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Konfliktherd Dagestan im Kaukasus

Neue Fronten in Moskaus Dauerkonflikt

Analyse

Nach dem brüchigen Frieden in Tschetschenien ist Dagestan zum Hauptkonfliktherd im Nordkaukasus avanciert. Moskau fürchtet das Erstarken und Ausgreifen der Islamisten – bleibt aber eine Strategie zur Befriedung der Region schuldig.

Die Südgrenze der Russischen Föderation kommt nicht zur Ruhe. Während in den 1990er Jahren Tschetschenien als Synonym für ebenso blutige wie unübersichtliche Auseinandersetzungen zwischen russischer Armee und lokalen Aufständischen galt, stellt inzwischen Dagestan das Zentrum der Gewalt im Nordkaukasus dar. Allerdings tobt dort kein »großer« Krieg – wie ehedem im benachbarten Tschetschenien – sondern vielmehr eine stetig schwelende Auseinandersetzung auf lokal begrenztem Niveau.

 

Seit Beginn dieses Jahres haben dabei rund 300 Menschen ihr Leben verloren. Den lokalen und föderalen Sicherheitskräften steht eine kleine aber gewaltbereite und gut vernetzte Aufstandsbewegung entgegen. Ihre Entstehung ist eng mit den Kriegen im benachbarten Tschetschenien verbunden. Motiviert werden Kämpfer und Unterstützer zum einen durch den Unmut über Korruption und Polizeiwillkür, zum anderen durch religiöse Überzeugungen.

 

Immer wieder beschwören die Aufständischen, dass religiöse Selbstbestimmung sowie die Einführung der Scharia ihre eigentlichen Ziele seien. Die religiöse Komponente macht die nordkaukasische Aufstandsbewegung auch in anderen Landesteilen mit hohem islamischem Bevölkerungsanteil anschlussfähig. In Moskau macht man sich inzwischen berechtigte Sorgen, dass die Kämpfe auch in andere Republiken wie das ölreiche Tatarstan überschwappen könnten.

 

Von einer geeinten islamischen Front ist jedoch kaum zu sprechen. Das auch in der Russischen Föderation zu beobachtende Konkurrenzverhältnis zwischen Sufis und Salafisten ist Teil des Konflikts – und verschärft diesen sogar.

 

Seit den 1830er Jahren organisierten Imame den Widerstand der »Bergvölker«

 

Historisch gesehen ist die Verquickung des Widerstandes gegen die russische Imperialmacht mit dem islamischen Glauben im Kaukasus allerdings nichts Neues. Sie reicht bis in das 18. Jahrhundert zurück, als zaristische Truppen – die Schwächung des Osmanischen Reiches ausnutzend – nach Süden vorzudringen begannen. Im Nordkaukasus trafen sie auf den Widerstand diverser Kleinfürstentümer (Khanate).

 

Im Jahr 1785 wurde durch einen tschetschenischen Schafhirten erstmals ein »Heiliger Krieg« gegen die Großmacht ausgerufen. Seit den 1830er Jahren organisierten Imame den Widerstand auf den Gebieten Tschetscheniens und Dagestans. Legendäre Berühmtheit erreichte der dritte Imam, Schamil. Dieser errichtete im Nordkaukasus ein Imamat, musste 1859 allerdings gegen die russische Übermacht kapitulieren.

 

Verteufelt wurden Schamil und seine Mannen im damaligen Russland aber nicht. Die Autoren des »Goldenen Zeitalters« der russischen Literatur, allen voran Puschkin und Lermontov, romantisierten den Krieg im Kaukasus und seine heldenhaften Bewohner. Auch Lew Tolstoi nahm als junger Offizier am kaukasischen Kriegszug teil. Er nutzte seine Erfahrungen als Grundlage für das 1912 aus dem Nachlass publizierte Werk »Hadschi Murat«.

