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Leben in den Bergen im Osten Tadschikistan

Das Dorf am Damm

Reportage

Das Leben in den Bergen im Osten Tadschikistans ist hart und bedroht durch Naturgewalten. Ohne Hilfe vom Staat oder von internationalen Organisationen versucht ein Mann, die Zukunft seines Dorfes selbst in die Hand zu nehmen.

Als eines der vielen Schlaglöcher dem alten russischen Militärbus einen Stoß versetzt, zeigt sich für einen Augenblick der strömende Fluss rechts von der Straße, fünf Meter den Hang hinunter. Auf der anderen Seite der Schotterpiste schmiegt sich der Bus so dicht an die Bergwand, dass sich mit ausgestreckter Hand die grauen Steine anfassen lassen. Hier und da stehen kyrillische Buchstaben auf den Felsen, einfarbig mit einem Pinsel aufgemalt verkünden Parolen »Friede fürs Vaterland«,  »Wasser ist Leben« und »Gratulation zum 20. Jubiläum der tadschikischen Unabhängigkeit, Freunde!«

 

Die patriotischen Worte des tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon begleiten den Bus bis in das entlegene Bartang-Tal, ein Seitental des Pamirgebirges. Und bis in das kleine Bergdorf Nisur. 40 flache Häuser stehen dort, die meisten Bewohner leben von Ziegenzucht und Ackerbau. Verwandte im fernen Russland schicken Geld. Denn das Überleben in Nisur ist schwieriger geworden.

 

Roziq Yaftaliev, ein braungebrannter, schmaler Mann mit dunklen Haaren, sitzt gelassen auf der Rückbank in dem kleinen Bus. Er lebt in Nisur und fährt die Strecke häufig, manchmal mehrmals die Woche, um in der größeren Stadt Einkäufe für das Dorf zu erledigen. Vor 34 Jahren ist er hier im Bartang-Tal geboren. Und wie alle in Nisur lebt Roziq Yaftaliev mit dem Risiko, dass jederzeit der Tod droht. Als eines der entlegensten Dörfer liegt Nisur nur 18 Kilometer flussabwärts vom tiefblauen Sares-See. Der Usoi-Staudamm schließt die mächtigen Wassermassen des Sees ein. Der Damm ist hier im Pamirgebirge 1911 nach einem gewaltigen Erdrutsch entstanden. Der Usoi ist der größte natürliche Staudamm der Welt.

 

Und er ist wohl auch der gefährlichste. Aus einem Erdrutsch ist er entstanden – und ein starker Erdrutsch oder ein Beben könnten ihn brechen. Bis zu 100 Meter könnte die Flutwelle steigen, die durch das schmale Tal rauschen würde. Fünf Millionen Menschen in Tadschikistan, Afghanistan, Usbekistan und Turkmenistan wären bedroht. Zuallererst die Menschen in Nisur. Ein Teil des Dorfes liegt direkt am Fluss Bartang, der andere Teil etwa 400 Meter höher am Berg. Die Beben, die Flutwelle, die zerstörerischen Folgen für das Dorf – all das könnte Roziq Yaftaliev ziemliche Angst machen, über all das könnte er sich jeden Tag den Kopf zerbrechen.

 

Wo früher Obstbäume standen, spült der Regen heute den kahlen Boden die Hänge hinunter

 

Aber ihn treibt etwas anderes um. Die Zukunft der Jugend in dem Dorf – das ist es, was Yaftaliev Sorgen macht. Das ist die eigentliche Last, die Nisur trägt. Junge Menschen, die für die Region so wichtig sind. Und die doch alle nur weg wollen von hier, in die Großstädte oder lieber gleich ins Ausland, dorthin, wo es Jobs und Wachstum gibt. Roziq Yaftaliev will ihnen eine Perspektive geben. In Nisur. Er steht vor einer Gruppe junger Schüler in der Dorfschule von Nisur. Yaftaliev trägt ein graues Hemd mit Pullunder, dazu Jeans.

 

Die Wände des Klassenraumes hat er mit bunten Bannern geschmückt, die in großen Buchstaben und mit vielen Bildern die Quellen für erneuerbare Energien erklären: Wind, Wasser, Sonne. Nach einem Geschichtsstudium arbeitete Yaftaliev als Lehrer in der Dorfschule, die er selbst als Kind besucht hat. Er engagierte er sich in vielen Umweltbildungs-Projekten internationaler Hilfsorganisationen, bis er 2006 die Nichtregierungsorganisation »Ojandazoz – gute Zukunft«, gründete.  Die Schüler tragen schwarz-weiße Schuluniformen, sie sitzen brav an ihren Tischen und lauschen Yaftalievs Vortrag. Er spricht nicht über den Stausee oder die Flutwelle. Es geht ihm um globale Umweltprobleme, den Klimawandel und die Ausbreitung der Wüsten.

