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Henry de Monfreids »Die Geheimnisse des Roten Meeres«

Die Geburt eines Abenteurers

Feature

Perlensuche und Waffenschmuggel vor dem Ersten Weltkrieg: Henry de Monfreids »Die Geheimnisse des Roten Meeres« von 1931 liegt erstmals auf Deutsch vor – ein grandioser Erfahrungsbericht zwischen Exotismus und Kritik am Kolonialismus.

»Was soll ich mich zu einem Leben zwingen, das mir zum Zuchthaus wird? Warum nicht der Verlockung des blauen Horizonts erliegen, dahin fahren, wohin der Monsun mich treibt, den kleinen weißen Segeln folgen, die ich Tag für Tag im geheimnisvollen Roten Meer verschwinden sehe? Wozu mir eine Zukunft als guter Kaufmann erhoffen, wenn ich ein solcher doch niemals werden kann?«

 

Gesagt, getan. Henry de Monfreid, französischer Angestellter einer Kaffee- und Lederhandelsfirma in Abessinien, im heutigen Äthiopien, kündigt und zieht ins nahe Dschibuti, das an der Meerenge Bab al-Mandab liegt und das Rote Meer mit dem Golf von Aden verbindet. Dort will er der »Verlockung des blauen Horizonts« nachgeben. De Monfreid hat Glück: Der bisherige Gouverneur von Dschibuti wird ausgewechselt. Dieser wollte de Monfreids Plan verhindern, gleich den anderen, arabischen Händlern in den Schmugglerhafen Tadschura zu fahren.

 

Der neue Gesandte Frankreichs nutzt dagegen de Monfreids Abenteuerlust und beauftragt ihn, sich die Halbinsel Cheik Saïd nahe der jemenitischen Küste doch einmal genauer anzusehen: »Es heißt, die Türken unterhielten dort eine Garnison. Ich wäre entzückt, wenn Sie ein paar Fotos machen könnten, denn Ansichtskarten werden Sie wohl keine bekommen...« Es sind die Jahre kurz vor dem Ersten Weltkrieg – eine Epoche, in der viele westliche Staaten aggressive Kolonialpolitik betreiben.

 

Während auf der arabischen Halbinsel die Osmanen noch weitgehend das Sagen haben, ist das nordöstliche Afrika fast völlig in europäischer Hand. Die Briten beherrschen Ägypten, Sudan und das nördliche Somalia, die Italiener das restliche Land. Die Franzosen halten Dschibuti am Golf von Aden besetzt. Einzig Abessinien kann sich dem Zugriff entziehen. Die Franzosen nutzen das kleine Dschibuti und seinen Hafen als Gegengewicht zu der jemenitischen Stadt Aden, die von den Briten beherrscht wird, – und als wichtige Durchgangsstation: »Dschibuti«, so schreibt de Monfreid, »lebte vom Waffenschmuggel. Waffenausfuhr war dort problemlos möglich, sofern man an den Zoll die entsprechenden Gebühren abführte.

 

Zielort der Waffen hatte im Prinzip Maskat im Golf von Oman zu sein, doch in Wirklichkeit fuhren die Schiffe überall hin. Ich habe gesehen, wie arabische Dhaus innerhalb eines Monats drei Fahrten bewältigten, ohne dass sich irgendjemand überrascht zeigte, obwohl man für eine Hin- und Rückfahrt nach Maskat die Umkehr des Monsuns abwarten musste, also mindestens ein halbes Jahr.«

 

Zwischen Sehnsucht und Selbstkritik

 

De Monfreid sollte nach dem Willen des abberufenen Gouverneurs nicht auf das Meer fahren und Waffen schmuggeln, um keinen Anlass für einen Konflikt zwischen Briten und Franzosen zu geben. Doch die Anweisung des neuen Gesandten ändert die Lage. Damit beginnt, was de Monfreids »Geheimnisse des Roten Meeres« zu einem grandiosen Buch macht: Die Geschichte eines jungen Mannes, der seit seiner Kindheit eine »Sehnsucht nach dem Meer« in sich trägt und diese um Dschibuti in vielen, oft gefährlichen Abenteuern auslebt.

 

Aber dieses Debütwerk ist nicht nur ein Erinnerungsbuch des 1879 in der französischen Mittelmeergemeinde Leucate geborenen Mannes, dessen Vater, ein Maler, mit Kollegen wie Henri Matisse oder Paul Gauguin befreundet war. Die 1931 erschienenen »Geheimnisse des Roten Meeres« enthalten detailliert und leuchtend erzählte Abenteuer rund ums Perlentauchen und Waffenschmuggeln, bei denen de Monfreid oft zwischen die Fronten rivalisierender Kräfte gerät.

 

Eingewoben sind auch nachdenkliche, kritische Passagen über den wachsenden Einfluss des Westens auf Leben und Kultur der Menschen in diesem Grenzland zwischen Afrika und Arabien – einer Region, die in Europa bis dahin wenig bis kaum Beachtung gefunden hat. Jetzt liegt de Monfreids Erstling in einer sehr flüssigen, ungeheuer plastischen Übersetzung von Gerhard Meier endlich auch auf Deutsch vor. Hiesige Leser können auf spannende, mehrfache Entdeckungsreise gehen.

