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Der Vertrag von Lausanne, Griechen und Türken

Abschied für immer

Essay
Das Abkommen von Lausanne, Türkei und Griechenland
Griechische Familie von Geflüchteten in einer provisorischen Unterkunft im nordgriechischen Thessaloniki Near East Relief / The Rockefeller Archive Center

Vor hundert Jahren beschlossen die Türkei und Griechenland einen Bevölkerungsaustausch. Bis heute scheiden sich die Geister: Schuf das Abkommen von Lausanne einen verlässlichen Frieden oder vergiftete er das Verhältnis zwischen Athen und Ankara?

Die türkische Tageszeitung Yeni Şafak titelt am 6. Februar, einen Tag nach dem verheerenden Doppelerdbeben, »Die Nachbarn teilen unseren Schmerz«. Der Redaktion war aufgefallen, dass das staatliche griechische Fernsehen Bilder aus den Katastrophengebieten mit türkischer Musik unterlegt hatte. In jenen Tagen einer von vielen Hinweisen auf die Anteilnahme und Solidarität in Griechenland. Die Regierung in Athen war eine der ersten, die der Türkei in Wort und Tat zur Seite eilte. Es bestünden politische Differenzen mit der türkischen Regierung, erklärt Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, »nichts aber trennt uns und die Türken«.

 

Erinnerungen werden wach an das Jahr 1999. Damals erschüttern in kurzer Abfolge schwere Beben zunächst den Westen der Türkei und wenig später die griechische Hauptstadt Athen. Koordinierte Hilfsaktionen der zerstrittenen Nachbarn sorgen für Schlagzeilen. Die bilateralen Beziehungen profitieren von einem Prozess, der als »Erdbeben-Diplomatie« in die Geschichte einging. Die gute Stimmung währt aber nur wenige Jahre. Tiefsitzende Differenzen nicht zuletzt in der Zypern-Frage beenden die Phase der Entspannung.

 

Ohne Verweise auf die Vergangenheit sind die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei nicht zu verstehen. Kein Datum prägt das Verhältnis der Nachbarvölker wie jenes, das sich 2023 zum hundertsten Mal jährt. In jenem in mehrfacher Sicht schicksalhaften Jahr 1923 versammeln sich die Mächte im schweizerischen Lausanne, um die Hinterlassenschaft des zerfallenden Osmanischen Reiches vertraglich zu klären. Bei der weltpolitischen Neuordnung nimmt die Regelung der griechisch-türkischen Beziehungen nach der »kleinasiatischen Katastrophe« breiten Raum ein.

 

Griechenlands epochale Bezwingung fällt zusammen mit dem historischen Triumph der Türken und ihres Republikgründers Mustafa Kemal

 

Bis heute verwenden die Griechen dieses Wortpaar, um die militärische Niederlage ihrer Armee in Anatolien sowie die damit einhergehende Vertreibung des Griechentums aus Kleinasien zu beschreiben. Griechenlands epochale Bezwingung fällt zusammen mit dem historischen Triumph der Türken und ihres Republikgründers Mustafa Kemal. Atatürk schafft zunächst auf dem Schlachtfeld, sodann am Konferenztisch die Grundlage für den neuen türkischen Staat.

 

Ein Kernstück des Lausanner Vertragswerks, das aus einem Hauptvertrag, Nebenverträgen, Konventionen und Protokollen besteht, ist die »Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei«, den Abgesandte beider Länder am 30. Januar 1923 unterzeichnen. Ein derartiges Dokument hat es so noch nie gegeben: Am grünen Tisch vereinbaren die Regierungen der Nachbarländer die Zwangsumsiedlung der Griechisch-Orthodoxen aus Anatolien nach Griechenland – und im Gegenzug die Umsiedlung der Muslime aus Griechenland nach Anatolien.

 

Mit einem Federstrich soll der über Jahrhunderte gewachsenen Verflechtung der Völker ein Ende gesetzt werden. Der türkische Soziologe Ayhan Aktar bezeichnet den beispiellosen Vorgang als »ethnische Säuberung auf die höfliche Art«. Die Umsiedlungen haben die ausdrückliche Zustimmung der Regierungen beider Seiten. »In kolonialer Manier wurden die Konfliktgruppen durch Massenaussiedlung getrennt«, schreibt der Wiener Osteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Opfer der Konvention sind ein bis zwei Millionen anatolische Griechen und 400.000 Muslime in Griechenland.

 

Zum Zeitpunkt der Lausanner Beschlüsse im Frühjahr 1923 ist die demografische »Bereinigung« Anatoliens bereits weit fortgeschritten. »1894 (setzte) das ein, was nicht zu Unrecht als bis 1923 andauernder Genozid an den anatolischen Christen bezeichnet worden ist: mehrere Wellen von Mord, Raub und Vertreibung, verübt von muslimischen Türken und Kurden, wobei sich das Ausmaß der Gewalt 1915/16 zu genozidalem Furor steigerte«, schreibt Schmitt weiter.