 

Darin kontrastierte er zum einen die scheinbar einfache aber ehrliche Lebensweise der Bergbewohner mit der Korruption und Verderbtheit im Arkanum des Zarenhofes. Zum anderen zeigte er auf, wie der Einzelne im Nordkaukasus sich fast zwangsweise in ein Netz von Konflikten zwischen russischer Imperialmacht und lokalem Unabhängigkeitsstreben, religiösen und kulturellen Konflikten, Clan-Fehden sowie persönlichen Feindschaften verstrickt, aus dem es kein einfaches Entkommen gibt.

 

Obwohl sich Schamil nach seiner Niederlage in einer luxuriösen (vom Zaren zur Verfügung gestellten) Moskauer Villa zur Ruhe setzte und die russischen Befehlshaber Khanate und Imamat auflösten, kam es in der Folgezeit immer wieder zu Aufständen. Fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches wurde dann im Jahr 1918 ein »Imamat der Bergvölker« sowie 1919 ein »Nordkaukasisches Emirat« proklamiert.

 

Obwohl die neuen Machthaber mit der Einrichtung einer gemeinsamen »Sowjetrepublik der Bergvölker« dem Unabhängigkeitswillen Rechnung zu tragen versuchten, kam es zu heftigen Widerständen gegen die Sowjetisierung. Erst Stalin vermochte diese mit drakonischen Maßnahmen und Umsiedlungen zu brechen.

 

Innerislamischer Konflikt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion

 

Nach der Auflösung der Sowjetunion begann das Spiel von vorne. Die von Stalin angesiedelten russischen Bevölkerungsteile zogen mehrheitlich wieder aus dem Kaukasus fort. In den Teilrepubliken des Nord- wie Südkaukasus regte sich der Unabhängigkeitswille. Während Armenien, Georgien und Aserbaidschan die Unabhängigkeit erlangten, blieb diese den nordkaukasischen Teilrepubliken weiterhin verwehrt.

 

In Dagestan stellte dies kein großes Problem dar, da sich in dem multi-ethnischen Gebiet keine dominante Volksgruppe fand, die Anspruch auf Führerschaft und ein eigenes Territorium erhob. Zudem regte sich dort bereits im 19. Jahrhundert geringerer Widerstand gegen die russischen Machtansprüche als auf dem Gebiet des benachbarten Tschetschenien.

 

Dessen Unabhängigkeitserklärung führte 1994 zum Ersten Tschetschenien-Krieg, der zwei Jahre später durch einen Waffenstillstand beendet wurde. Bereits damals wurde das Konkurrenzverhältnis zwischen Sufis und Salafisten zu einem Politikum. Der (sufische) Imam Tschetscheniens, Achmat Kadyrow, rief zwar zum Heiligen Krieg gegen die russischen Truppen auf, verurteilte jedoch gleichzeitig die Hinwendung des berüchtigten Feldkommandeurs Schamil Bassajew zum Salafismus.

 

Für Bassajew hatte die religiöse Neuorientierung auch einen ganz praktischen Vorteil, da sie ihm die Allianz mit einer Brigade internationaler Mudschahhedin erleichterte. Das Auftreten des innerislamischen Konfliktes zwischen Sufis und Salafisten war im postsowjetischen Raum ein Novum. Zu Sowjetzeiten waren religiöse Institutionen bestenfalls geduldet worden, so dass die Bevölkerung ihre tradierten, lokalen religiösen Praktiken weiter pflegte.

 

In den meisten Fällen handelt(e) es sich um Mischformen christlicher und/oder islamischer Religion mit animistischen Kulten. Im Nordkaukasus, wo der Islam bereits im 9. Jahrhundert Fuß gefasst hatte, basierte die Glaubenspraxis auf dem »pragmatisch-mystischen« Sufismus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bemühte sich an den Südhängen des Kaukasus die georgisch-orthodoxe Kirche wieder um Einfluss.

 

An den Nordhängen hingegen trat der »buchgetreue« Salafismus als Konkurrenz zum tradierten Sufismus auf. Der religiöse Gegensatz wurde im Rahmen von Macht- und Verteilungskämpfen politisiert und verstärkt. In Dagestan waren die von Moskau anerkannten Autoritäten überwiegend Anhänger des Sufismus und mit dessen Geistlichkeit verbunden. Beide Parteien waren sich in der Ablehnung des Salafismus einig.

