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Militär und Proteste im Sudan

Die Großmutter des Arabischen Frühlings

Feature

Am 21. Oktober 1964 stürzte in Khartum eine Volkserhebung die Militärdiktatur – und die Armee wandte sich gegen den herrschenden Autokraten. Gerät dieses Axiom der sudanesischen Geschichte unter dem Regime Baschir ins Wanken?

Der Sudan mit seinen Dauerkrisen und Negativrekorden mag oftmals bleiern und rückständig, gar archaisch, erscheinen. Tatsächlich war das nordostafrikanische Land in seiner modernen Geschichte jedoch immer wieder Vorreiter für regionale und internationale Trends. So waren die Bewegung des »Mahdi« 1885 mit dem Sieg über die ägyptisch-türkischen Besatzer die erste des Kontinents, die sich von ausländischen Kolonialherren befreien konnte.

 

Zudem gelten sie als erste Dschihadisten-Gruppe der Neuzeit. Die Rückeroberung des Landes durch eine anglo-ägyptische Streitmacht wiederum führte 1899 in der Faschodakrise mit Frankreich fast zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und die Entscheidungsschlacht von Omdurman gegen die Mahdisten war ein Meilenstein der Militärgeschichte, da sich die kleine britische Truppe dank neuartiger Maschinengewehre gegen eine zahlenmäßige Übermacht durchsetzen konnte – ein Testfall für den industriellen Krieg, der 15 Jahre später die Menschheit heimsuchte.

 

1956 war der Sudan erneut Trendsetter, da er nach Libyen als zweites afrikanisches Land seit dem Zweiten Weltkrieg seine Unabhängigkeit erlangte. Keine drei Jahre später setzten die Militärs in Khartum mit ihrem Staatsstreich hingegen einen unheilvollen Präzedenzfall für den ganzen Kontinent. 1983 war der Sudan dann das erste Mitgliedsland der Arabischen Liga, das sich zur »Islamischen Republik« erklärte.

 

Es folgte 1989 die Machtergreifung der Muslimbrüder, die in den 1990er Jahren militanten Islamisten wie Osama Bin Laden einen Heimathafen boten. Unrühmlicher Höhepunkt: im Jahr 2009 wurde Präsident Omar Al-Baschir das erste amtierende Staatsoberhaupt, gegen das der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl erließ. Schließlich wurden mit der Sezession des Südsudans im Jahr 2011 erstmals in der Geschichte Afrikas koloniale Grenzen revidiert.

 

Bonns Boomerang

 

In der an stolzen Momenten armen Geschichte des Sudans war die Oktoberrevolution von 1964 zweifelsohne der glorreichste Wendepunkt. Das Militärregime von General Ibrahim Abboud hatte zuvor die bürgerlichen Freiheiten stark beschnitten und mit seiner Arabisierungs- und Islamisierungspolitik den Krieg im Südsudan voll entflammt. Abbouds wichtigster Partner war die Bundesrepublik Deutschland, die der Junta Rüstungshilfen im Rekordumfang gewährte, um ein diplomatisches Vordringen der DDR in Ägyptens »Hinterhof« zu verhindern.

 

Als Soldaten am 21. Oktober 1964 auf dem Campus der Universität von Khartum eine Diskussionsveranstaltung über den Süd-Konflikt auflösten und dabei den Studenten Ahmed Al-Qureshi töteten, kam es zu Massenprotesten in mehreren Städten mit Dutzenden Todesopfern. Die zentrale Rolle bei den Protesten spielte die Sudanesische Kommunistische Partei, damals die stärkste KP in der arabischen wie afrikanischen Welt.

 

Während sich die traditionellen Parteien der feudalistischen Sektenführer und die Muslimbrüder nur zögerlich den Protesten anschlossen, mobilisierten die KP-Kader die Studierenden sowie die Berufsverbände der Ärzte und Rechtsanwälte. Auf der Basis jahrelanger Untergrundarbeit organisierte sie den Generalstreik, der das Regime unerwartet rasch kollabieren ließ. Nach gerade einmal fünf Tagen übergab Abboud, auch auf Druck aus der Armee selber, die Macht an die Zivilisten.

 

Dieser Triumph, der von den populärsten Musikern des Landes in Liedern verewigt wurde, dient auch heutigen Aktivisten noch als wichtigste Quelle der Inspiration – viel mehr als die »Jasmin-Revolution« in Tunesien, die zu Unrecht als historische Premiere im arabischen Raum bezeichnet wird.

 

Der unmittelbare Erfolg der Oktoberrevolution hielt indes nicht lange an. Das erste Übergangskabinett, das von progressiven Kräften geprägt wurde, konnte sich kaum drei Monate an der Macht halten. Im Februar 1965 zwangen Massenproteste bewaffneter Ansar-Anhänger des Mahdi-Urenkels die Regierung zum Rücktritt. Die Restauration des konservativen Establishments geschah mit westdeutscher »Unterstützung«, wie Bonns Botschafter Oswald von Richthofen, ein ehemaliger SS-Offizier, in einem Geheimschreiben festhielt.