 

In der Konvention ist nicht von »Griechen« und »Türken« die Rede. Nationale Loyalitäten sind zur Zeit der Lausanner Beratungen hüben wie drüben die große Ausnahme

 

In der Konvention ist nicht von »Griechen« und »Türken« die Rede. Nationale Zuordnungen, wie sie sich in den Folgejahren entwickeln werden, sind zur Zeit der Lausanner Beratungen hüben wie drüben die große Ausnahme. Das alleinige Differenzierungskriterium bleibt die Religionszugehörigkeit. So müssen griechisch-sprachige Muslime aus Kreta ihre Häuser räumen und werden nach Anatolien verfrachtet. Auf der Gegenseite trifft es turkophone Christen in Kappadokien, die nach Griechenland zwangsumgesiedelt werden und bei der Eingliederung in der »neuen Heimat« einen schwereren Stand haben als ihre Griechisch sprechenden Landsleute.

 

Für die Mehrheit der bereits vor den Lausanner Beschlüssen vertriebenen anatolischen Griechen besiegelt – man könnte auch sagen: formalisiert – die Konvention die Entwurzelung rückwirkend. Den Schlusspunkt unter den Exodus der Griechen aus Kleinasien setzt die türkische Eroberung und weitgehende Zerstörung Smyrnas, der einstigen »Perle der Levante«. Smyrna, das die Türken Izmir nennen, ist für die Griechen bis heute Mahnmal und Symbol für das gewaltsame Ende des Hellenismus in Kleinasien, Endpunkt einer dreitausendjährigen Geschichte.

 

Die »kleinasiatische Katastrophe« setzt den Schlusspunkt unter die Megali Idea, den irredentistischen Traum eines transägäischen Griechenlands mit Konstantinopel als ersehnter Hauptstadt. »In zwei Wochen wechselt die Stadt ihre Identität von griechisch-kosmopolitisch zu türkisch und den Namen von Smyrna zu Izmir«, resümiert Philip Mansel in seinem eindrücklichen Stadtporträt das rasende Tempo der historischen Transformation.

 

Ohne das Leid der türkischen Umsiedler auf der Gegenseite zu relativieren, erfolgt deren Verschiffung nach Anatolien in vergleichsweise gesitteten Bahnen. Der Transfer beginnt im großen Rahmen im Frühjahr 1924. An den Fronten ist längst Ruhe eingekehrt, die Initiative liegt inzwischen in den Händen der Vermittler und Diplomaten, die allseits an Deeskalation und Stabilisierung interessiert sind. Die neuen Machthaber in Ankara legen Wert darauf, dass den Zuzüglern aus Griechenland das Elend und Chaos ihrer christlichen Leidensgenossen erspart bleibt.

 

Einhundert Jahre später ist in Kommentaren und Analysen von der Singularität des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei die Rede. Einmalig ist keinesfalls die Vertreibung an sich. Auch nicht, dass die Vertreibung ein Akt der Gewalt ist. Bei all den Hinweisen auf den diplomatischen Prozess und das Einvernehmen zwischen Athen und Ankara darf nicht vergessen werden, dass die Betroffenen in keinem Fall um ihr Einverständnis gefragt werden.

 

Außergewöhnlich für das Jahr 1923 ist gleichwohl der Umstand, dass der Austausch im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages vereinbart wird – und zwar auf ausdrückliches Betreiben beider Seiten. Eleftherios Venizelos, der für die griechische Seite die Verhandlungen führt, und Mustafa Kemal, der neue starke Mann auf türkischer Seite, verbindet das strategische Ziel, Schluss zu machen mit den kriegerischen Turbulenzen.

 

Besonders für das traumatisierte Griechenland bietet die Konvention – so zynisch es klingt – auch strategische Vorteile

 

Gleichzeitig wollen sie die Grundlage für einen radikalen Neubeginn schaffen, in Nationalstaaten in neuen Grenzen, die auf beiden Seiten der Ägäis erst noch konsolidiert werden müssen. Der Sieger Mustafa Kemal und der Verlierer Eleftherios Venizelos streben nach Stabilität in einer Phase großer geostrategischer Umbrüche. Hier bietet die Zwangsumsiedlung eine Gelegenheit. Zu einem hohen menschlichen Preis, gewiss. Doch die Herrschenden beider Seiten sind entschlossen, ihn zu zahlen.