 

In Dagestan wurde der »Wahhabismus« 1999 gesetzlich verboten

 

Dass dieser dennoch Zulauf erhielt, lag zum einen an der Anwerbetätigkeit seiner Geistlichen. Diese hatten nicht selten im (arabischen) Ausland Koranstudien betrieben und waren nun zurückgekehrt, um die lokale Bevölkerung von ihrer tradierten Glaubenspraxis zu »reineren« Formen des Glaubens zu bekehren. Zum anderen bot ihre zur Schau getragene Rechtschaffenheit ein Gegengewicht zu den korrupten, sufisch geprägten Netzwerken der Obrigkeit.

 

Diese schöpften Millionen Rubel aus den Moskauer Zuwendungen ab, ohne sich für eine spürbare Besserung der Situation im Land einzusetzen. Die tschetschenischen Rebellen sahen hier ein vielversprechendes Potential für eine Ausdehnung ihres Einflussgebietes. Sie nahmen Verbindungen zu islamistischen Reformern in Dagestan auf, welche die Einrichtung der Shariah notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen trachteten.

 

Im Jahr 1999 probten die Verbündeten dann den Aufstand in Dagestan, wurden jedoch von russischen Truppen unter starken Verlusten über sie tschetschenische Grenze zurückgetrieben. Der Zwischenfall machte deutlich, wie brisant die Verbindung von Unabhängigkeitskampf und Glaubenskrieg für die Region war. Umgehend erklärte Präsident Boris Jelzin den Nordkaukasus zu einer »Zone antiterroristischer Aktivitäten«.

 

In Tschetschenien marschierte erneut die russische Armee ein, um die Autonomiebewegung endgültig zu brechen. Unter den Präsidenten Jelzin und Putin wurde auch der Zweite Tschetschenien-Krieg in den Jahren 1999/2000 mit unerbittlicher Härte geführt. Um das Gebiet anschließend unter Kontrolle zu halten, setzte Moskau mit Achmat Kadyrow jenen Imam zum Statthalter ein, der 1994 noch zum Dschihad aufgerufen, nun aber aufgrund interner Machtkämpfe die Seiten gewechselt hatte.

 

Um den in Dagestan entstandenen religiösen Konflikt zu entschärfen, wurde der Salafismus dort im Jahr 1999 als »Wahhabismus« gesetzlich verboten. Anstatt zu einer Bekämpfung des religiösen Extremismus beizutragen, erreichte das Verbot jedoch das genaue Gegenteil. Es setzte eine Spirale der Gewalt in Gang, die bis heute anhält. Mit der »Shariat Jamaat« gründete sich nun tatsächlich eine organisierte und gewalttägige islamistische Untergrundbewegung, die zunehmend Zulauf erhielt.

 

Denn mit dem Verbot des Salafismus wurden dessen – meist jüngere – Anhänger kriminalisiert. Sie sahen sich der Beobachtung und Verfolgung durch lokale und föderale Sicherheitskräfte ausgesetzt.

 

Das Zentrum der Aufstandsbewegung hat sich seit 2004 nach Dagestan verlagert

 

Diese wurden aus anderen Gebieten der Russischen Föderation entsandt, kaum in das lokale Leben eingebunden und konnten bei einer hohen (durch Verhaftungen oder Tötungen nachgewiesenen) Erfolgsquote auf Beförderung und die Versetzung in andere, ruhigere Gebiete des Landes hoffen. Angesichts der desaströsen Verhältnisse und Repressionen in Dagestan war es für die Bevölkerung durchaus verständlich, wenn einige der perspektivlosen jungen Männer »in den Wald gingen«, um sich den Kämpfern von »Shariat Jamaat« anzuschließen.

