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Interview mit Autorin Anna Kuschnarowa

»Irgendwie mochte ich diesen Kerl«

Interview

In ihrem Jugendroman »Djihad Paradise« erkundet Anna Kuschnarowa die Lebenswege deutscher Konvertiten, die als salafistische Gotteskrieger auf Rachefeldzug gehen – und empfindet durchaus Sympathien für ihren tragischen Protagonisten.

Berlin-Alexanderplatz. Ein junger Mann namens Abdel Jabbar Shahid hat sich vorgenommen, ein Einkaufszentrum in der deutschen Hauptstadt in die Luft zu sprengen. Die »Ungläubigen« im Westen sollen dafür büßen, dass ihre Regierungen den Muslimen den Krieg erklärt haben und »alles, was jemals weiß und rein gewesen ist«, mit Füßen treten. Der Selbstmordattentäter, der wenige Tage vor Weihnachten tausende Menschen und sich selbst töten will, ist indes kein ausländischer Islamist, sondern ein deutscher Konvertit.

 

In Anna Kuschnarowas 2013 erschienenem Roman »Djihad Paradise« erzählt der 20-jährige Berliner, der ursprünglich Julian Engelmann heißt, rückblickend von den letzten drei Jahren seines Lebens. Das geschieht im Wechsel mit seiner ein Jahr jüngeren Freundin Romea Achenbach, die ebenfalls zum Islam konvertiert und Julian heiratet, um ihn nicht zu verlieren. »Djihad Paradise« ist ein bitterer, stellenweise sehr brutaler Jugendroman. Er gewährt einen anschaulichen und überzeugenden Einblick in das Leben zweier junger Menschen, das sie als leer und haltlos empfinden. Auf der Suche nach einem Sinn für ihr Dasein probieren Julian und Romea gemeinsam viel aus, bis sich ihre Wege trennen und Julian alias Abdel Jabbar eines Tages als Gotteskrieger in einem Ausbildungslager für Terroristen in Pakistan landet.

 

zenith: Frau Kuschnarowa, in Ihrem Roman stellen Sie Deutschland als eine durch und durch konsumorientierte Leistungsgesellschaft dar, die Jugendlichen keinen Sinn für ihr Leben vermittelt außer Arbeit und Erfolg. Eine ideale Voraussetzung, um Dschihadist zu werden?

Anna Kuschnarowa: Das ist natürlich eine sehr zugespitzte These. Ich habe das Pferd bei meiner Arbeit andersherum aufgesattelt. Eine Frage beschäftigte mich vor allem: Was treibt junge Leute dazu, die hier aufgewachsen sind und in einer sehr liberalen Gesellschaft leben, eine solch fundamentalistische Form des Islams für sich zu wählen?

 

Die Mutter verlässt die Familie, der Vater ist arbeitslos und trinkt. Julian macht Hip-Hop- und Rap-Musik, nimmt und verkauft Drogen, bricht später wegen Schulden bei anderen ein. Er ist, in ihren Worten, ein »Berliner Abkacker-Loser«, der sich weder um die Schule noch um Menschen in seinem Umfeld bemüht. Wollten Sie einen solch kalten, empathielosen Protagonisten?

Nein, überhaupt nicht. Für mich ist Julian ein ganz verängstigtes Wesen, das einfach das Gefühl hat, den Forderungen dieser Gesellschaft ohnehin nicht gerecht werden zu können. Er geht den Weg des geringsten Widerstandes und neigt auch zu Selbstmitleid. Aber gleichzeitig hat er das Gefühl, dass er ein Verlierer ist. Das ist sicherlich auch psychologisch begründet. Julian wird in relativ frühem Jugendalter von seinem nächsten Umfeld hängen gelassen. Es fehlen ihm in der Familie die entsprechenden positiven Vorbilder.

