannte Fakten preis und ein Tel Aviver Gericht konnte nicht mehr anders, als die »Gag Order« aufzuheben. Nie zuvor wurde so offensichtlich, wie schwierig es ist, eine Zensur im Zeitalter von Blogs und Twitter aufrechtzuerhalten. Und genauso wurde der israelischen Regierung vor Augen geführt, welche Herausforderung – wenn nicht gar Unmöglichkeit – es ist, Demokratie und Militärzensur in Einklang zu bringen.

 

Erst wenn im Ausland etwas eigentlich Zensiertes berichtet wird, können israelische Journalisten die Zensur umgehen

 

Das Dilemma der Militärzensur ist offensichtlich in einem Land, das für sich in Anspruch nimmt, eben die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Das Recht auf Informationsfreiheit ist fundamental in einer Demokratie. In der israelischen Realität jedoch fällt die Entscheidung zwangsläufig zwischen Freiheit und Sicherheit. Der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Haaretz, Aluf Benn, der dem Treffen mit Mossad-Chef Pardo ferngeblieben war, fällt ein nüchternes Urteil: »Die Militär- und Geheimdienstkreise genießen Heiligenstatus in der israelischen Gesellschaft. ›Nationale Sicherheit‹ schlägt ›Bürgerrechte‹.«

 

Selbst die oberste Militärzensorin, Sima Vaknin-Gil, ist sich ihrer misslichen Lage durchaus bewusst: »Wenn ich den Staat Israel beschütze, beschädige ich die Meinungsfreiheit. Zensur und Demokratie gehen nicht Hand in Hand. Deshalb hinterfragen wir jeden Tag, ob wir die Meinungsfreiheit oder das öffentliche Recht auf Information beschädigen.« Im Vergleich mit den arabischen Nachbarländern findet man in Israel allerdings immer noch eine verhältnismäßig freie Medienlandschaft.

 

Gleichzeitig ist Israel im neuesten Dossier der »Reporter ohne Grenzen« in puncto Pressefreiheit gleich um zwanzig Plätze gefallen und liegt nur noch auf Rang 112 von 179 Staaten – und ist damit sogar zehn Plätze hinter dem Libanon. Während betont wird, dass israelische Journalisten »wirkliche Meinungsfreiheit genießen«, wird die Militärzensur aber als »strukturelles Problem« hervorgehoben und ist damit zu einem großen Teil für die schlechte Platzierung verantwortlich. Immer wieder werden Berichte über geheime Operationen, Entführungen oder Übungen vom Militärzensor zurückgehalten.

 

Teilweise gar über Jahrzehnte hinweg, wie die gezielte Tötung des PLO-Vize und -Mitbegründers Abu Jihad durch eine israelische Spezialeinheit in Tunis im Jahr 1988 zeigt. Erst im November vergangenen Jahres hat Vaknin-Gil ein Interview mit dem Kommandanten der Operation, das sogar schon im August 2000 geführt worden ist, freigegeben. Als Der Spiegel im Juni vergangenen Jahres »aufdeckte«, dass die israelischen U-Boote aus deutscher Produktion mit Nuklearsprengköpfen aufgerüstet werden können, wurde in Israel darüber so berichtet, als wäre es eine spektakuläre Nachricht.

 

Der Grund für die journalistische Euphorie war schlichtweg, dass die Israelis erstmals darüber »frei« schreiben durften. Erst wenn im Ausland etwas eigentlich Zensiertes berichtet wird, können die israelischen Journalisten die Zensur einfach umgehen, indem sie sich auf jene Zeitungen und Magazine berufen: »Ausländischen Medien zufolge...«, »Es wird berichtet...«, »Die Zeitung behauptet...«.

 

Lange Zeit war es eine Win-Win-Situation für beide Seiten

 

Selteneren Einsatz findet heutzutage die Einbettung von Tatsachen in fiktive Erzählungen. So wurde beispielsweise Adolf Eichmanns Entführung 1960 in Haaretz wie ein Romanausschnitt nacherzählt – mit Rudolf Teichmann als dem Protagonisten der Dichtung. Die Militärzensur galt sogar schon zu britischer Mandatszeit, bevor der Staat Israel überhaupt existierte. Seit 1996 dürfen allerdings nur noch Berichte zu Themen nationaler Sicherheit von den 35 militärischen Zensoren gekürzt oder blockiert werden. Dazu zählt in der Regel alles, was Verteidigung, Militär und nukleare Angelegenheiten betrifft.