 

Die übergreifende Kameradschaft der »Waldbrüder« bot zudem einen Gegensatz zu den komplexen familiären und ethnischen Verhältnissen der Region. Dieses Gemeinschaftsgefühl bemühten sich auch die tschetschenischen Rebellen auszunutzen. Sie befleißigten sich erfolgreich einer streng religiösen Rhetorik, um die Zusammenarbeit mit den dagestanischen Glaubenskriegern weiter zu verstärken.

 

Der Unabhängigkeitskampf Schamils im 19. Jahrhundert bot dabei einen gemeinsamen Bezugspunkt. Die von ihm stets wiederholte Formel des Kampfes allein für die Einführung der Scharia wurde von den vereinten tschetschenisch-dagestanischen Rebellen übernommen. Als kleinster gemeinsamer Nenner diente sie zur Überbrückung etwaiger religiöser oder ethnischer Differenzen sowie der Einigung verschiedener Generationen von Kämpfern. 

 

Im Jahr 2005 erklärten die Aufständischen eine gemeinsame »Kaukasische Front« im Kampf für Selbstverwaltung und Scharia, in der sich verschiedene Kampfgruppen wie die »Shariat Jamaat« zusammenfanden. Zwei Jahre später kam es dann zu einem offiziellen Bündnis mit dem erklärten Ziel, ein nordkaukasisches Emirat einzurichten. Das Zentrum der Aufstandsbewegung verlagerte sich in diesen Jahren nach Dagestan – begründet vor allem in der zunehmenden Verfolgung in Tschetschenien.

 

Dort hatte im Jahr 2004 Ramzan Kadyrow die Macht von seinem getöteten Vater Achmat übernommen. Auch er erwies sich als treuer und effizienter Verbündeter Präsident Putins, der mit seiner gefürchteten Privatarmee für eine gewisse Stabilität in Tschetschenien sorgte. Aus Moskauer Sicht stellte nun Dagestan den gefährlichsten Unruheherd im Süden der Föderation dar. Neben Geld schickte der Kreml vor allem Truppen in das zerrüttete Gebiet.

 

Eine großangelegte Offensive, wie etwa in Tschetschenien, kam dabei für Dagestan nicht in Frage. Nach russischer Schätzung sind dort bis zu 500 Aufständische in mindestens 12 Kleingruppen unterwegs. Zu ihrer Bekämpfung werden ungefähr 5.000 Spezialkräfte eingesetzt, die neben Patrouillen jedes Jahr mehrere kleinere Operationen durchführen.

 

Die »Waldbrüder« lehnen jedweden Dialog ab

 

Als ein weiteres Mittel zur Bekämpfung der Aufständischen hat der dagestanische Präsident Magomedsalam Magomedow in diesem Jahr die Einrichtung bewaffneter »Selbstschutzeinheiten«  vorgeschlagen. Ob eine solche Maßnahme die Aufständischen in ihrer Bewegungsfreiheit hindern kann, erscheint aber zweifelhaft. Bereits im Jahr 1999 hatte man der Bevölkerung die Bewaffnung gestattet, um die aus Tschetschenien eindringenden Rebellen besser bekämpfen zu können.

 

Diese Waffen gingen später teilweise in das Arsenal der vereinten tschetschenisch-dagestanischen Guerillatruppen über. Auch das Amnestieangebot für Rückkehrer aus dem Wald stößt bisher auf  keine allzu große Resonanz. Rückkehrwillige werden von den Dschihadisten als »Verräter« verfolgt, der Weg zurück führt an den ebenfalls nicht zimperlichen Patrouillen der föderalen Sicherheitskräfte vorbei.

 

Und in den Dörfern wartet dieselbe Misere, welcher die jungen Männer dereinst entkommen wollten. Hoffnungen wurden hingegen auf den Dialog zwischen den »offiziellen« Vertretern des Sufismus und des Salafismus in Dagestan gelegt. Während der Präsidentschaft Dmitrij Medwedews wurde dieser auch von Seiten Moskaus unterstützt.