 

»Viele Jugendliche fühlen sich in einem Konkurrenzkampf mit der gesamten Welt«

 

In der Schule lernt der »pseudocoole Gangsta« Romea kennen und verliebt sich sofort in ihre »schlingpflanzgrünen Augen«. Als Tochter aus wohlhabendem Hause stammt sie zwar aus einer völlig anderen Welt, empfindet ihr Leben jedoch wie Julian als einen Käfig. Es kann also nicht nur am familiären Umfeld liegen, dass beide einen ähnlichen Weg beschreiten.

Natürlich steckt in dem Roman auch eine gehörige Portion Gesellschaftskritik. Es wirkt immer so, als sei unsere Gesellschaft die Gesellschaft aller Möglichkeiten und als hätten wir tatsächlich alle Freiheiten, die man sich nur denken kann. Das ist teilweise korrekt. Teilweise ist diese Freiheit nur eine scheinbare. Unser momentaner Lebensstil bringt so eine Art »spirituelles Loch« mit sich. Vielen Menschen fehlt einfach etwas wie Wertorientierung und sozialer Zusammenhalt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es zu einer immer stärkeren Individualisierung kommt – besonders in den Großstädten. Das ist einerseits positiv für die eigene Entfaltung. Andererseits geht damit das Gemeinschaftsgefühl verloren. Viele Jugendliche, mit denen ich gesprochen habe, fühlen sich schon im Alter von 14 oder 15 Jahren in einem Konkurrenzkampf mit der gesamten Welt. Sie fühlen sich sehr stark unter Druck gesetzt. Viele meinen, dass sie, wenn sie da nicht mithalten können, hinten runter fallen und keine Chance mehr haben.

 

Julian und Romea haben ständig Fluchtfantasien. Eines Tages entscheiden sie, nach Barcelona zu trampen, wo die Polizei Julian wegen Drogenbesitzes festnimmt. Er kommt in Berlin in Haft und lernt dort den Kleinkriminellen Murat, einen Deutsch-Ägypter, kennen. Durch ihn entdeckt Julian allmählich den Salafismus. Hat diese extreme Richtung eine solche Anziehungskraft auf junge Menschen, weil sie Werte und Gemeinschaftsgefühl anbietet?

Unbedingt. Ich habe den Eindruck, dass sich manche Menschen nach einer klaren Führerschaft sehnen und ganz konkret wissen wollen, was richtig und was falsch ist, was sie tun und nicht tun dürfen. Werte und Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft – es gibt viele Menschen, die sehr große Schwierigkeiten haben, damit umzugehen. Ein weiterer Punkt ist die Provokation. Da wir in einer sehr liberalen Gesellschaft leben, ist es für viele Jugendliche gar nicht so einfach, sich von ihren Eltern abzugrenzen. Heute ist es tendenziell so, dass man die Eltern mit extrem konservativem Verhalten provozieren und schockieren kann. Man kann Neonazi werden oder sich einer reaktionären Glaubensrichtung anschließen.

 

Nach seinem Gefängnisaufenthalt leben Julian und Romea in einer salafistischen Gemeinde. Sie konvertieren und nehmen neue, sprechende Namen an wie Abdel Jabbar Shahid (Abdel Jabber: »Der Diener des Trösters« und Shahid: »Märtyrer«) sowie Shania (»Ich bin unterwegs«).

Romea und Julian sind exemplarische Figuren, die unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema haben. Romea ist reflektierter und findet für sich einen gemäßigteren Weg.

 

Julian will wie Romea eine Vision für sein Leben. Im Gegensatz zu ihr möchte er aber nicht nachdenken und die Verantwortung für sein Handeln abgeben.

Das ist auch ein Vorwurf, den ich jeglichen fundamentalistischen Strömungen unterstellen würde. Und zwar, dass man die Eigenverantwortung am Eingang abgeben kann und dann in der Herde einer mehr oder weniger charismatischen Führergestalt hinterher eilt. Das sieht man auch gelegentlich im Fernsehen bei Spontankonversionen – auf Veranstaltungen etwa von Pierre Vogel. Das sind ja oft genau solche Jugendlichen wie Julian, die eine Leere in sich fühlen und sie durch etwas anderes ersetzen wollen. Zudem ist es bei den Jugendlichen ein Abgrenzungsverhalten: Man gehört einer bestimmten Gruppe an. Und man erhöht sich durch diese Gruppenzusammengehörigkeit und stellt sich über andere. Die fundamentalistische Ausprägung, die auch in die Ausgrenzung anderer Gruppierungen mündet, empfinde ich als sehr überheblich.

