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Gedenken an den Genozid in Bosnien-Herzegowina

Der lange Schatten von Srebrenica

Feature

Seit Jahren kämpfen Hinterbliebene in Bosnien um eine Antwort auf die Frage, wer für den Genozid verantwortlich ist. Es geht um Ausgleich und Aufarbeitung. Nun wurden die Niederlande zu Entschädigungszahlungen verurteilt.

Ein neues Massengrab mit mehreren Dutzend Muslimen und Kroaten aus dem Bürgerkrieg der Jahre 1992-1995 ist in Prijedor im Nordwesten von Bosnien-Herzegowina entdeckt worden. Auch zwanzig Jahre nach dem Krieg können die Verantwortlichen für die Massaker an der Zivilbevölkerung nicht dingfest gemacht werden. Vor zwölf Monaten reichten Vertreter mehrerer Angehörigenverbände von Srebrenica-Opfern beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage gegen die Vereinten Nationen ein.

 

Sie machten die UN für den Massenmord an über 8.400 Flüchtlingen verantwortlich, die während des Bosnienkriegs im Juli 1995 Zuflucht in der UNO-Schutzzone suchten und dennoch von UN-Blauhelmsoldaten an die serbischen Truppen ausgeliefert wurden. »Wir wollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen«, so Hatzida Mehmedovic, die Leiterin des Verbandes »Mütter von Srebrenica«. Am 11. Juli 1995 wird die Stadt Srebrenica, die in der ostbosnischen UN-Schutzzone liegt, von serbischen Milizen eingenommen.

 

Die niederländischen Blauhelmsoldaten vom Bataillon »Dutchbat III« haben die Aufgabe, die Flüchtlinge zu beschützen. Und dennoch überlassen sie tausende bosnische Zivilisten den serbischen Milizen. Unter der Führung von Ratko Mladic, dem früheren serbisch-bosnischen Armeechef, wird ein Massaker an den muslimischen Flüchtlingen verübt. 8.372 muslimische Bosniaken werden in nur wenigen Tagen getötet. Die Frauen werden in Lager deportiert und monatelang von serbischen Soldaten vergewaltigt. Die Ermordung der bosnischen Männer und die systematische Massenvergewaltigung der bosnischen Frauen waren Teil des serbischen Plans, der »ethnischen Säuberung« zur Errichtung eines »Groß-Serbiens«.

 

Massengräber im ganzen Land

 

»Srebrenica war nur das traurige Ende einer Reihe blutiger Massaker an den muslimischen Bosniaken«, sagt Sasa Gavric, Geschäftsführer der NGO »Sarajevo Open Centre«, die sich für Menschenrechte und politische Partizipation einsetzt. »In den vorwiegend muslimischen Städten entlang des Flusses Drina, wurden die meisten Massengräber gefunden. Ungezählt bleiben die Opfer, die in den Fluss geworfen wurden.«

 

Doch selbst 18 Jahre nach dem Ende des Bosnienkriegs und dem Abkommen von Dayton, der den Frieden in der Region sichern soll, hat es noch immer keine Aufarbeitung gegeben. Die Folgen der ethnischen Spaltung der Gesellschaft durch den Krieg sind politischer sowie wirtschaftlicher Stillstand. Heute zählt Bosnien zu den ärmsten Ländern Europas. »Eine Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen nach deutschem Muster wird es bei uns leider nie geben.

 

Zumindest sehe ich momentan keinerlei Bemühungen der politischen Akteure in diese Richtung«, sagt der Menschenrechtler Sasa Gavric, »aber auch die Internationale Gemeinschaft hat hier keinen systematischen Ansatz zur Aufarbeitung der Verbrechen gemacht, um auf die kollektive Verantwortung hinzuweisen.« Für Hasan Nuhanovic, damaliger Dolmetscher der UNO-Truppe und Überlebender des Srebrenica-Massakers, sind die Verantwortlichen für den Genozid in erster Linie die Serben, die das Massaker verübten. Er verlor Bruder, Vater und Mutter. Aber auch die niederländische »Dutchbat III« Einheit, die es nicht verhindert habe. Ebenso macht er die EU und die USA dafür verantwortlich, nicht eingegriffen zu haben. Schließlich hätten alle Mitgliedsstaaten die UN-Konvention zur Prävention von Völkermord unterschrieben.

 

Beisetzung der Opfer wird für die Familienangehörigen zum Lebensinhalt

 

2007 kam der Internationale Gerichtshof (IGH) zu dem Ergebnis, dass Serbien als Rechtsnachfolger Jugoslawiens nicht direkt für die Verbrechen der bosnisch-serbischen Truppen verantwortlich ist. Serbien wird lediglich dafür verantwortlich gemacht, den Völkermord nicht verhindert zu haben und kann somit zu keiner Entschädigungszahlung gezwungen werden. »Das war ein guter Trick von Westeuropa und den USA, ihre Verantwortung kleinzuhalten.

 

Denn wenn Serbien allein Schuld dafür trägt, den Genozid nicht verhindert zu haben, dann ist niemand dafür verantwortlich, den Genozid begangen zu haben. Und die EU und die USA sind folglich für gar nichts verantwortlich«, sagt Nuhanovic in einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard. Doch nun die Wende. Am 6. September 2013, nach jahrelangen zähen Verhandlungen, wurde der niederländische Staat nach einem Urteil seines Höchsten Gerichtes in Haag für den Tod von drei bosnischen Männern verurteilt und haftbar gemacht.

 

Darunter die Angehörigen von Hasan Nuhanovic. Die Niederlande müssen nun Schadensersatzzahlungen an die Hinterbliebenen zahlen. Gegen dieses Urteil kann keine Berufung mehr eingelegt werden. Unmittelbar nach dem Krieg wurde, auf Initiative von Bill Clinton, die »International Commission on Missing Persons« (ICMP), eingerichtet, um die Opfer des Krieges zu identifizieren. Jährlich werden hunderte neuer Opfer geborgen, die dann am Jahrestag des Massakers von Srebrenica in der Gedenkstätte Potocari feierlich beigesetzt werden.

 

Für die Frauen von Srebrenica sind diese Beisetzungen zum Lebensinhalt geworden. Steckt darin doch die endgültige Gewissheit, dass keine Rückkehr zu erwarten ist. Auch die Familie von Hasan Nuhanovic liegt hier begraben.

Von: 
Samira Sammer

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