 

Auf Seiten der Sufis führte Scheich Chirkeisky den Dialog, auf Seiten der Salafisten stellte die Organisation »Ahlu-Sunna« den Gesprächspartner, in der sich Rechtsanwälte mit Ärzten, Korangelehrten und anderen Honoratioren zusammenfanden. Die »Waldbrüder« nahmen an diesen Gesprächen allerdings nicht teil. Sie lehnten jedweden Dialog ab. Scheich Chirkeisky erkannten sie auch deshalb nicht als Autorität an, da dieser dereinst öffentlich für Präsident Putin gebetet hatte.

 

Nach dessen erneuten Amtsantritt wurde der militärische Druck in Dagestan wieder erhöht, was eine Fortsetzung des Dialoges erschwerte. Den Dschihadisten waren die Gespräche ohnehin ein Dorn im Auge, im August dieses Jahres fiel Chirkeisky dann einem von ihnen verübten Anschlag zum Oper. Die Befürchtung, dass dieses Attentat weitere Anschläge nach sich ziehen würde, war durchaus berechtigt.

 

Allein in diesem Jahr sind sechs dagestanische Imame – Sufis wie Salafisten – durch Attentate ums Leben gekommen. In Moskau beobachtet man diese Entwicklung mit Sorge, als noch größere Gefahr sieht man aber eine Ausweitung des religiös inspirierten Guerilla-Kampfes auch auf andere Gebiete. Diese Furcht ist durchaus begründet, denn bereits einen Monat vor dem Anschlag auf Chirkeisky kam es in der weiter nördlich, an der Wolga gelegenen Teilrepublik Tatarstan zu Attentaten auf den Mufti der Republik und dessen Stellvertreter.

 

Die nordkaukasischen Dschihadisten werben auch in Tatarstan um Anhänger

 

Das ölreiche Tatarstan genießt im Rahmen der Russischen Föderation eine gewisse Autonomie, dennoch werden immer wieder Forderungen nach Unabhängigkeit laut. Gut die Hälfte der vier Millionen Einwohner sind Sunniten, der Salafismus gewinnt jedoch auch dort Anhänger. Das macht das Gebiet auch für die nordkaukasischen Rebellen interessant.

 

Bereits im Jahr 2006 hatten diese die Einrichtung einer »Ural- und einer Wolga-Front« erklärt. Um dieser Entwicklung zu begegnen, bemühte sich der seit 2011 amtierende Mufti um die Eindämmung des radikalen Salafismus, indem er religiöse Schriften aus Saudi-Arabien verbot und einige Imame ihrer Ämter enthob. Nach seiner Ermordung erließ Tatarstans Regionalregierung dann Gesetze gegen den Salafismus beziehungsweise Wahhabismus – Erinnerungen wurden wach an die ganz ähnlichen Maßnahmen in Dagestan.

 

Sollten nordkaukasische Dschihadisten in Tatarstan erfolgreich um Aktivisten für den Kampf um Unabhängigkeit und Scharia werben, wäre dies für den Frieden der wohlhabenden Teilrepublik fatal. Daher reiste Präsident Putin Ende August nach Tatarstan, um zu Eintracht und Frieden innerhalb der Russischen Föderation als »gemeinsamer Heimat« aufzurufen. Die Antwort der Aufständischen war eine Gewaltwelle, die innerhalb einer Woche 50 Menschen das Leben kostete.

 

Selbst im südlich gelegenen Georgien war sie noch zu spüren. Dort kamen an der Grenze zu Dagestan bei einem Feuergefecht zwischen Sicherheitskräfte und nordkaukasischen Aufständischen mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben. In einem ersten Reflex brandmarkte Georgiens Präsident Saakashvili den Grenzübertritt als eine bewusste Provokation Russlands.

 

Nachdem aber bekannt wurde, dass drei der getöteten Aufständischen Angehörige der tschetschenischen Minderheit in Georgien (und damit georgische Staatsbürger) waren, verstummten Behörden und Politiker. Nicht nur angesichts der bevorstehenden georgischen Parlamentswahlen war das Thema von einer gewissen Brisanz.