 

Und es geht Yaftaliev um Bildung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion vor Anfang der 1990er Jahre hat die 6.000 Bewohner des einsamen Bartang-Tals in eine schwierige Situation gebracht. Aufgrund des Bürgerkrieges, der in Tadschikistan jeden Neuanfang verhinderte, erlahmte die ohnehin schwache Infrastruktur in den Tälern des Pamirs. Es gab keine Materialien, um nach harten Wintern Straßen und Häuser zu reparieren, und so wurden die Dörfer wieder sich selbst überlassen. Das abrupte Ende der sowjetischen Kohlezulieferung zwang die Menschen im Pamir, ihre Wälder zu roden.

 

Heute spüren sie die Folgen: Wo früher Obstbäume standen, sind heute kahle Flächen, deren einst kostbarer Boden vom Regen die Hänge hinuntergespült wird. Desertifikation und Landerosion machen viele Regionen unbewohnbar, die Bewohner fliehen nach Chorugh, der zentral gelegenen Hauptstadt der Pamir-Region. Vor allem die Jugend zieht weg. Am Ende des Vortrags erklärt Roziq Yaftaliev den Schülern, er kenne die Lösung für all diese Probleme.

 

Er hat etwas vorbereitet, eine Pointe, und er führt sie mit verbundenen Augen einzeln vor einen Spiegel. Als die Kinder die Augen öffnen, grinsen sie, als sie verstehen, dass sie selbst gemeint sind. Dass sie es sind, von denen die Lösung für die Probleme der Zukunft in Nisur abhängt. Und Roziq Yaftaliev freut sich mit ihnen. »Wandel«, sagt er dann ernst, »kann man nur durch Bildung erreichen. Ich möchte die Jugend bilden, damit sie nach der Schule Gutes für unser Dorf tut«.

 

»Uns wurde schon so oft Hilfe versprochen. Passiert ist nichts«

 

Bis heute sind die entlegeneren Dörfer des Bartang-Tals nicht an das Stromnetz angeschlossen, während es in den meisten anderen ländlichen Räumen Tadschikistans zumindest morgens und abends ein paar Stunden Strom gibt. In Yaftalievs Wohnzimmer läuft der Fernseher mithilfe einer Solarzelle. Auch auf dem Schuldach ist eine Solarzelle installiert, die zwei Computer mit Elektrizität versorgt. Kühlschränke oder Internet gibt es nicht, hier, wo sich die Menschen größtenteils selbst versorgen. Im Sommer spielt sich das Leben vorwiegend draußen ab, wo die Felder bestellt und Tiere versorgt werden müssen.

 

In den Höfen stehen Lastesel und Kühe. Es gibt keinen Einkaufsladen, auch keinen Kindergarten. Roziq Yaftaliev hat eine Vision für Nisur. Für sein Dorf. Wenn er beginnt, davon zu erzählen, fangen seine Augen an zu glänzen. Die Installation der beiden Solarzellen in Nisur hat er in die Wege geleitet. Ebenso die Wärmedämmung eines Krankenhauses in einem Nachbardorf und die Konstruktion mehrerer Solargewächshäuser. Geld und Unterstützung für seine Aktivitäten bekommt Yaftaliev von einer Partnerorganisation in der Hauptstadt Duschanbe.

 

Er weiß, wo die Gelder richtig angelegt sind, denn er kennt die Menschen der umliegenden Dörfer gut. Um einen Anschluss an das Stromnetz zu erhalten, das von einem Wasserkraftwerk in der Hauptstadt der Region, Chorugh, gespeist wird, hat Roziq mit fünf Lehrern der anderen entlegenen Dörfer 2011 ein Energiekomittee gegründet. In einem Schreiben an Präsident Rahmon baten sie um staatliche Unterstützung. Es gab keinerlei Reaktion. Von der tadschikischen Regierung erhoffen sie sich nichts. Auch zu mehreren internationalen Organisation hat Yaftalievs Energiekomitee Kontakt.

 

Doch auch von ihnen kommt keine Hilfe. Also müssen sie ihre Zukunft in Nisur selbst in die Hand nehmen. Die Männer wollen ihre Tiere verkaufen, um Holz, Werkzeuge und Kabel einzukaufen. Sie wollen selbst anpacken, um entlang der wenigen fehlenden Kilometer Strommasten aufzubauen. Auch wenn die Gefahr groß ist, dass ein Erdrutsch während der nächsten Schneeschmelze alle Masten umknicken könnte. »Viele Organisationen kommen, um sich unsere Situation anzuschauen. Darunter auch die Hilfsorganisation UNDP der Vereinten Nationen. Uns wurde schon so oft Hilfe versprochen. Passiert ist nichts«, erzählt der Schuldirektor von Nisur enttäuscht. Die Kronen aus Gold auf seinen Vorderzähnen blitzen auf.