 

Politische Berichterstattung muss nicht vorgelegt werden, solange sie keine Informationen geheimdienstlicher Arbeit enthält. Lange Zeit war es eine Win-Win-Situation für beide Seiten: Das politische Establishment konnte sich sicher sein, dass keine gefährdenden Berichte veröffentlicht wurden, während das Militär versprach, das Zensurrecht nicht willkürlich zu missbrauchen und oftmals auch gewillt war, geheime Informationen leichter herauszugeben. Doch nun gerät auch der »private Teil« des Internets ins Visier der Zensorin: Sima Vaknin-Gil kündigte im Mai 2012 bei einer Konferenz an, Blogs und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter mithilfe von Schlüsselbegriffen zu analysieren.

 

Zensur ist in diesen Sphären zwar realistisch kaum möglich. In diesem Moment nimmt der Wunsch nach Informationssammlung und -kontrolle aber Formen an, die eher an »Das Leben der Anderen« erinnern als an einen effektiven Staatsschutz in einer Demokratie. Schon stellt sich die berechtigte Frage, was möglicherweise israelische Staatsbürger zu befürchten haben, wenn sie auf Facebook einen Link zu einer Reportage teilen, deren Inhalt in Israel strafbewehrt unter eine Nachrichtensperre fällt.

 

Die Frage nach zehntausendfacher Umsetzbarkeit solcher Sperren und Strafen steht auf einem ganz anderen Blatt: Während der letzten Gaza-Operation im November 2012 war erstmals zu spüren, wie wenig Kontrolle die Zensoren über die große soziale Masse im Internet haben. Wiederholt wurde die Bevölkerung aufgerufen, nicht online zu posten, ob und wo Raketen aus dem Gazastreifen eingeschlagen sind. Der Aufruf war zwecklos und erinnerte eher an einen Wettkampf darum, wer etwas zuerst melden kann: das Fernsehen, die Online-Nachrichtenportale oder die Gemeinschaft der Twitterer und Facebook-Freunde.

 

Israels Sicherheit ist nicht bloß eine physische Kategorie

 

Und das Lager der Zensurgegner wird größer. Viele Menschen fürchten, dass Israel sich in eine »iranische Richtung« entwickeln könnte, in der immer mehr Nachrichten gefiltert werden und nur noch Informationen öffentlich werden, die den Segen der Regierung haben. Obwohl der höchste Militärzensor nicht der Regierung untersteht, sondern dem Parlament, wird er vom Verteidigungsminister direkt berufen. Das Sicherheit-Establishment soll seiner Aufgabe bestmöglich nachgehen. Genauso wie investigative Journalisten. Wenn Letztere einen Fall wie den des »Gefangenen X« aufdecken können, dann haben sie ihre Arbeit gut getan – und die Sicherheitsbehörden eben nicht.

 

Der Militärzensor sollte selbst in einem gefährdeten Staat nicht zu einem bloßen Rettungsschirm werden, der schlicht die Fehler eines Sicherheitsapparates ausbaden muss, der seine Geheimnisse nicht so geheim halten konnte, wie er sollte. Zu Recht fragen sich außerdem zahlreiche israelische Medienschaffende, warum ihren Landsleuten Informationen vorenthalten werden sollen, die im Ausland schon als Fakt gelten. Wäre es für die israelische Demokratie nicht viel wertvoller, wenn Enthüllungen von nationalem Belang von inländischen Experten recherchiert und enthüllt werden, anstatt sich viele Informationen zur politischen Willensbildung bei ausländischen Quellen zu holen?

 

Die israelische Sicherheit ist nicht bloß eine physische Kategorie. Israels Sicherheit basiert auch auf einer Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, einzigartige Werte der Freiheit und Demokratie in der Region zu vertreten. Natürlich ist die Militärzensur keine unmittelbare Gefahr für das »Haus Israel«. Es fängt allerdings immer mit einem morschen Balken an, der das Haus später zum Einsturz bringt. Im Falle Ben Zygiers hat sich Israel neben den Folgen für das Verhältnis von Medien und Zensur noch anderen Schaden zugefügt: Eine Inhaftierung unter falschem Namen mit gleichzeitiger jahrelanger Unterdrückung jedweder Berichterstattung muss eine Katastrophe für all jene sein, die mühsam Tag für Tag versuchen, Israels Image im Ausland aufzupolieren und eine Werte-Identifikation von Menschen in Europa und den USA mit Israel herzustellen.

 

Sorgt die Militärzensur sogar für ein wenig mehr Zurückhaltung?

