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Klubs und Krise im Libanon

»Techno ist besser als Therapie«

Reportage
Klubs und Krise im Libanon
High Hats Community / Imad El Achkar

Krise am Tag, Party in der Nacht: Inmitten des politischen und wirtschaftlichen Ausnahmezustands boomt das Nachtleben von Beirut. In den Kellern der Hauptstadt träumen Raver vom Libanon der Zukunft.

Am frühen Abend wacht Mira Succari auf, doch sie ist noch zu erschöpft, um von ihrer Nacht zu erzählen: »Der Rave ging bis zum Morgen.« Eine Stunde später ist die 22-Jährige schließlich auf den Beinen. »Techno ist besser als Therapie«, beschreibt sie ihre Liebe zu elektronischer Musik. Dabei verlangt ihr Leben im Libanon eigentlich nach regelmäßigen Besuchen beim Psychiater. »Ich habe viel Traumatisches erlebt«, erinnert sich die Studentin. »Der Krieg, die Autobomben, die Explosion am Hafen und jetzt wackeln auch hier die Häuser durch Erdbeben.«

 

Das Nachtleben ist für Succari eine Flucht aus dem Alltag. »Jeden Tag wachst du auf und spürst diese Angst.« Seit Jahrzehnten rühmt sich die libanesische Hauptstadt mit ihrem ausschweifenden Nachtleben. Auch in den Krisenjahren brachten die vielen Partys der Stadt Spitzenbewertungen in Reiseführern ein. Noch 2019 kürte der Sender CNN Beirut mit dem dritten Platz in der Kategorie »Best Party City«. Vier Jahre später sind die Banken geschlossen, die Inflation außer Kontrolle und das Land befindet sich – wieder einmal – in der politischen Blockade. So schlecht wie heute ging es dem Libanon lange nicht.

 

Immer wieder flackern Erinnerungen an den Bürgerkrieg auf. Anhänger schiitischer und christlicher Parteien beschießen einander auf offener Straße: mit Panzerfäusten und Scharfschützengewehren. Die Gesellschaft bleibt verhaftet in den konfessionellen Trennlinien des Bürgerkriegs, der sich tief in das kollektive Bewusstsein der Libanons gebrannt hat. 35 Meter ragte der Müllberg aus Trümmern an der Küste Beiruts in die Höhe. Solidère, der Bauträger von Rafik Hariri, verwandelte das Brachland 1994 in den »Beirut Waterfront District«. Das Stadtviertel am Wasser versprach Parks, ein Messezentrum und Kulturräume. Drei Jahrzehnte später ist hier nicht viel Grün zu sehen – dafür aber viele Nachtclubs.

 

Klubs und Krise im Libanon
Samaya Al-Sablouny, eine der Gründerinnen der HiHats-Community, legt auch regelmäßig selber auf. High Hats Community / Imad El Achkar

 

Etwa das AHM, der Name ist eine Anspielung auf das Wort Âme, französisch für »Seele«. Der Gründer und Betreiber des Clubs heißt Jad Souaid, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Jade. Er ist für den Libanon das, was Dr. Motte für die Technokultur in Deutschland war, ein Pionier der Szene und seit den 1990er-Jahren als Veranstalter, DJ und Produzent aktiv. Das AHM ist seit seiner Eröffnung 2017 eine Institution in Beirut: freitags Pop, samstags Elektro. Die Tanzfläche in der Größe einer Lagerhalle ist mit zahlreichen Lichteffekten, ausgeschmückt, ab zwei Uhr nachts wird es voll. Links und rechts der Tanzfläche stehen Sofas, die an Zuschauertribünen erinnern: Wer dort sitzt, hat den besten Blick auf die tanzende Menge.

