Lesezeit: 7 Minuten
Leo Tolstojs »Hadschi Murat«

Der Gefangene im Kaukasus

Feature

Tolstojs »Hadschi Murat« schildert eine tragische Heldengeschichte aus dem Kaukasus des 19. Jahrhundert, die nichts an Aktualität verloren hat. Die Kritik an der russischen Herrschaft bezieht auch die Perspektive der Einheimischen mit ein.

Als Lew Tolstoj nach seiner Flucht aus Jasnaja Poljana im November 1910 im Bahnwärterhaus von Astapowo stirbt, liegt sein letztes größeres Werk mit dem Titel »Hadschi Murat« noch ungedruckt in der Schublade. Acht Jahre vorher hatte er verfügt, dass das Manuskript nicht zu seinen Lebzeiten erscheinen dürfe. Liest man seine Erzählung, mit deren Niederschrift er 1896 begonnen und deren letzte Fassung Ende 1904 Romanlänge erreicht hatte, erschließt sich dem Leser, weshalb der russische Schriftsteller diese Entscheidung wohl auch getroffen hat: Sein »Hadschi Murat« ist die tragische Geschichte des gleichnamigen nordkaukasischen Kämpfers aus dem 19. Jahrhundert – und eine Kritik an der russischen Herrschaft in der mehrheitlich muslimischen Region.

 

1912 erstmals veröffentlicht, hat der Dörlemann Verlag die Erzählung hundert Jahre später in der Übersetzung des deutsch-baltischen Schriftstellers Werner Bergengruen (1892-1964) und versehen mit einem Nachwort des Slawisten Thomas Grob neu aufgelegt. »›Welche Energie und Lebenskraft!‹, dachte ich in Erinnerung an die Mühe, die mir das Pflücken der Blume gemacht hatte. Wie tapfer hatte sie sich gewehrt und wie teuer ihr Leben verkauft.« Der Anblick einer Tatarendistel, die der namenlose Erzähler bei einem Spaziergang entdeckt, lässt bei ihm eine Geschichte aus den Kaukasuskämpfen wieder aufsteigen, »die ich teils selbst miterlebt, teils von Augenzeugen gehört und teils ergänzend in meiner Phantasie geformt habe«.

 

Hadschi Murat kann die Entscheidung des Imam Schamil nicht akzeptieren – und begehrt auf

 

Im Mittelpunkt von Tolstojs Erzählung steht der Ende der 1790er-Jahre geborene Hadschi Murat, der wie Imam Schamil (um 1797-1871) zum Volk der Awaren gehörte. Beide sind sicherlich die bekanntesten und bedeutendsten Anführer der »Bergvölker«, allen voran der Dagestaner und Tschetschenen, im Kampf gegen die Russen. Nachdem das Zarenreich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das Osmanische Reich und den Iran in mehreren Kriegen fast vollständig aus dem Kaukasus verdrängt hatte, versuchte es anschließend, die Herrschaft über die nordkaukasischen Völker innerhalb des russischen Machtbereichs zu erringen. Diese leisteten den Invasoren in ihren »Ghazawat«, ihrem religiös fundierten Krieg, jedoch großen Widerstand.

 

So dauerte es noch über die Kapitulation des Imam Schamil im Jahre 1859 hinaus, bis die zaristischen Truppen die Völker in dem unwegsamen Terrain unter Kontrolle hatten. Tolstoj thematisiert in seiner Erzählung eine wahre Begebenheit aus der Kriegszeit: Die Entscheidung Imam Schamils, seinen Sohn und nicht seinen Stellvertreter Hadschi Murat zum nächsten Imam zu bestimmen, kann dieser nicht akzeptieren und begehrt auf. Daraufhin beschließen seine Gegner, ihn zu töten. Hadschi Murat flieht im November 1851 aber zu den Russen. Mit ihrer Hilfe hofft er, seine Familie aus Schamils Händen zu befreien und sich an diesem zu rächen. »Hadschi Murat hatte von jeher an sein Glück geglaubt. Wenn er etwas unternahm, war er von vornherein vom Gelingen überzeugt, und der Erfolg neigte sich ihm zu. Mit wenigen Ausnahmen war es während seines ganzen stürmischen Kriegerlebens so gewesen.«

 

Die Beziehungen zwischen Russen und Kaukasiern sind nicht starr

 

Bei den Russen ist Hadschi Murat Gast und Gefangener zugleich. Sie wissen nicht, ob sie ihm vertrauen können. Ihm ergeht es nicht viel anders. Er fühlt sich sichtlich fremd. Bei einem Abendempfang in Tiflis etwa reagiert er überrascht über das Auftreten der weiblichen Gäste: »Junge und nicht mehr junge Frauen in Kleidern, die Hals, Arme und Brust frei ließen, tanzten mit Männern im schimmernden Uniformen.« Und als er von dem zaristischen Statthalter im Kaukasus, Woronzow, gefragt wird, wie es ihm gefalle, antwortet der »exotische« Gast, dass »es bei ihm zu Hause so etwas nicht gebe, wobei er offenließ, ob er das für gut oder schlecht hielt.« Dennoch sind die Beziehungen zwischen beiden Seiten nicht starr.