 

Ein Siebtel der tadschikischen Bevölkerung arbeitet unterbezahlt in Russland

 

Den langen und kalten Winter hindurch heizen und kochen die Menschen in Nisur mit Teresken, einem trockenen Gebüsch, das so stark abgeholzt wurde, dass es in Siedlungsnähe nicht mehr nachwächst. »Unsere Frauen laufen jeden Tag 30 Kilometer, um Teresken zu sammeln«, berichtet ein Lehrer aus dem nahe gelegenen Yapshorv, der gerade bei Yaftaliev zu Besuch ist. Auch er arbeitet in dem Energiekomittee. »Auf einen Monat gerechnet sind das 900 Kilometer, so weit liegt unsere Hauptstadt Duschanbe von hier entfernt.«

 

Dabei waren die wenigsten der Frauen jemals in der Hauptstadt Tadschikistans – wo das Leben ein ganz anderes ist, wo es den ganzen Tag lang Strom gibt, regen Verkehr auf sechsspurigen Straßen und Kantinen, wo Büroangestellte zu Mittag essen. Für die Jugend in Nisur gibt es keine Büros und keine Kantinen. Die Jungs hauen ab aus dem Dorf, gehen nach Russland, wo ein Siebtel der tadschikischen Bevölkerung meistens auf Baustellen harte und schlecht bezahlte Arbeit verrichtet. Wer das Glück hat, einen Studienplatz zu ergattern, kann später versuchen, nach Europa oder in die USA auszuwandern.

 

Die meisten Mädchen heiraten früh und leben von dem Geld, das ihre Männer aus dem Ausland schicken. Doch Roziq Yaftaliev gibt die Hoffnung nicht auf. Als Mittelsmann der Pamirregion für die Partnerorganisation von »Gute Zukunft« fährt er oft die Strecke in die Hauptstadt Duschanbe. Zwei Tage verbringt er diesmal mit jungen Erwachsenen aus ganz Zentralasien im Konferenzraum eines Hotels. Die Vorhänge sind zugezogen, sie verdecken die Sicht auf das mehrstöckige Einkaufszentrum gegenüber. Eine Klimaanlage heizt den Raum.

 

Yaftaliev sitzt mit seiner Aktentasche auf dem Schoß. Er genießt die Gespräche mit Aktivisten aus anderen Ländern Zentralasiens, freut sich auf die Diskussionen und darüber, wie alle für eine Zukunft in ihrer Heimat kämpfen. »Euer Engagement gibt uns im Pamir Kraft und Hoffnung«, sagt er den jungen Teilnehmern bei der Abschlussparty der Konferenz in einer spontanen Rede. Das Wachstum, die Arbeit, die breiten Straßen – all das gefällt Roziq an der tadschikischen Hauptstadt. Doch nach Duschanbe ziehen möchte er nicht. Nisur, sagt er, sei seine Heimat. Klar, die Probleme seien enorm. Aber er könne nicht einfach aufgeben.

 

Ohne den Gletscher wird das Leben im Bartang-Tal für nachfolgende Generationen völlig unmöglich

 

Es gibt hier im Nirgendwo, im Osten Tadschikistans, den riesigen Sares-See, es gibt den Usoi-Staudamm, der noch immer die Wassermassen hält. Es gibt die Menschen aus Nisur, und es gibt Roziq Yaftaliev und seine Helfer. Sie werben um Geld für ihr Dorf, mit dem sie sich ein besseres Leben aufbauen wollen. Einiges haben sie erreicht. Sie wappnen sich gegen die Gefahren der Natur und die drohende Armut, sie wollen Strom, sie wollen fließendes Wasser. Aber es gibt auch etwas, gegen das die Menschen hier machtlos sind: der Klimawandel.

 

Er bringt den Fedchenko-Gletscher und seine Brüder, deren Ausläufer man von Nisur aus sehen kann, zum Schmelzen. In den nächsten Jahren bedeutet dies zunächst noch mehr Wasser, auch im Sares-See. Das Risiko, dass der Damm bricht, steigt stetig. Doch dann, wenn der Gletscher geschmolzen ist, versiegen die kleinen Bäche im Bartang-Tal. Es gibt kaum genaue Berechnungen, aber schon in 80 Jahren könnte es soweit sein. Sobald der Gletscher weg ist, wird das ohnehin schon schwierige Leben im Bartang-Tal wird für nachfolgende Generationen völlig unmöglich sein.

 

Denn den Menschen fehlt das Wasser für Ackerbau und Viehzucht. »Wasser ist Leben« wird Emomali Rahmon immer wieder entlang der Straßen in großen Buchstaben zitiert. Der Präsident Tadschikistans propagiert damit den Bau des kritisierten Riesenstaudamms Rogun im geografischen Zentrum des Landes. Mehr als 300 Meter soll er hoch sein, ein Kraftwerk an der Talsperre soll schon bald Tadschikistans Stromversorgung sicherstellen. Wasser ist Leben. Für die Menschen in Nisur ist das nur die halbe Wahrheit. Für sie kann Wasser Leben und Tod bedeuten.

Von: 
Leonie Sontheimer

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