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Höflichkeit im Iran

Missverständnisse inklusive

Essay

Höflichkeit im Iran ist mehr als nur eine Reihe von Floskeln, sondern grundlegender Teil der politischen Kommunikation. Könnte mehr Sensibilität für das »Tarouf« gar Bewegung in die festgefahrene Atomfrage bringen?

Wer einmal in den Iran reist, wird mit etwas Bekanntschaft machen, das sich »Tarouf« nennt. Gemeint ist damit ein stark ausgeprägtes Höflichkeitssystem, welches tief mit der iranischen Kultur verwoben ist, sie gänzlich prägt. Leicht zu verstehen und damit auch für Ausländer einfach nachzuahmen sind Verhaltensweisen beim Bezahlen oder typische Rituale bezüglich der Gastfreundschaft.

 

Beim Bezahlen – sei es im Taxi, in einem Geschäft oder in einem Laden – wird diejenige Person, die eine Leistung erbracht hat und damit ihr Geld verdient hat, sagen, dass »es keinen Wert hatte«. Wenn man dies nun wörtlich nehmen würde, würde man die Person auf jeden Fall sehr verärgern, bzw. einen Diebstahl begehen. Die traditionelle Antwort lautet, dass »sein Besitz seinen Wert hat« und so kann der tatsächliche Preis genannt werden

 

Allgemein gesprochen macht die Person, die eine Leistung erbringt sich ihrem Gegenüber klein – sie »dient« dem anderen Menschen. Natürlich wissen Beide, dass dies »nur« Höflichkeit ist, und sich die konkreten Taten und Gedanken beider Personen an dieser »Unterordnung« nicht orientieren dürfen. Dieses Prinzip wiederholt sich nun in unterschiedlichster Form ebenso bei gegenseitigen Besuchen, oder bei der Frage, wer im Restaurant bezahlen darf, oder wer als erster durch die Tür geht. So gibt es sogar einen iranischen Witz über Zwillinge, die erst Wochen nach dem eigentlich Geburtstermin auf die Welt kommen, weil sie sich aus Höflichkeit darum streiten, wer als Erster das Licht der Welt erblicken darf.

 

Iraner witzeln also selbst darüber und beschweren sich auch regelmäßig über die »Nachteile des Tarouf« bei Anderen. Bei jungen Iranern, vor allem der wohlhabenderen Schicht und unter Freunden, hat sich die Selbstbeschreibung, dass sie »gänzlich ohne Tarouf« seien, schon ebenso zu einer routinierten Aussage etabliert, wie die typischen Verhaltensweisen und die festgelegten »Tarouf-Dialoge«. Dabei stellen diese nur die Oberfläche eines viel tiefergehenden Gedankens- und Gefühlskonstrukt der iranischer Identität dar. Die Wurzeln des Taroufs liegen wesentlich tiefer und begründen mit dem Stolz über die Jahrtausende alte iranische Kulturnation die besonderen Eigenheiten des Iranischseins.

 

Im Grunde hat der Westen kein Problem mit kulturell unterschiedlichen Höflichkeitssystemen

 

So ist eine weitere Facette des Taroufs die Weise, wie Kritik geäußert wird. Direkte öffentliche Kritik ist unhöflich und erzeugt damit Gesprächsbedarf über den gegenseitigen Respekt und die Art wie man mit einander spricht. Jeder, der ein Interview mit dem (Noch)-Präsidenten Ahmadinejad gesehen hat, wird wissen, dass dies ein immer wiederkehrendes Thema in den Atomverhandlungen darstellt.

 

So wird Kritik innerhalb des Tarouf indirekt und sprichwörtlich »durch die Blume« geäußert. Es geht darum, dem Gegenüber seine Größe nicht zu nehmen, und – besonders wenn man Kritik äußern möchte – sich selbst noch kleiner zu machen.

 

Das dies zwar aus europäisch geprägter Denkweise ein unnötiges Hindernis für eine effiziente und zielführende Diskussion darstellt, ist dabei genau ein Scheidepunkt, ob Verhandlungen mit Iran erfolgreich verlaufen oder nicht. Vielleicht lässt sich am Beispiel Japan mit seinem ebenso stark ausgeprägten Höflichkeitssystem, um Respekt und Ehre, deutlich machen, dass allerdings der Westen im Grunde kein Problem mit solchen kulturell unterschiedlichen geprägten Eigenheiten hat und fähig ist damit umzugehen.