 

Besonders für das traumatisierte Griechenland bietet die Konvention – so zynisch es klingt – auch strategische Vorteile. Der Staatsmann Venizelos ist realistisch genug, um einzusehen, dass der Traum der »großen Idee« ausgeträumt ist. Der Fokus wendet sich vom Osten auf den Norden. Dort hatte Athen in den Balkankriegen große Geländegewinne erzielt. Die griechische Herrschaft ist kaum konsolidiert, die Grenzen zu den slawischen Nachbarn alles andere als stabil. Die Hellenisierung Nordgriechenlands wird zum Gebot der Stunde. Die kleinasiatischen Flüchtlinge kommen als menschliche Verfügungsmasse ins Spiel: Bei der demografischen Konsolidierung der nordgriechischen Grenzregionen spielt der Austausch von turkophonen Muslimen mit orthodoxen Christen aus Anatolien eine zentrale Rolle.

 

Ein Standardwerk zum griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1923 stammt von Bruce Clark. Gleich in der Einleitung weist der Journalist darauf hin, dass er aus Nordirland stammt und beruflich viele Jahre auf dem Balkan unterwegs war – mithin mit ethnischen und religiösen Konflikten vertraut ist. Der Titel des Buches »Twice a Stranger« verweist auf die Dualität der Leidensgeschichten der Zwangsumgesiedelten. Angesichts der Kriege und der Gewalt sind die meisten in ihren Heimatregionen marginalisiert und fürchteten um ihr Leben.

 

Die Existenz nach der Umsiedlung in die neue Heimat ist – dies belegen Zeugnisse von Zeitzeugen – gleichwohl alles andere als ein Spaziergang. Dies ist das Feld vor allem der Anthropologen. Deren Studien in Bezug auf die Mikrasiates, der »Kleinasiaten« in Griechenland, belegen, dass es Jahrzehnte dauert, bis die anatolischen Aussiedler in der griechischen Mehrheitsgesellschaft ankommen. Bis heute verbindet eine sonderbare Nostalgie für die verlorene Heimat die Generation der Nachkommen.

 

Nicht einbezogen in die dekretierte Entflechtung der Bevölkerungen bleibt die Mittelmeerinsel Zypern

 

»Der Bevölkerungstransfer kennzeichnet den Höhepunkt eines wesentlich längeren historischen Prozesses, der sich über Jahrzehnte hinzog«, analysiert Bruce Clark den weltgeschichtlichen Kontext. Die osmanische Ordnung des Nebeneinanders der Religionen und Völkerschaften unter der Kuratel des Sultans macht Platz für die neue Ära des Nationalismus. So gesehen ist der Bevölkerungsaustausch ein Kind seiner Zeit, das Produkt einer Zeitenwende.

 

Derweil kommt es bei der nationalen Flurbereinigung zu Ausnahmen, die – aus heutiger Sicht – als durchaus folgenschwer bezeichnet werden können. Nicht einbezogen in die dekretierte Entflechtung der Bevölkerungen bleibt die Mittelmeerinsel Zypern. Als britische Kolonie steht das strategisch günstig gelegene Eiland in Lausanne nicht zur Disposition. Ausgenommen vom Bevölkerungsaustausch bleiben ferner die Muslime im griechischen Westthrakien und die kopfstarke – und wirtschaftlich einflussreiche – griechische Minderheit von Istanbul.

 

Es ist kein Geheimnis, dass die türkischen Nationalisten auch am Bosporus klaren Tisch machen wollen. Ihnen ist nicht zuletzt das Ökumenische Patriarchat mit seinem internationalen Anspruch ein Dorn im Auge. Am Ende verständigen sich die Unterhändler auf einen Ringtausch. Die Griechen und das Patriarchat dürfen unter strengen Auflagen am Goldenen Horn verbleiben. Im Gegenzug erhalten die westthrakischen Muslime, die mehrheitlich die türkische Sprache sprechen, in Griechenland Bleiberecht.

 

Heute wissen wir, dass die Ausnahmen von Lausanne in den Folgejahren zu Brennpunkten der griechisch-türkischen Beziehungen werden. Vor allem die Zypern-Frage führt die späteren Nato-Partner mehr als einmal an den Rand des Krieges. Die Hoffnung, die 1960 geschaffene Republik Zypern werde ein Erfolgsmodell der friedlichen Koexistenz, erfüllt sich nicht. Nach einem von der Athener Militärdiktatur im Sommer 1974 initiierten Putsch gegen die Regierung des Erzbischofs Makarios interveniert Ankara und vertreibt die griechischen Zyprioten aus dem Norden der Insel. Ein dauerhafter Ausgleich zwischen Athen und Ankara ist ohne Lösung des Zypern-Problems kaum vorstellbar. Die Teilung der Insel bleibt eine offene Wunde im griechisch-türkischen Verhältnis.


Dr. Ronald Meinardus leitet das Mittelmer-Programm der Hellenischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik (ELIAMEP) in Athen.

Von: 
Ronald Meinardus

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