Nach militärischen Siegen über die Dschihadisten machen sich kurdische Gruppen in Syrien daran, eine autonome Provinz à la Nordirak zu schaffen. Der vermeintlich größte Gegner ihrer Pläne könnte dabei zum entscheidenden Unterstützer werden.
Im blutigen Szenario des syrischen Bürgerkrieges hat sich womöglich ein Präzedenzfall ereignet. Der Vorsitzende der größten kurdischen Bewegung in Syrien, Saleh Muslim von der PYD (»Demokratische Unionspartei«), kündigte die Bildung von unabhängigen Gremien zur Selbstverwaltung der Landesteile unter kurdischer Kontrolle an. In den vergangenen Wochen lieferte sich der bewaffnete der Arm der PYD, die »Volksverteidigungskomitees« der YPG, vermehrt Gefechte mit den dschihadistischen Milizen der Al-Nusra-Front und der Al-Qaida-nahen Gruppe »Islamischer Staat in Syrien und Irak«.
Mitte Juli gelang es der YPG, die Dschihadisten aus der Grenzstadt Ras-al-Ain und einer Reihe umliegender Dörfer zu vertreiben. Die Kämpfe in der nördlichen Grenzregion nahe der Türkei sind seitdem aber immer wieder aufgeflammt und weiten sich immer weiter Richtung Westen aus. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges versuchten die unter Assad systematisch diskriminierten Kurden den schwierigen Balanceakt, sich weder auf die Seite des Regimes, noch auf die Seite der Rebellen zu stellen.
Doch mit der zunehmenden Kontrolle von Gruppen wie der Nusra-Front über die nördlichen Landesteile mit teils kurdischen Bevölkerungsmehrheiten häuften sich auch die Übergriffe der Islamisten. Mitte Juli griffen Dschihadisten in der ethnisch gemischten Grenzstadt Ras-al-Ain eine Patrouille weiblicher YPG-Kämpferinnen an und nahmen eine der Frauen als Geisel. Daraufhin begannen kurdische Milizen eine Offensive, bei der es ihnen gelang, die Kämpferin zu befreien und die Islamisten aus Ras-Al-Ain zu vertreiben.
Im Verlauf der Kämpfe nahmen kurdische Einheiten einen ranghohen Anführer der Gruppe »Islamischer Staat in Syrien und Irak« als Geisel. Die Dschihadisten reagierten wiederum mit der Geiselnahme von ungefähr 200 kurdischen Zivilisten in den Dörfern Tall Aren und Tall Hassel in der Aleppo-Provinz und drohten mit deren Hinrichtung, sollte ihr Anführer nicht freigelassen werden.
Nachdem kurz darauf in der Grenzstadt Qamishli der moderate kurdische Politiker und langjährige Gegner des Regimes Isa Huso durch eine Autobombe getötet wurde, rief die größte kurdische Miliz YPG zu einer breiten Mobilisierung gegen die islamistischen Gruppen auf: »Jeder, der in der Lage ist, eine Waffe zu tragen, ist aufgefordert, sich den Volksverteidigungskomitees anzuschließen.« Nach den ersten militärischen Erfolgen der YPG-Chef kündete Muslim schließlich an, die Landesteile unter kurdischer Kontrolle unter Selbstverwaltung zu stellen und eine Verfassung auszuarbeiten.
Armee und Premier bekräftigen Ankaras offizielle Position
Vor allem in der Provinz Hasakkah im Nordosten des Landes sind die Schritte zur Verwirklichung dieses Zieles bereits seit geraumer Zeit in Gange. Über vielen Gebäuden wehen kurdische Fahnen, an den Autos sind kurdische Nummernschilder montiert und neu gebildete kurdische Polizeieinheiten patrouillieren auf den Straßen. Die kurdische Sprache, deren Vermittlung unter Baschar-al-Assad verboten war, wird mittlerweile an Schulen unterrichtet. Diese Schritte in Richtung kurdischer Autonomie werden nicht nur innerhalb Syriens, sondern vor allem auch in Ankara als Warnsignal wahrgenommen.
In einer Krisensitzung nach der kurdischen Eroberung von Ras-al-Ain an der türkischen Grenze erklärte der türkische Premier Erdogan, ein kurdisches Autonomiegebiet innerhalb Syriens werde von der Türkei auf keinen Fall geduldet werden. Vertreter des nationalistischen Lagers, wie Devlet Bahceli von der ultranationalistischen Partei MHP, forderten gar einen Einmarsch türkischer Truppen. Auch die Armee selbst meldete sich zu Wort.
Nachdem bei Gefechten zwischen Kurden und Islamisten in Ras-al-Ain Geschosse auf türkischer Seite einschlugen, ließ sie verlauten, die türkische Armee hätte das Feuer auf die »separatistischen Terroristen« der kurdischen PYD erwidert. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Türkei neben diesen Drohgebärden auch eine Realpolitik verfolgt, die völlig andere Züge trägt. Die libanesische Zeitung Daily Star zitiert einen hochrangigen Regierungsbeamten mit den Worten: »Wir haben keine Probleme mit den Ambitionen der Kurden in Syrien. Wir werden jedoch nicht akzeptieren, wenn einzelne Gruppen versuchen, diese Situation opportunistisch zu nutzen und ihren Willen mit Gewalt umzusetzen«.