 

Dass diese kulturelle Herausforderung bei der politischen Rhetorik des Westens gegenüber Iran nicht außer Acht gelassen werden darf, sollte selbstverständlich sein. Wenn man sich vor diesem Hintergrund an George W. Bush und seine Verkündung der »Achse des Bösen« erinnert, wirkt es wie eine außenpolitische Walze, die tatsächlich jegliche Chance auf eine friedliche Annäherung verhinderte, nachdem in den Jahren zuvor zwischen den USA und Iran eine erste geheime Zusammenarbeit für den Afghanistan-Einsatz entstanden war. Diese Zusammenarbeit war nach der Umdeutung des Landes vorbei und Iran bezeichnete seinen neuen »Titel« wieder einmal als Ausdruck »westlicher Arroganz«.

 

Um die Bedeutung des Taroufs möglicherweise bewerten zu können, lohnt sich ein Blick auf die innenpolitische Landschaft Irans. Das System Islamische Republik Iran mit seinen partizipativen und gleichzeitig vom Revolutionsführer kontrollierten Staatsorganen ist ein hochkomplexes Machtgefüge unterschiedlicher Personen und Gruppen, die praktisch seit der Revolution 1979 bis heute die Fäden in den Händen halten, doch ebenso die Gesellschaft in die Entwicklung des Staates einbindet.

 

Obwohl zur Kandidatur zum iranischen Parlament eine Art von Gesinnungsprüfung über die Teilnahme an der Wahl entscheidet, und somit das Parlament faktisch nicht frei ist, gibt es trotz allem unterschiedliche Fraktionen, die sich innerhalb der politisch legitimen Arena hart und vor allem öffentlich bekämpfen.

 

Kritik über festgelegte Umwege

 

Interessant hierbei ist, auf welche Weise die Größen der iranischen Politik sich gegenseitig kritisieren und miteinander öffentlich um Positionen diskutieren.

 

So hatte sich in der vergangenen Zeit über die Frage, wer sich in der iranischen Öffentlichkeit über die Stoßrichtung der amerikanisch-iranischen Beziehungen äußern darf und wer nicht, eine innenpolitische Diskussion über Macht und Einfluss innerhalb des Systems entwickelt. Gleichzeitig ist jedem klar, dass außenpolitische Grundsatzentscheidungen vom Revolutionsführer Ali Khamenei entschieden werden. Und dieser machte zu Zeiten Bushs deutlich, dass »wenn die Aufnahme der Beziehungen in Interesse [Irans] sein sollte, werde [er] als erster die Wiederaufnahme verlangen. Aber es ist nicht in [Irans] Interesse.«

 

Wichtig hierbei ist, dass die Wiederaufnahme der Beziehungen in dieser Regelung für die Zukunft nicht ausgeschlossen ist und gleichzeitig deutlich wird, dass niemand anderes über dieses Thema sich äußern kann, bevor er es nicht tut.

 

Und um genau hier Druck auf den Revolutionsführer aufzubauen, lieferte Ali Akbar Hasshemi Rafsanjani, der vielen als zweitmächtigster Mann in Iran galt – praktisch neben oder sogar über dem Präsidenten – einen Zeitungsbeitrag über einen bisher geheimen Briefwechsel, den er mit dem Systemgründer Ayatollah Khomeini pflegte und in dem Rafsanjani die Wiederaufnahme der Beziehungen fordert. Khomeini gilt bis heute als absolute Instanz, obwohl er natürlich schon seit mehr als 20 Jahre tot ist und seine Ansichten nur noch interpretiert werden können.

 

Daher fungiert die schlichte Anwesenheit seines Namens in dem Zeitungsartikel als ein Türöffner Rafsanjanis, um die außenpolitische Diskussion über Irans Konfrontationskurs mit den USA beginnen zu können.

 

Dass so Khameneis Autorität über dem Umweg Khomeinis nicht in Frage gestellt wird, ist ebenso wichtig wie die Tatsache, dass Rafsanjani dieses Tabuthema in einer Zeitung und nicht etwa in einer wichtigen politischen oder religiösen Sitzung anspricht. So ist absurderweise das Medium Zeitung, jenes, in dem am »offensten« öffentlich gesprochen werden kann. Es ist kein Problem, am Folgetag eines kritischen Artikels eine gegensätzliche Meinung abdrucken zu lassen oder im Notfall die Zeitung gänzlich zu schließen, falls sich »staatsgefährdende« Meinungen häufen.