 

An ungewöhnlichen Ereignissen und unerwarteten Wendungen mangelt es nicht. Noch bevor de Monfreid sein erstes Ziel, die Halbinsel Cheik Saïd, erreicht, gerät er in einen Sturm. Dieser bedeutet für ihn, seine kleine, aus Somalis und Arabern bestehende Mannschaft und sein Schiff, eine Dhau, fast das Ende: »Da sehe ich auf dem Meer lauter Wasserkegel hochschießen und wieder zusammenfallen. Schaumgekrönte, zerzauste Wellen drehen sich wild im Kreis: Die vom Wind zurückgedrängten Strömungswirbel bilden eine Art Strudel. Zwischen diesem und der Küste entdecke ich in einer halben Kabellänge eine ruhigere Zone, doch auch dort winden und bäumen sich schnelle Strömungswulste wie furchterregende Echsen.«

 

Auf Tuchfühlung mit Patienten und Perlentauchern

 

Das Schiff kann sich retten. Das Meer beruhigt sich. Aus Dankbarkeit für dieses »Wunder« entscheidet sich de Monfreid, den muslimischen Glauben anzunehmen und fortan den arabischen Namen Abd el-Haï zu tragen. Dieser Schritt ist symbolisch für den Ich-Erzähler. Er ist eine Figur, die im Gedächtnis bleibt; die zwischen unterschiedlichen Welten wandert. Er reist mit Einheimischen auf einer Dhau, kleidet sich wie sie, kann sich mit ihnen verständigen und ist immer wieder über ihren Glauben erstaunt: »Die Muslime [...] schicken sich in ihr Los, wissen sie doch, dass Allah allmächtig und so groß ist, dass er seine Meinung nicht ändern wird.

 

Was geschehen muss, steht schon geschrieben, und wenn Allah seine Geschöpfe rettet, dann nur, weil es ihm gefällt.« Aber de Monfreid will – kann – sich nicht völlig assimilieren. Er ist den Strapazen der Seefahrt auf dem Roten Meer nicht immer gewachsen: »Ich habe mir vorsichtshalber den Körper mit Butter eingeschmiert, um unter der Dauerdusche weniger zu leiden.« Aber auch die kulturellen Unterschiede sind zu groß, als dass bestimmte Erlebnisse bei ihm nicht einen tiefen Eindruck hinterließen.

 

So nimmt er einmal an einer Operation durch einen »Hexer« teil, bei dem der Patient bei Bewusstsein aufgeschnitten und sein durch einen Lanzenstich durchbohrter Magen hervorgeholt wird. Dann kommen Termiten zum Einsatz: »Der Hexer ergreift behutsam eine Ameise am Bauch. Ich sehe, wie das Tier zwischen seinen blutigen Fingerspitzen drohend die Mandibeln aufsperrt. Die natürliche Zange wird an die zu verbindenden Hautstellen gehalten, und sobald das Insekt zubeißt, knipst ihm der Chirurg mit dem Fingernagel den Bauch ab.

 

Der Kopf bleibt in die Haut verbissen und bildet den ersten Stich der Naht; etwa zwanzig weitere folgen über die ganze Länge der Wunde.« De Monfreid gelingt es auf beeindruckende Weise, den Leser ganz für sich zu gewinnen: Man schmeckt, riecht und fühlt, als wäre man selbst dabei. Er gibt einen einfühlsamen und überzeugenden Einblick in das Leben der Menschen, aber auch in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse rund ums Rote Meer.

 

Auch teilt er sein Wissen mit dem neugierigen Leser. So erklärt er das Perlenfischen in allen Einzelheiten, weist zugleich aber auch auf die hohe Gefahr hin, die damit verbunden ist. Seine Sympathie gilt den oft jungen Tauchern, die die Perlen aus der Tiefe des Meeres holen, um sie für wenig Geld an Händler zu verkaufen, bei denen sie meist hoch verschuldet sind.

 

De Monfreid ist kein Kara Ben Nemsi

 

Das Bild, das der Autor in den »Geheimnissen des Roten Meeres« von der Region zeichnet, ist von Gegensätzen geprägt. Einerseits lässt er uns teilhaben an paradiesischen Zuständen: »Gierig saugen wir den berauschenden Vegetationsduft ein. Die Bäume – echte Bäume, nicht die ewigen Mangroven – sind voller gelber und grüner Papageien und zutraulicher Goldbrüstchen, die uns umschwirren wie große Fliegen. Aus Grashalmen geflochtene Nester schaukeln an den Zweigen wie Früchte. Ich bin sprachlos und glaube zu träumen. Lachend und vor Freude schreiend, laufen wir los wie die Verrückten. Überall Wiesen, Klee, Luzerne. Beim Anblick von Klatschmohn gerate ich in wahre Verzückung, und beinahe wäre ich gerührt in Tränen ausgebrochen.«

 

Andererseits schildert de Monfreid den harten, arbeitsreichen Alltag der Menschen, mit denen er zusammentrifft: Arabische und afrikanische Seeleute, Perlentaucher und Sklaven werden von einheimischen und europäischen Kaufleuten ausgebeutet. Damit weist der Autor zugleich auf die Globalisierung hin, die um 1900 auch diese, für ihn bisher so archaische, »vorzivilisatorische« Region allmählich in Besitz nimmt. Das Dilemma von de Monfreid ist, das Eindringen des Westens zu kritisieren und wo immer möglich die »Zivilisation« zu meiden, durch seine Spionagetätigkeit aber gleichzeitig die Kolonialpolitik Frankreichs zu unterstützen.