 

Tatsächlich hatte Georgien unter Saakashvilis Amtsvorgänger Eduard Schewardnadse mehrfach nordkaukasischen Extremisten Zuflucht geboten, was zu diplomatischen Spannungen zwischen Georgien, Russland und den USA führte. Dazu kam es diesmal aber nicht, da inzwischen alle drei Länder ein gemeinsames Interesse an einer Bekämpfung der Aufständischen haben. Sowohl Russland wie auch die USA sehen diese als Terroristen an. Ihr Anführer Dokku Umarow steht in beiden Ländern auf den Fahndungslisten.

 

Moskaus Muslime stoßen auf Islamophobie und ethnische Ressentiments

 

In Moskau macht man ihn für die Anschläge auf die Moskauer Metro im Jahr 2010 und den Flughafen Demodedowo im Jahr 2011 verantwortlich, in Washington sucht man ihn als Verbündeten von Al-Qaida. Die USA ist auch an einer Eindämmung der nordkaukasischen Konflikte und Stabilisierung des Südkaukasus interessiert, um in der diplomatischen Auseinandersetzung mit dem Iran freiere Hand zu haben.

 

In Georgien hingegen möchte man nicht in den Verdacht geraten, von beiden Großmächten verfolgte Aufständische zu beherbergen. Auch ein Überschwappen des Konfliktes auf das eigene Staatsgebiet will man in jedem Fall vermeiden. Das drastische Vorgehen der georgischen Sicherheitskräfte diente daher wohl auch der Abschreckung. Die Gewaltwelle machte deutlich, welches Gefahrenpotential eine Verquickung von Unabhängigkeitsbestrebungen mit religiösen, innerislamischen Konkurrenzkämpfen birgt.

 

Immerhin ist ein Siebtel der russischen Bevölkerung islamischen Glaubens. Eine Ausdehnung der nordkaukasischen Aufstandsbewegung in andere Gebiete würde den inneren Zusammenhalt der Russischen Föderation weiter schwächen. Bisher setzt Moskau auf eine militärische Verfolgung bewaffneter Kämpfer und die Zusammenarbeit mit etablierten sufischen Netzwerken. Es ist jedoch fraglich, ob sich der Dialog mit Vertretern des Salafismus auf Dauer vermeiden lässt.

 

Noch schreckt die Zentralregierung hiervor zurück. Zu groß ist die Furcht, dass andere Gruppen in dem multi-ethnischen und multi-religiösen Riesenreich dies als Präzedenzfall sehen könnten. Und auch wenn der Präsident in Tatarstan zur Eintracht mahnte, ist es selbst in der Hauptstadt damit nicht weit her. Putin selbst pflegt eine demonstrativ enge Bindung zur russisch-orthodoxen Kirche.

 

Den auf bis zu zwei Millionen geschätzten Muslimen Moskaus stehen hingegen gerade einmal fünf Moscheen zur Verfügung, geplanten Neubauten stellen sich nationalistische Gruppierungen entgegen. Diese verknüpfen Islamophobie mit ethnischen Ressentiments, denn viele der nach Moskau zugewanderten Muslime stammen aus Zentralasien oder dem Nordkaukasus. Nicht selten sehen sie sich in der Hauptstadt mit Vorurteilen und Benachteiligungen konfrontiert.

 

Dies verstärkt ein Gefühl gegenseitiger Entfremdung. Der russische (und gleichzeitig russisch-orthodoxe) Nationalismus als Nachfolgeideologie des Kommunismus kann die Risse in den Mauern des gemeinsamen Hauses nicht wirklich kitten, und vergrößert sie mitunter. Doch eine Alternative ist bisher nicht in Sicht und die Wahrscheinlichkeit neuer Anschläge und Militäraktionen im Nordkaukasus (und anderen Gebieten) auch im nächsten Jahr wächst. Der Gipfel der Gewalt ist wohl noch lange nicht erreicht.

Von: 
Arne Segelke

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