 

Eine weitere Eigenschaft einer typischen Kritik an einem politischen Kurs ist, dass der eigentliche Adressat – in diesem Fall Khamenei – nicht direkt angesprochen wird. Vielmehr wirft er seine Meinung ohne Adressat in den wabernden Brei von hunderten von politischen Statements, die täglich in iranischen Zeitungen erscheinen, und wartet die Reaktionen ab, die ebenso indirekt über die Zeitungen veröffentlicht werden.

 

Natürlich kann argumentiert werden, dass direkte und offene Kritik aufgrund der repressiven Praktiken in Iran aus purer Angst nicht geäußert wird, doch würde man damit dem Gesamtphänomen, wie Kritik als Teil der iranischen Kultur funktioniert, nicht vollständig gerecht werden.

 

Unterschiedliche Wirkung nach innen und außen

 

So lassen sich oben beschriebene Vorgänge, bei völlig systemunkritischen Themen und im Maßstab Khameneis gesehen, völlig unbedeutenden Personen, ebenso gut beobachten. Im Kontrast dazu ist herauszuheben, dass das direkte, harte und öffentliche Kritisieren doch in den iranischen Zeitungen vorkommen kann. Allerdings stellt dies die Ausnahme dar und ist zurzeit im Fall Ahmadinejads zu erleben.

 

Nachdem er sich mit dem Revolutionsführer vergangenen Jahres einen intensiven Machtkampf lieferte und seine Anhänger bei den letzten Parlamentswahlen im Frühling dieses Jahres abgestraft wurden, begann eine in ihrer Stärke und anhaltenden Dauer seltene Antipropaganda-Schlacht gegen den Präsidenten in den Zeitungen.

 

So erscheinen in jeder Woche (oder täglich) mehrere Artikel mit direkter Kritik an dem Präsidenten oder sogar seinen Fehlern, die er aufgrund seiner Unfähigkeit in der Zukunft noch begehen wird. Unter der Lupe des iranischen Höflichkeitskodexes könnte dies so interpretiert werden, dass seine aktive Präsidentschaft nicht nur vorbei ist, sondern viel mehr, dass ihm konkret geschadet werden soll.

 

So bestätigt diese Ausnahme im Grunde nur die Regel, dass im gewöhnlichen alltagspolitischen Rahmen eine solche Form von Kritik nicht stattfindet und dies unter anderem auch am iranischen Gefühl für Ehre und Autorität liegt, welches über den Weg des Taroufs gewahrt wird. Selbstverständlich muss beachtet werden, dass Iran als politischer Akteur, der letztlich auf seinen Machterhalt fokussiert ist, besonders außenpolitisch harten Fakten und rationalen Interessen folgt. Und so wirkt Tarouf innerhalb dieses Handlungsrahmens als grundlegender und identitätsstiftender Teil iranischer Kommunikation mehrdimensional.

 

Innenpolitisch wirkt es als systemerhaltend, da es die Weise der Kritikäußerung abmildert und gleichzeitig die Reaktion auf unliebsame Zuständen abschwächt, da Tarouf auch die Tradition des Akzeptierens und Aushaltens solcher beinhaltet. Außenpolitisch wirkt es dagegen im Spannungsverhältnis der internationalen Beziehungen brandbeschleunigend. Die unterschiedlichen Rhetoriken und Erwartungen, wie über Probleme gesprochen wird, erzeugen das Potential zu Unverständnis und Enttäuschung, gewollt oder ungewollt, und tragen wiederum das Potential zur Konfliktverschärfung in sich.

 

So könnte behauptet werden, dass Tarouf als Teil der iranischen Identität dazu beiträgt, dass Iran als geächtete Nation in der Weltgemeinschaft von Außen weiter isoliert und von Innen aufgrund der außenpolitischen Rhetorik der tonangebenden G8-Länder zusammen gehalten wird.

 

Wenn die Weltgemeinschaft also tatsächlich die »Iran-Frage« als einer der wichtigsten gegenwärtigen Themen betrachtet, sollte noch stärker auf die kulturellen Eigenschaften des Landes eingegangen werden, um im Sinne des Gemeinwohls ein positives Ergebnis zu erreichen.

 

Khomeini sagte einmal: »An dem Tag, an dem die USA uns lobt, muss man trauern.«

Von: 
Friedrich Schulze

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