 

Samer Makarem ist Manager bei »Factory People«, der Firma von Jade und seinen Mitstreitern, die neben dem AHM zahlreiche weitere Nachtclubs und Strandbars in der libanesischen Hauptstadt betreibt. Im Zuge der Lockdowns während der Covid-19-Pandemie mussten die Clubs auch im Libanon schließen. »Finanziell war das gerade noch zu stemmen«, erinnert sich der 32-Jährige. Doch als im August 2020 unweit des Clubs über 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat in einer Lagerhalle am Hafen detonieren, wird auch das Gelände, auf dem der Club steht, verwüstet. Nur ein Kilometer Luftlinie lag zwischen Explosion und Club: »Wir waren uns nicht sicher, ob das AHM je wieder öffnen würde.«

 

Dank einer Crowdfunding-Kampagne kommt zwar genug Geld zusammen, der Wiederaufbau erweist sich aber auch so als immenser Kraftakt. »Ich bin Optimist, aber ich hätte nicht genügend Energie, das nochmal zu machen«, resümiert Makarem. Nicht jedem Club in der libanesischen Hauptstadt ist ein Comeback gelungen. Neben dem AHM liegt »O1NE Beirut«. Der Club hat die Wucht der Druckwelle zumindest äußerlich unbeschadet überstanden. Heute zeugt nur noch die Außenwand des zylinderartigen Baus mit ihren bunten Graffitimotiven von kreativer Geschäftigkeit. Denn auf der Fassade ist heute mehr los als im Club dahinter: Seit dem ersten Lockdown sind die Lautsprecher verstummt, die Türen verriegelt.

 

Klubs und Krise im Libanon
»Unsere Gäste sollen sich in den Clubs wenigstens ein paar Stunden am Tag völlig befreit fühlen – Religion und Politik sind hier tabu« High Hats Community / Imad El Achkar

 

Samer Makarem möchte trotz aller Krisen in Beirut bleiben: »Ich habe das Glück, hier einen Job zu haben.« Selbst gut qualifizierte Libanesen finden oft nur noch im Ausland Arbeit. Nur wenige Stunden Strom am Tag, eine schlechte Internetverbindung und lange Staus machen den Alltag im Land zu einer Geduldsprobe: »Unsere Gäste sollen sich in den Clubs wenigstens ein paar Stunden am Tag völlig befreit fühlen – Religion und Politik sind hier tabu«, betont Makarem. Im Vergleich zu anderen arabischen Städten genießt man in Beirut auch heute noch viele Freiheiten. Trotzdem, so Makarem, gebe es regelmäßig Rückschläge: Die libanesische Band »Mashrou‘ Leila« mit ihrem offen homosexuellen Sänger wurde 2019 etwa vor einem Konzert in Byblos von religiösen Gruppen bedroht. Das Konzert wurde schließlich »aus Sicherheitsgründen« abgesagt.

 

Häufig begegne man auch in der libanesischen Gesellschaft rückständigen Ansichten, findet Manager Makarem. Kunst und Kultur, glaubt er, käme die Aufgabe zu, einen Gegenentwurf anzubieten: »In unseren Clubs wollen wir die Gesellschaft von morgen aufbauen.« Einen geschützten Ort brauchen vor allem potenziell gefährdete Gesellschaftsgruppen. Erst im Februar 2023 veröffentliche Human Rights Watch einen Bericht, demnach Sicherheitskräfte systematisch Dating-Portale zur Verfolgung homo- oder transsexueller Menschen nutzen würden. Obwohl Homosexualität im Libanon nicht explizit verboten ist, landen queere Menschen immer wieder in Isolationshaft.

 

Trotz der sich rapide verschlechternden Sicherheitssituation herrscht bei Club- und Barbesitzern in der libanesischen Hauptstadt aber grundsätzlich Zuversicht. Im Sommer waren die Hotels wieder ausgebucht, viele Touristen kamen ins Land. Auch sie trugen dazu bei, dem Nachtleben Auftrieb zu verleihen. Makarem und seine Mitstreiter weiten ihren Blick bereits über den Libanon hinaus und planen, in andere Länder zu expandieren. »Wir wollen ein Powerhouse für Clubkultur in der gesamten MENA-Region werden.«

 

Klubs und Krise im Libanon
Die oft spärliche Kleidung, abgeklebte Brustwarzen und enge Lederkostüme wären außerhalb des Clubs selbst für liberale Libanesen eine Provokation. High Hats Community / Imad El Achkar

 