 

Der Erzähler macht zwar deutlich, welche Vorurteile auf Seiten der Russen und welche Aversionen bei den Kaukasiern infolge der Kämpfe und Zerstörungen herrschen. Andererseits gibt es in der Erzählung auch Beispiele für einen friedlichen Kulturkontakt. Einigen Russen, allen voran Frauen, gelingt es, mit Hadschi Murat einen guten Draht zu finden. In der Figur des jungen Offiziers Butler taucht zudem ein Protagonist auf, der große Sympathie für die Einheimischen hat: »Er fühlte sich selbst schon als Bergbewohner und lebte sich in das Leben der Tschetschenen hinein.« Butler könnte, wie Grob in seinem Nachwort schreibt, eine Spiegelung des russischen Schriftstellers sein, der zwischen 1851 bis 1853 selbst als Fähnrich im Kaukasuskrieg diente.

 

Der Erzähler schildert das Schicksal des Protagonisten in allen seinen Zusammenhängen ungeheuer plastisch und einfühlsam. Der Leser bekommt einen Einblick in das harte, entbehrungsreiche Leben der kaukasisch-muslimischen Völker, aber auch der russischen Bauern; er erhält einen Eindruck von der unbarmherzigen Politik Zar Nikolaus’ I. (1796-1855) und dem brutalen Vorgehen der russischen Truppen.

 

Tolstoj knüpft an die Leitthemen von Puschkin und Lermontow an

 

»Der Leser«, so schreibt Thomas Grob in seinem Nachwort, »wird durch verschiedene Perspektiven geführt, es werden unterschiedliche Wahrheiten zugelassen, und die kulturelle Grenzüberschreitung wird stets mit Sympathie bedacht.« Das Aufeinanderprallen der russischen und kaukasischen Denk- und Lebensweise wirkt filmisch und ist fast mit Händen zu greifen. Die Erzählung liest sich schnell, weil sie spannend ist und den Leser von Anfang an packt. Ihr Held wird mit Sympathie gezeichnet, aber auch wie jemand, dem es um Macht geht und der dafür bereit ist, mit Feinden zu koalieren. Man ahnt aber, dass das Bündnis zwischen den ungleichen Partnern nicht ewig halten wird.

 

Thematisch knüpft »Hadschi Murat« damit an ein bedeutendes Genre in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts an: Es ist – etwa wie das Gedicht »Ein Gefangener im Kaukasus« (1821) von Alexander Puschkin (1799-1837) oder der Roman »Ein Held unserer Zeit« (1840) von Michail Lermontow (1814-1841) – ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Kaukasus als Grenzraum zwischen Orient und Okzident, Tradition und Moderne, Fremdem und Eigenem. Tolstojs Erzählung ist in dieser Hinsicht ein künstlerisch sehr wertvolles Werk – stilistisch wie inhaltlich. Dabei bleibt es, auch wenn man während der Lektüre das Gefühl hat, dass der Autor »Hadschi Murat« noch nicht völlig fertig gestellt hatte. In Grobs Nachwort finden sich hierzu und zur Einordnung des Buches in dessen Gesamtwerk spannende Informationen.

 

Jedoch fehlen solche zur Editions- und Rezeptionsgeschichte des Textes, der im Untertitel der Buchausgabe als ein Roman, bei Grob als Erzählung bezeichnet wird. Unabhängig davon liest sich Bergengruens »alte«, erstmals 1953 im Manesse Verlag erschienene Übersetzung noch heute sehr flüssig. Das angefügte Glossar und die Anmerkungen des Übersetzers sind für das Verständnis der Ereignisse im Kaukasus zudem von großer Hilfe. Betrachtet man schließlich die Unabhängigkeitsbestrebungen der nordkaukasischen Völker nach dem Ende der Sowjetunion, hat »Hadschi Murat« politisch auch heute nichts von seiner Aktualität verloren. In zwei Kriegen haben sich die Tschetschenen seit den 1990er-Jahren gegen die Russen aufgelehnt. Und auch in Dagestan rücken russische Spezialtruppen immer wieder zu Militäroperationen aus. Moskau will das ölreiche und geostrategisch bedeutende Gebiet nicht aus den Händen geben. Der alte Konflikt ist zwar wieder eingedämmt, aber noch immer nicht friedlich beigelegt.


Hadschi Murat

Ein Roman aus dem Kaukasus

Lew Tolstoj

Aus dem Russischen von Werner Bergengruen.

Dörlemann Verlag, 2013

290 Seiten, 18 Euro

Von: 
Behrang Samsami

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.