 

Doch bei aller berechtigter Kritik an der Institution der Militärzensur gibt es auch Verfechter der Praxis. Zum einen wird immer wieder angeführt, dass den betroffenen Journalisten gegen die Entscheidungen der Zensoren der Rechtsweg bis zum Obersten Gerichtshof offen steht, um die Zensur im Einzelfall anzufechten. Ein Weg, den viele Kollegen in den Nachbarländern nicht einschlagen können. Und auch wenn, wie etwa der Politikwissenschaftler und Haaretz-Kolumnist Reuven Pedatzur von der Universität Tel Aviv meint, Israel die einzige westlich funktionierende Demokratie mit einer Militärzensur ist, dann muss man allerdings auch immer wieder in Erinnerung rufen, dass Israel eben auch das einzige westliche Land ist, dass tagein tagaus um seine Existenz kämpfen muss.

 

In diesem Licht betrachtet ist die Zensur durch das Militär vielleicht ein notwendiges Übel, solange kein Frieden geschlossen wird. In zynischer Weise erfüllt die Militärzensur auch eine Qualität sichernde Funktion. Berichte über die Sicherheit, das Militär oder bilaterale Beziehungen, die es tatsächlich, gekürzt oder nicht, durch die Zensur schaffen, tragen sozusagen das Siegel der amtlichen Bestätigung. Die nationale Sicherheit gefährdende Unwahrheiten können so kaum verbreitet werden und der Journalist ist seinerseits rechtlich abgesichert.

 

Auf der anderen Seite des Redaktionstisches hingegen sind die Gesprächspartner aus den höchsten Verteidigungs- und Geheimdienstkreisen durchaus redewilliger, wissen sie doch, dass das meiste, was sie sagen, in keinem Fall der Prüfung der Zensoren standhält und nicht öffentlich wird. Und vielleicht sorgt die Militärzensur sogar für ein wenig mehr Zurückhaltung bei den Nasrallahs und Assads dieser Welt.

 

Ein hoffnungsloses Relikt längst vergangener Zeiten

Mal angenommen, israelische Journalisten würden frei heraus sagen können, dass Geheimdienstbeamte ihnen zugeflüstert haben, dass Israel tatsächlich Atomwaffen besitzt, israelische Kampfjets 2007 syrische Atomanlagen bombardiert haben und auch vor wenigen Wochen wirklich für den Angriff auf den Waffenkonvoi von Syrien in den Libanon verantwortlich zeichneten. Obwohl es sich in all diesen Fällen um offene Geheimnisse handelt, würden solch unverblümte Bestätigungen seitens der Israelis die feindlichen Führer zu Vergeltungsschlägen zwingen, damit sie ihr Gesicht vor heimischem Publikum wahren können.

 

Oftmals sind solche Antworten aber keinesfalls in deren langfristigem Interesse. Israels Politik der Doppeldeutigkeit durch Zitationen im Stile »ausländische Quellen berichten, dass...« nimmt so den Druck von den Gegnern, mit Waffengewalt antworten und somit die für die Gegner Israels häufig verhängnisvolle Gewaltspirale vorantreiben zu müssen. Glücklicherweise hat keine israelische Regierung das Ziel, die Druckerpressen zu übernehmen und den kompletten Internet-Verkehr zu filtern.

 

Gleichzeitig muss ihr aber klar sein, dass eine Zensur der heutigen Internet-Gesellschaft nur ein kläglicher und zum Scheitern verurteilter Versuch bleiben wird, die Uhren in die Vor-Internet-Zeit zurückzudrehen. Etwas Absurdes hat die Militärzensur schon: Während für den Rest der Welt etwas Geheimes nicht mehr geheim ist, wollen die Zensoren des Militärs, dass die Israelis nicht wissen, was in Israel passiert. Während solch ein Apparat vor Jahrzehnten mit Sicherheit noch ein effektives Mittel war, um unter Kontrolle zu haben, welche Informationen von wem an wen gelangen, ist es heute ein hoffnungsloses Relikt längst vergangener Zeiten.

 

Man ist versucht zu glauben, dass einer der besten Geheimdienste der Welt nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung hat, wie sich heutzutage Nachrichten unter Menschen verbreiten. Vielleicht werden sich die Journalisten in Israel demnächst mal auf Ben Ali oder Mubarak berufen können und, an den Zensoren vorbei, ihren Volksvertretern eine Lektion zwitschern: »Ausländische Quellen berichten, dass der Informationsfluss nicht aufzuhalten ist.«

Von: 
Robert Friebe

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