 

»Ratlosigkeit gegenüber der Radikalisierung der Jugendlichen«

 

Bei Julian fällt auf, dass er nicht völlig überzeugt ist, was ihm von Seiten der Gemeinde und ihres Imams gelehrt wird. Er muss immer wieder darum kämpfen, dass der Abdel Jabber Shahid in ihm die Oberhand über Julian Engelmann behält. Wollten Sie ihn als zerrissenen Menschen darstellen?

Er ist partiell immer wieder überzeugt, aber er weiß ja am Anfang auch gar nicht, welche Konsequenzen das Ganze haben wird. Weil er immer tiefer hinein in diese Form des extremen, gewaltbereiten Salafismus gerät, muss er sich stets neu davon überzeugen, dass das gut und richtig ist. Ich weiß nicht, wie es beim Lesen herüberkommt, aber ich hege durchaus auch Sympathien für Julian, auch wenn er nicht unbedingt eine eigenverantwortliche Persönlichkeit ist. Aber beim Schreiben ging es mir so: Irgendwie mochte ich diesen Kerl. Er ist ein sehr einsamer Mensch, der durchaus ein idealistisches Potenzial hat, das aber durch diese Kräfte missbraucht und in die falsche Richtung gelenkt wird.

 


Anna Kuschnarowa,

geboren 1975 in Würzburg, studierte Ägyptologie, Germanistik und Prähistorische Archäologie in Leipzig, Halle/Saale und Bremen. Sie arbeitet als freie Autorin und Fotografin und gründete 2011 die Seschat-Fernschule für Ägyptologie. Im April 2014 erhielt sie für ihren Jugendroman »Kinshasa Dreams« (2012) den Friedrich-Gerstäcker-Preis der Stadt Braunschweig.


 

Dass Julian auf die falsche Bahn gerät, geht aber auch auf sein nichtreligiöses Umfeld zurück. In Ihrem Roman, so mein Eindruck, herrscht innerhalb der ganzen Gesellschaft, nicht nur bei den Salafisten, eine Härte und Intoleranz gegenüber anderen, die erschreckend ist.

Wir messen gerne mit zweierlei Maß. Mir gefällt zum Beispiel nicht, dass viele Deutsche seit den Anschlägen vom 11. September 2001 den Islam mit Terrorismus gleichsetzen. Es sind neue Vorurteile entstanden und gewachsen. Das war auch ein Anliegen, das ich mit dem Buch verfolge: Es gibt den gewaltbereiten Arm des Salafismus auch in Deutschland, wenn er auch nur wenige Anhänger hat. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Schattierungen islamischer Glaubensvorstellungen. Deswegen habe ich auch die Szenen eingebaut, in denen Romea angefeindet wird, nur weil sie ein Kopftuch trägt. Sie stößt auf die Vorurteile ihrer Mitmenschen, die überhaupt nichts über sie als Person wissen. Nach ihrer Trennung von Julian alias Abdel Jabber und der Abkehr von der extremen Form des Islams legt sie das Kopftuch für kurze Zeit ab, nachdem sie zu ihren Eltern gezogen ist. Doch dann entscheidet sie sich wieder für das Tuch, weil sie im Gebet etwas gefunden hat, das sie anspricht und ihr Leben bereichert. So wird bei Romea das »spirituelle Loch«, das bei vielen Menschen besteht, positiv gefüllt.

 

Romea erscheint im Vergleich zwar als stärkerer Charakter, doch sie kann von Julian nicht lassen. Wollten Sie die Beziehung der beiden als »Amour fou« erzählen?