 

Details finden sich in den unveröffentlichten Memoiren des damaligen BRD-Konsuls Kurt Küpper: »Die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme bestand. Um die Ansar zu bewegen, brauchte man viel Zeit und noch mehr Geld. Irgendwie brachte der Freiherr seine Sorge unter die maßgebenden Leute, verborgene Geldquellen begannen für den Mahdi zu sprudeln.« Allem Anschein nach handelte es sich bei der Intervention um eine verdeckte Operation des Bundesnachrichtendienstes, der seit 1957 im Sudan aktiv war.

 

Ironie der Geschichte: die Umma-Partei der Mahdisten, die Unionisten der Khatmiyya-Sekte und die Muslimbrüder brachen mit dem Verbot der KP die Verfassung, ruinierten mit ihrer kleptokratischen Regierungsführung den Staat und bereiteten so den Boden für einen linksgerichteten Putsch im Mai 1969 unter der Führung von Oberst Jafar Numeiri, der einst bei der Bundeswehr ausgebildet worden war. Prompt erkannte sein Revolutionsregime die DDR an und verhalf Ostberlin damit ganz entscheidend zum internationalen Durchbruch.

 

Das Land der Dinosaurier

 

Numeiri, der sich vom Sozialisten zum prowestlichen Liberalen und schließlich zum Islamisten wandelte, wurde selber im April 1985 durch eine zweite Volkserhebung gestürzt. Die Bewegung nannte sich »Intifada«, zwei Jahre bevor der Begriff durch den palästinensischen Aufstand bekannt wurde. Einmal mehr spielte die Kommunistische Partei eine wesentliche Rolle bei der strategischen Planung der gewaltlosen Proteste und Streiks.

 

Den Ausschlag zugunsten des Volkes gab freilich erneut die Armee, die sich nach wenigen Tagen gegen den Diktator stellte. Offenbar erinnerten sich die Militärs daran, dass ihre Kapitulation gegenüber der Oktoberrevolution von 1964 sie zu Helden statt zu Schurken gemacht hatte. Dieses Axiom hat Generalfeldmarschall Baschir vor einem Jahr gebrochen, als seine »Sicherheitskräfte« über 200 Demonstranten in Khartum und anderen Städten erschossen, um die Proteste gegen Preiserhöhungen zu brechen. Das könnte zu einer explosiven Militarisierung der urbanen Armenviertel führen, aber auf viele Sudanesen  – und westliche Diplomaten – wirken die Folgen des Arabischen Frühlings in Libyen und Syrien noch abschreckender.

 

Baschir kann daher gewissermaßen auf den Sisi-Effekt zählen: zweifelhafte Stabilität versus totales Chaos. Die eigentliche Opposition findet derweil innerhalb des eigenen Islamisten-Lagers statt, das darüber streitet, wie islamistisch das Regime nach über einem Vierteljahrhundert überhaupt noch ist. Während die Kommunistische Partei des Sudans nach Jahrzehnten der Illegalität nur noch einen Schatten ihrer selbst darstellt, ist also der ultimative Gewinner der beiden Volkserhebungen ausgerechnet das islamistische Gesellschaftsmodell von Scheich Hassan Al-Turabi, der noch heute als Greis eine große Rolle in der sudanesischen Politik spielt.

 

Auch sein Schwager, der Imam Al-Sadik Al-Mahdi, war schon 1964 einer der Hauptprotagonisten und ist es noch immer. Ebenso Maulana Mohamed Osman Al-Mirghani, damals wie heute eine Führungsfigur der Unionisten, und Faruq Abu Issa, während der Oktoberrevolution sozialistischer Studentenführer und nun Vorsitzender des zivilen Oppositionsbündnisses. Der Schriftsteller Olivier Rolin bringt dieses Paradoxon von anachronistischen Verhältnissen und revolutionären Wandlungen in seinem Roman »Meroe« folgendermaßen auf den Punkt:

 

»Der Sudan ist das Land der Dinosaurier, eine Art toter Stern, auf dem man noch Pharaonen findet, während das Römische Reich schon zur Hälfte von den Barbaren zertrümmert worden ist. Das ist so, als ob die DDR weiterleben und, sagen wir, im 27. Jahrhundert noch, weiterhin Marx-Engels-Lenin-Stalin verehren würde. Können Sie sich das vorstellen? Dann werden Sie auch begreifen, was an diesem Land, das die Geschichte zu leugnen oder besser: ihr ein extrem zähflüssiges, eigentlich schon klebriges Milieu zu bieten schien, in dem sie sich mit einer solchen Langsamkeit bewegt, dass sie schließlich in ihr Gegenteil umkippt, [..] so anziehend war.«

Von: 
Roman Deckert

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