Eine autonome Kurdenprovinz am türkischen Tropf?
Zwischen der türkischen Regierung und den Kurdenvertretern in Syrien bestehen durchaus Kommunikationskanäle. Nach der Eroberung von Ras-al-Ain wurde Saleh Muslim nach Istanbul zu Gesprächen mit Beamten des türkischen Außenministeriums und des Geheimdienstes eingeladen. Nach der Rückkehr äußerte er sich positiv über den Austausch mit den türkischen Regierungsbeamten: »Die Türkei hat ihre Haltung gegenüber der PYD geändert. Allein der Fakt, dass ich nach Istanbul eingeladen wurde, zeugt davon.«
Darüberhinaus äußerte er sich zuversichtlich, dass die Türkei humanitäre Hilfe für die kurdischen Regionen in Nordsyrien zur Verfügung stellen würde. Mehrere Grenzübergange zwischen Syrien und der Türkei waren in den vergangenen Monaten von türkischer Seite geschlossen worden. Die Türkei verfügt in ihrer Politik gegenüber den Kurden zudem nicht nur über das Drohpotential ihrer Militärmacht, sondern auch über die Lockmittel ihrer wirtschaftlichen Stärke. Der Präzedenzfall eines Quasi-Kurdenstaates – der Nordirak mit seinen 4 Millionen Einwohnern – stellt vor allem eines unter Beweis: Mit der faktischen Unabhängigkeit von Bagdad ist die Abhängigkeit von Ankara gewachsen.
Die Türkei ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner von Erbil. Die Ausfuhr des nordirakischen Öls, welches einen im Irak beispiellosen Bauboom ermöglicht hat, läuft fast ausschließlich über die Türkei. Im Gegenzug ergatterten türkische Firmen lukrative Aufträge beim Aufbau der Infrastruktur und beim Ausbau der Boomstädte Erbil und Sulaimanie. Fast alle Importwaren im industriearmen Nordirak stammen aus der Türkei. Gut möglich also, dass die türkische Außenpolitik in Nordsyrien eine ähnliche Strategie verfolgt: Kurdische Autonomiegebiete zu dulden, die ohne die Türkei nicht lebensfähig sind.
So könnten die kurdischen Autonomieversuche innerhalb Syriens für weitaus größere Verwerfungen sorgen. Die Kurden werden von Regime-Loyalisten wie Rebellen beschuldigt, im eigenen Interesse der Aufspaltung Syriens Tür und Tor geöffnet zu haben. Dies könnte den Graben zwischen Kurden und Arabern vertiefen und damit eine weitere Konfliktlinie im syrischen Bürgerkrieg aufbrechen lassen, vermutet Rami Abdel Rahman vom »Syrian Observatory for Human Rights«. »Obwohl die Kämpfe zwischen kurdischen und dschihadistischen Milizen geführt werden, könnte auch der Graben zwischen Kurden und Arabern in den betroffenen Gebieten vertieft werden.«
Misstrauen zwischen den Milizen, Misstrauen in der Bevölkerung
Ressentiments und Misstrauen existieren auf beiden Seiten. Für die Dschihadisten unter den Rebellen stellen die Kurden ein Feindbild dar, weil die Mehrheit einen moderaten Islam praktiziert. Viele kurdische Einheiten sind neben dem kurdischen Nationalismus auch von sozialistischem und linkem Gedankengut beeinflusst. So sind weibliche Kämpferinnen in den kurdischen Einheiten keine Seltenheit. Die Visionen von Islamisten und Kurden – ein islamischer Staat in ganz Syrien versus eine autonome kurdische Provinz innerhalb Syriens – stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Doch die dschihadistischen Milizen konkurrieren mit den Kurden nicht nur um Visionen eines zukünftigen Staates. Es geht vor allem auch um die handfeste Kontrolle von Einflusssphären und Ressourcen, schließlich kommt der Großteil des syrischen Erdöls aus der nordöstlichen Provinz Hasakkah. Auch zwischen Kurden und den säkularen und moderat islamistischen Gruppen innerhalb der FSA scheint es mittlerweile einen enormen Vertrauensverlust gegeben zu haben. Gegen Anfang des Krieges hatten Einheiten der Kurden noch sporadisch mit der FSA gegen Truppen des Regimes gekämpft.
Doch mittlerweile wirft die YPG der FSA und dem oppositionellen Nationalrat vor, keine klare Position gegen die Übergriffe der dschihadistischen Einheiten auf Kurden bezogen zu haben. »Es ist offensichtlich, dass sich FSA-Einheiten mit dschihadistischen Gruppen koordiniert haben. Sie haben sich zu einer Front zusammengeschlossen, um das kurdische Volk anzugreifen«, ließ die YPG in einer Erklärung verlauten. Säkulare und moderat islamistische Einheiten der FSA werfen den Kurden wiederum vor, sich taktierend und opportunistisch zu verhalten und keine eindeutige Position gegen das Regime zu beziehen.