Ja, unbedingt. Es ist oft so, dass man bei der ersten Liebe sehr viel ekstatischer reagiert als bei den folgenden. Man würde dann auch sehr viel weiter gehen – auch weil beim ersten Mal die Abgrenzung vom Partner schwerer fällt. Beide Protagonisten sind ja auch noch so jung.

 

Haben Sie sich auch deshalb für William Shakespeare Drama »Romeo und Julia« als Vorbild entschieden, um die Leidenschaft der ersten Liebe zu unterstreichen?

Ja, und hinzukommt das Motiv der kleinen Meerjungfrau. Julian ist derjenige, der Romea in eine Welt lockt, in die sie nicht gehört. Mit der Dschihadisten-Welt kommt sie nicht klar. Beide sind halt Jugendliche, die gegen die Verführungen der Welt noch nicht so gewappnet sind. In diesem Alter ist man viel schneller beeindruckt, voller Tatendrang und tendiert auch dazu, einfache Lösungen anzunehmen. Deswegen habe ich in meinem Roman auch keinen personalen oder auktorialen Erzähler verwendet. Ich wollte in diese beiden Personen hineinkriechen und nachspüren, warum sie so weit gehen, wie sie es tun.

 

Weil Sie in »Djihad Paradise» auf Shakespeares Drama referieren, kommt ein Gefühl des Fatalismus auf. Man kann sich von Anfang an denken, wie der Roman enden wird.

Ich hatte das intendiert. Es kommt mir so vor, dass unsere Gesellschaft mit der gleichen Ratlosigkeit vor diesem Phänomen steht. Wir scheinen wenige Möglichkeiten zu haben, der Radikalisierung der Jugendlichen in unserer Kultur etwas Positives entgegenzusetzen.

 

»Jugendliche Leser haben ein gutes Gespür für Authentizität«

 

Am 13. April 2014 wurde gemeldet, dass Denis Cuspert, ein Berliner Ex-Rapper mit Künstlernamen Deso Dogg, sich als Dschihadist in Syrien einer Terrorgruppe namens »Islamischer Staat im Irak und Syrien« angeschlossen habe. In einem Internet-Video soll er deutsche Muslime aufgerufen haben, ihm nachzueifern.

Die Figur des Denis Cuspert geistert schon länger durch die Medien. Es ist eine interessante Beobachtung, dass es so einige Rapper gibt, die früher dem totalem Konsum gefrönt und sich dann eines Tages plötzlich einer radikalen Strömung des Islams angeschlossen haben. Sie entsagen allem, legen aber die gleiche Aggressivität an den Tag, die sie vorher als Rapper gezeigt haben. Durch diese Beobachtungen kam auch die Figur des Julian zustande.

 

Sie schildern einen Aufenthalt von Julian und seines Freundes Murat in Alexandria, wo beide Arabisch lernen, später ihre Ausbildung als Gotteskrieger in Pakistan. Haben Sie vor Ort recherchiert?

In Ägypten bin ich immer wieder und kenne das Land gut. Für den Roman habe ich versucht, möglichst viele Quellen mit einzubeziehen: Nachrichten, Dokumentationen, Youtube-Videos von Glaubenskämpfern und Bücher wie »Black Box Dschihad« oder »Nur der Satan isst mit Links«. Ich kenne auch einige Arabisten, die ich befragt habe.

 

Ihr Roman ist stellenweise sehr brutal. So schildern Sie, wie ein Ausbildungslager von Gotteskriegern durch einen Bombenangriff zerstört wird. Kann man das jungen Lesern zumuten?

Ich habe festgestellt, dass viele Jugendliche belastbarer sind als man als Erwachsener so gemeinhin denkt. Jugendliche haben ein sehr gutes Gespür für Authentizität und nehmen es einem sehr übel, wenn sie merken, dass man die Realität viel weicher gemacht hat, als sie in Wirklichkeit ist, um die jungen Leser zu schonen.

 


Djihad Paradise

Anna Kuschnarowa

Beltz & Gelberg, 2013

416 Seiten, 14,95 Euro

Von: 
Behrang Samsami

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