Lesezeit: 6 Minuten
Europarat, Menschenrechte, Aserbaidschan

Kein Verlass auf den Westen

Kommentar

Aserbaidschan übernimmt am 14. Mai den Vorsitz im Europarat. Doch die Mitarbeit im Gremium hat keinerlei Auswirkungen auf die desolate Menschenrechtslage im Land. Im Kampf für mehr Freiheit wird die Bevölkerung alleingelassen.

Heute, am 14. Mai, übernimmt Aserbaidschan offiziell den Vorsitz des Europarats. Wir erinnern uns: Der Europarat ist die Organisation, die von sich selbst behauptet, »Europas führende Organisation für Menschenrechte« zu sein. Und Aserbaidschan, das ist das kleine ölreiche und korrupte Land am Kaspischen Meer, in dem die Regierung von Präsident Ilham Aliyev dieselben Menschenrechte regelmäßig mit Füßen tritt. Beispiel Pressefreiheit: Von allen 47 Mitgliedsstaaten des Europarates gilt Aserbaidschan als das Land mit den unfreisten Medien.

 

Mehr als zehn Journalisten und Blogger sitzen laut Reporter ohne Grenzen derzeit aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen in Haft, freie kritische Berichterstatter werden immer wieder Opfer von gewaltsamen Übergriffen, Rufmordkampagnen und Drohszenarien. Ein prominenter Fall ist die multimediale Hetze gegen die freie Investigativ-Journalistin und Gerd-Bucerius-Preisträgerin Khadija Ismayilova, die nach Recherchen zur ökonomischen Verstrickung der Präsidentenfamilie mit dem Telekom-Anbieter Azerfon zur Zielscheibe der regierungstreuen Massenmedien und der Justiz wurde.

 

Gleichzeitig leisten verschiedene regierungsnahe Organisationen wie die Londoner »European Azerbaijan Society« des Ministersohns Taleh Heydarov eifrig Lobbyarbeit für positive Berichterstattung über »das Land des Feuers«, wie sie Aserbaidschan gern poetisch nennen. Die reichlich ins Land fließenden Öldevisen werden genutzt, um Journalisten auf sorgfältig vorbereitete Kennenlern-Reisen einzuladen, umstrittene Mega-Events wie der Eurovision Song Contest 2012 werden von PR-Agenturen geschickt in eine Lawine seichter Reiseberichte und staunender »Dubai des Kaspischen Meeres«-Kommentare umgewandelt.

 

Seit 2001 ist Aserbaidschan Mitglied des Europarates. Eine Verbesserung der Menschenrechtslage ist seitdem nicht eingetreten. Im Gegenteil: Noch im Januar 2013 lehnte die Parlamentarische Versammlung des Europarates eine Resolution ab, welche die Freilassung aller politischen Gefangenen forderte. Der Think Tank »European Stability Initiative« forschte nach und fand allerlei Hinweise auf gekaufte Stimmen: »Kaviar-Diplomatie« nannte sie das. Heute gehen Menschenrechtsorganisationen von rund 130 politischen Gefangenen aus, Tendenz steigend.

 

Andreas Gross, Schweizer Nationalrat und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, gab in einem Radiointerview mit dem SRF zu, das Interesse des Ministerrates und der einzelnen europäischen Regierungen, Druck auf Aserbaidschan auszuüben, hielte sich in Grenzen. Zu groß seien die wirtschaftlichen Interessen an der ölreichen Republik und am Konsens im Europarat.

 

Natürlich, was soll man auch erwarten von einem energiehungrigen Europa, dessen drittgrößter Handelspartner im ohnehin hochpolitischen Ölbusiness nach der Hassliebe Russland und dem erstaunlicherweise demokratischen Norwegen das totalitäre Regime von Adelaziz Bouteflika in Algerien ist? Man kann nur hoffen, dass die demokratischen Kräfte Aserbaidschans im In- und Ausland einen langen Atem haben und an einem Strang ziehen. Und dass sie, obwohl sie sich an den Werten und den salbungsvollen Worten des sogenannten Westens orientieren, sich nicht blind auf diesen verlassen.

Von: 
Sara Winter Sayilir

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.