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Müllkrise und Umweltproteste im Libanon

Es stinkt zum Himmel

Feature

Die Müllproteste in der libanesischen Hauptstadt Beirut gehen in die nächste Runde. Am 29. August folgten Zehntausende dem Demonstrationsaufruf – ihnen geht es längst um mehr als nur den Dreck auf den Straßen.

Der Libanon versinkt im Müll. Seit Wochen stapeln sich in den Straßen – und vor allem in abgelegenen Tälern oder entlegenen Parkplätzen, die kurzerhand zu Müllkippen umfunktioniert wurden – die Berge an Abfall und faulen in der Hitze. Die Krise ist auch Auslöser der wohl schon jetzt wichtigsten Massenproteste seit der sogenannten Zedernrevolution vor zehn Jahren. Allein am 29. August demonstrierten rund 15.000 Menschen friedlich in der Innenstadt von Beirut für eine Lösung des Müllproblems und ein Ende der Korruption und Misswirtschaft.

 

Die Demonstrationen wachsen seit nun zwei Wochen stetig an. Das politische System des Libanon mit seinen konfessionellen Einflüssen ist komplex, hervorragend angepasst an die feudalen Clanstrukturen des Landes und seit Jahren völlig gelähmt. Zwei Mal bereits hat das Parlament seine eigene Legislaturperiode eigenständig verlängert, da es sich weder auf einen neuen Wahltermin, noch ein Wahlgesetz einigen konnte. Die Demokratie existiert nur noch auf dem Papier – statt eines einzelnen Autokraten klammert sich aber eine Gruppe von alteingesessenen Familien aller religiösen Gruppen an die Macht.

 

So weit, so bekannt für den Libanon. Was für viele Anwohner Beiruts das Fass seit mehreren Wochen jedoch zum Überlaufen bringt, ist der vollkommene Kollaps der Müllentsorgung. Im Juli war die letzte Müllkippe der Stadt wegen Überfüllung geschlossen worden und die Verwaltung, allen voran Umweltminister Mohammed Machnouk, drängten nur langsam auf eine Lösung der Krise. Über Monate sprachen Entsorgungsunternehmen vor, an vielen sind einflussreiche Politiker direkt oder indirekt beteiligt; eine Entscheidung wird jedoch bis heute vertagt.

 

Die meisten Mitarbeiter des Beiruter Reinigungsunternehmen Sukleen sind seit Wochen im Streik oder schlicht nach Hause geschickt worden. Das World Economic Forum stufte die libanesische Administration im vergangenen Jahr als die viertschlechteste weltweit ein. Preise für öffentliche Dienstleistungen, aber auch Wasser, Strom oder Internet seien überteuert, die Qualität oft miserabel. Für viele frustrierte Libanesen war die Auswanderung bislang meist das Mittel der Wahl – das Land verfügt über eine der gemessen an der Bevölkerung größten Diasporagemeinden der Welt. Politische Bewegungen, die nicht von einer der zahlreichen Parteien des Landes gesteuert wurden, waren selten und meist beschränkt auf die junge, linke Beiruter Mittel- und Oberschicht.

 

Protest statt Party: Beiruts Bars solidarisieren sich mit den Demonstrationen

 

Auch darum war es bemerkenswert, dass die lässigen Bars der Beiruter Partymeile Gemmayzeh an diesem Samstagabend ihre Läden schlossen – die Leute sollten einmal nicht feiern, sondern demonstrieren gehen. Im Libanon, dessen Jugend auf ihre Feierwütigkeit und zynische Politikverachtung gewissermaßen stolz ist, ist das ein Zeichen.

 

Und befürchteten viele Beobachter nach den Demonstrationen von letzter Woche, die auch wegen der mangelhaften Ausbildung der Sicherheitskräfte in Gewalt und 65 Verletzten endeten, abermals Ausschreitungen, so wurde es letztendlich eine weitgehend friedliche Veranstaltung. Auch die rund 200 Hooligans, die ab neun Uhr abends vor dem Büro des Regierungschefs randalierten, konnten daran nichts ändern. Ihre Verhaftung wurde selbst von vielen Demonstranten begrüßt.

 

Imad Bazzi, einer der Organisatoren des Aktionsbündnisses #YouStink, fasst seine drei zentralen Forderungen zusammen: »Der Rücktritt des Umweltministers, weil die aktuelle Krise in seine Verantwortung fällt, der Aufbau einer landesweiten Strategie zur Lösung des Müllproblems und zuletzt Transparenz. Wir müssen wissen, wer all das Geld [für den Betrieb der Müllkippen] erhalten hat und wer alles in diese Korruption verwickelt ist.« Es sei auch das Anliegen vieler Aktivisten, das Verhalten der einfachen Libanesen zu verändern, die einen guten Teil zur Umweltverschmutzung selbst beitragen.

 

Bislang zeigen diese Aufrufe jedoch kaum Wirkung: Wo auch immer man im Moment in Beirut einkaufen geht, es gibt kaum Geschäfte, die versuchen, die Masse an Verpackungsmaterial und Abfall zu reduzieren. Wohin das politische Momentum führen könnte, ist derzeit unklar. Ein Ultimatum der Demonstranten an die Regierung, besagte Forderungen umzusetzen, läuft am 1. September aus – eine Lösung ist aber noch immer nicht in Sicht. Am Wochenende könnten sich darum erneut Demonstranten in der Innenstadt zusammenfinden.

 

Mit jeder weiteren Woche steigt der Druck nicht nur auf die direkt betroffenen Politiker und Unternehmen, sondern auch auf das politische System insgesamt. Es geht längst um mehr als nur die Müllkrise.

Von: 
Nils Metzger

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