 

De Monfreid beklagt das hochmütige Verhalten der Europäer gegenüber den Einheimischen. Auch wenn bei ihm selbst ebenfalls eine Distanz zu den »Orientalen« herrscht – er lernt von ihnen da, wo es ihm hilfreich scheint. Man denkt dennoch gelegentlich an Karl Mays Orientromane: Dem »vernünftigen« Westler gelingt es, was die »naiven« Einheimischen ihm nicht zutrauen wollen – De Monfreid wird zu einem veritablen Seemann, Perlenhändler und Waffenschmuggler.

 

De Monfreid ist schon anzumerken, dass er sich für einen tollkühnen, mutigen Mann hält. Doch genauso offen spricht er über seine Ängste. Man lernt ihn so als wissbegierigen, aber auch verletzlichen Menschen kennen – und als typisches Kind seiner Zeit. Die kolonial geprägte Denkweise im Westen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt in seinem Buch gut zum Vorschein, etwa das Unterscheiden der Menschen in »Rassen«. Allerdings stellt de Monfreid eigene wie gesellschaftliche Vorurteile immer wieder in Frage.

 

Wie geht die Geschichte des französischen Abenteurers nach dem Ersten Weltkrieg weiter?

 

»Die Geheimnisse des Roten Meeres« ist ein Buch, das regelrecht vor Leben strotzt. Es ist eine reportageartige Abenteuergeschichte, aber auch ein Selbstporträt – der sehr lesenswerte Entwicklungsroman eines »Aussteigers«. In der literarischen Verarbeitung seiner Erlebnisse wird de Monfreid dabei deutlich, dass eine Flucht vor Modernisierung und Verwestlichung auch im »Orient« nicht möglich ist. Damit teilt er eine Erfahrung, die auch andere westliche »Aussteiger« im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gemacht haben.

 

Dennoch ragt sein Buch aus der Menge an Reiseliteratur jener Zeit heraus: Die gefährlichen Abenteuer und ambivalenten Erfahrungen so fesselnd und zugleich so reflektiert beschrieben zu haben – so meisterhaft ist das nur wenigen gelungen. Auf diese Weise unterscheidet sich der Ich-Erzähler der »Geheimnisse des Roten Meeres« etwa stark von Karl Mays statischem, besserwisserischen Protagonisten Kara Ben Nemsi. Am Ende von de Monfreids Buch verlässt seinen Ich-Erzähler das Glück.

 

Auch hört er vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa, der sogleich Folgen auf Leben und Handel in der Region hat. Doch auch diese Passagen sind spannend und halten den Leser im Bann: Die »Niederträchtigkeiten«, die er nach der Rückkehr in Dschibuti durch einen Staatsanwalt und Untersuchungsrichter erfährt, will de Monfreid in einem zweiten Band darlegen. Der Leser, der ihn jetzt entdeckt hat, kann nur hoffen, dass die Fortsetzung möglichst bald übersetzt vorliegt.

 

»Die Geheimnisse des Roten Meeres« machen einen neugierig auf weitere Abenteuergeschichten des französischen Schriftstellers. Noch über 70 Bücher hat de Monfreid bis zu seinem Tod im Jahre 1974 veröffentlicht. Es wäre zu wünschen, dass der Verlag bei kommenden deutschsprachigen Übersetzungen auch noch mehr Informationen zum Autor liefert. Die vorliegende, schön gestaltete Ausgabe beinhaltet neben Worterklärungen einen kurzen Lebenslauf, der einige Fragen aufwirft.

 

Wie sah etwa die Kooperation de Monfreids mit den Italienern während ihres Feldzugs in Äthiopien 1935/36 aus? Ein erläuterndes Nachwort hätte solche Fragen beantworten können – gerade weil es auf dem deutschen Buchmarkt noch keine Biografie zu dem Franzosen gibt. Doch davon abgesehen: Dass der Unionsverlag den hiesigen Lesern »Die Geheimnisse des Roten Meeres« zugänglich gemacht hat – das ist an sich schon ein großes Verdienst. Und das Buch selbst die wohl beste Einführung in die abenteuerliche Welt Henry de Monfreids.

 


Die Geheimnisse des Roten Meeres

Henry de Monfreid

Aus dem Französischen von Gerhard Meier

Unionsverlag, 2013

302 Seiten, 19,95 Euro

Von: 
Behrang Samsami

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