Dass ausländische Partygäste und DJs so maßgeblich dafür gesorgt haben, dass sich Libanons Nachtleben schnell erholte, sehen einige auch kritisch. »Es ist wichtig, dass wir selbst wieder etwas aufbauen«, findet etwa Techno-Fan Mira Succari. Tatsächlich ist der Libanon auf Zuwendungen aus dem Ausland angewiesen, wirtschaftlich, kulturell und politisch. Erst die jüngste Krise und die damit verbundenen Preissteigerungen von ausländischen Produkten setzen einen Mentalitätswandel in Gang. Beim Konsum etwa richtet sich der Blick heute ins Inland: Was bietet der heimische Markt? Auch an der Kulturbranche geht dieser Trend nicht vorbei. »Die lokale Musikszene hat mehr Sichtbarkeit gewonnen«, findet Succari.

 

Einen Beitrag dazu leistet Serge Trad. 2019 gründete der heute 25-Jährige gemeinsam mit seinem Bruder das Label »STRND RECORDS«. Am 17. Oktober des gleichen Jahres erschien seine erste Veröffentlichung – an jenem Tag also, als landesweit neue Proteste ausbrachen. Seitdem ist die Währung kollabiert, die Fronten verhärtet, Politik und Verwaltung sind im Niedergang. Der Wertverlust der Währung ist kaum zu bremsen. Zehn Euro für den Eintritt in den Club entsprachen jahrelang 15.000 Libanesischen Pfund. Im Frühjahr 2023 mussten Tanzwillige 880.000 Pfund investieren.

 

Während die Lira fällt, wächst das Label von Serge Trad und nimmt libanesische wie internationale DJs unter Vertrag: »Wir kommen auf über 100 Veröffentlichungen«, berichtet der Produzent stolz. Wie die Betreiber des AHM setzt auch Trad auf Expansion, der Krise zum Trotz. »Unser Ziel ist es, dass wir in Beirut für europäische Musiker produzieren.« Um das Label bekannter zu machen, organisiert Trad Wettbewerbe, bei denen DJs gegeneinander antreten – auch während der Lockdowns. So lernt er das Paar Marc Korjian und Samaya Al-Sablouny kennen, mit denen er 2022 die HiHats-Community gründete. Serge Trad ist von Anfang an als DJ dabei: »Wir wollten musikalisch eine Linie überschreiten«, sagt Trad an. Je ausgefallener und exotischer, desto besser.

 

Klubs und Krise im Libanon
»In unseren Clubs wollen wir die Gesellschaft von morgen aufbauen.« High Hats Community / Imad El Achkar

 

In einem ehemaligen Industriegebiet liegt die unterirdische Lagerhalle »Warehouse Minus 5«, dort organisieren sie seitdem regelmäßig Raves. »Wir müssen vor Ort nur unser Setup für den DJ aufbauen«, erklärt Mitgründer Korjian. Um das Pult wird dann ein Maschendrahtzaun gespannt, an dem drei rote Neonröhren hängen. Da das die einzige Beleuchtung ist, tanzen die Gäste weitestgehend im Dunkeln zu den elektronischen Klängen, verlieren sich so im Raum und der Musik. Die oft spärliche Kleidung, abgeklebte Brustwarzen und enge Lederkostüme wären außerhalb des Clubs selbst für liberale Libanesen eine Provokation.

 

Maximal zehn US-Dollar kostet der Eintritt, Gewinn machen die Betreiber so nicht: »Für uns steht die Gemeinschaft im Vordergrund«, betont Sablouny. Ihr Konzept für die Partys haben sie deshalb erweitert: Neben der Musik laufen auf den Raves auch Modeschauen für Latex- und Lederkleidung oder auch Kunstausstellungen. Bis zu 300 Gäste zieht der monatliche Rave an, manche nehmen eine lange Anreise in Kauf: »Letztes Mal ist ein Teilnehmer aus Jordanien extra für unseren Rave nach Beirut geflogen und am nächsten Tag wieder zurück«, erzählt Korjian.

 

Auch Mira Succari ist regelmäßig auf den Partys der HiHats-Community: »Hier kann ich einfach ich selbst sein und tanzen, wie ich will.« Der Club liefert auch eine Antwort auf die Frage, warum sie den Libanon mit seinen Krisen nicht verlassen will. »Die Menschen hier sind der Grund, warum ich bleibe.«

Von: 
Alexander Karam

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