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Erinnerung an die Nakba

Identität durch Erinnerung

Kommentar

Die Erinnerung an die »Nakba« hat für 2. Generation im Exil etwas Ambivalentes. Der schwäbische Palästinenser Imad Mustafa beschreibt, welchen Stellenwert das Gedenken an Heimat und Vertreibung heute hat.

Als am 14. Mai 1948 der Staat Israel auf dem Territorium des Mandatsgebiets Palästina ausgerufen wurde, erlebte die Vertreibung von 750.000 Palästinensern aus ihren Häusern, Dörfern und Städten ihren Höhepunkt. Damit jährt sich in diesem Monat das Gedenken an die Nakba, die palästinensische »Katastrophe«, zum 64. Mal.

 

Wenn ich als kleines Kind im Auto meiner Eltern saß und wir irgendwohin fuhren, dann dröhnten aus den Lautsprechern meistens palästinensische Revolutionslieder, in denen es um Märtyrertum, Befreiung und Kampf ging. Es waren die wilden 1980er und der bewaffnete Befreiungskampf der Palästinenser befand sich auf seinem historischen Höhepunkt.

 

Damals hatte ich noch keine Ahnung von dem, was da gesungen wurde, geschweige denn von der Nakba. Schließlich hatte ich die Heimat meiner Eltern noch nie gesehen. Trotzdem hatte ich ein intuitives, emotionales Verständnis für das Gehörte. Vielleicht waren es die Melancholie, vielleicht der revolutionäre Eifer, die sich in den Stimmen der Sänger abwechselten und bei mir einen bleibenden Eindruck hinterließen. Immer aber fiel mir die große Inbrunst auf, mit der diese Lieder gesungen wurden und mich traurig auf dem Rücksitz des Autos zurückließen.

 

Wenn ich heute, viele Jahre später, zurückblicke, wundert es mich, wie selbstverständlich es für mich als Kind war, in diesem Gegensatz zu leben – in Deutschland zu sein, aber mit palästinensisch-arabischer Identität aufzuwachsen.

 

Ob in den Lagern des Libanon, Syriens, Jordaniens oder im europäischen und amerikanischen Exil: Für mich macht dieser merkwürdige Gegensatz den Kern der palästinensischen Erinnerungskultur aus. Unabhängig von Zeit und Ort ist sie mehr als bloßes Gedenken an die Nakba. Sie ist ein ständiges Tradieren palästinensischer Identität durch Erziehung, Erzählungen der Älteren und Musik sowie den nationalen Symbolen, wie der Kuffiyeh und den eisernen Schlüsseln der 1948 verlassenen Häuser.

 

Im Exil wurde die Erinnerung zur einzigen Möglichkeit der Errichtung einer Gemeinschaft

 

Auch meine Eltern erzählten mir immer wieder von Palästina, seiner Schönheit im Frühling, der Unbekümmertheit des Lebens dort und von der Olivenernte, an der die ganze Familie beteiligt war. Auch mir wurde von meinen Eltern immer wieder gesagt, dass wir Palästinenser seien, dass ich Palästinenser wäre und wir eines Tages dorthin zurückkehren würden. Daran zu zweifeln oder dies sogar abzulehnen kam mir gar nicht in den Sinn. So wurde auch ich, fernab von Palästina, zum Träger der palästinensischen Identität und Erinnerung, wie viele andere Nachgeborene auch.

 

Wie sollte es auch anders sein, mag man denken, da der Kristallisationspunkt in der Geschichte dieses Volkes, die Vertreibung aus der Heimat, ein solch negatives Ereignis war, und das zudem zum Bezugspunkt für die Entstehung seines Nationalbewusstseins wurde.

 

Das Erinnern an dieses Ereignis und die damit verbundene Tradierung palästinensischer Kultur und Geschichte wurde, auch im Exil, zur einzigen Möglichkeit der Errichtung einer Gemeinschaft. Drückte sich unmittelbar nach der Nakba darin noch die Zuversicht aus, bald in die Heimat zurückkehren zu können, wurde daraus mit zunehmender Dauer ein Erinnern gegen das Vergessen, so als ob mit dem Vergessen auch die alte Heimat endgültig verloren gehen würde. Und so lebt die Hoffnung der Menschen auf Rückkehr in ihre Häuser in ihren Kindern und Enkeln fort.

 

Auf diese Weise verwandelt sich das bloße Erinnern Vertriebener zum politischen Imperativ einer ganzen Gesellschaft. Es wird zu einer unausgesprochenen Verpflichtung, die im kollektiven Bewusstsein der Palästinenser fast den Stellenwert von etwas Heiligem hat.

 

Umgekehrt stellt Zweifel am tradierten Narrativ ein Sakrileg dar

 

Umgekehrt stellt Zweifel am tradierten Narrativ ein Sakrileg dar. Das Rückkehrrecht ist fester Bestandteil der palästinensischen politischen Kultur über alle Parteigrenzen hinweg. Die Palästinenser selbst sehen darin den stärksten Ausdruck ihres »sumud«, des Standhaltens im Angesicht eines übermächtigen Gegners. Andere, die darin nur  irrationalen Trotz wie bei einem Kind sehen, berücksichtigen die ungelöste Lage der vertriebenen Palästinenser nicht.

 

Es ist vielleicht eine Mischung von beidem: Ich nenne es widerständigen Trotz gegen das Schicksal, gegen die Besetzung, die anhaltende Vertreibung und Einverleibung weiterer Gebiete, gegen das Vergessen, aber für die Rückkehr und für die Gerechtigkeit.

 

Ja, vielleicht ist das idealisierte Palästina der Vertriebenen nicht mehr als eine Erinnerung, vielleicht war es das nie, vielleicht wird es nie mehr sein, als das. Eine Erinnerung, die im kollektiven Bewusstsein der Palästinenser fortlebt, die man ihnen nicht wegnehmen kann. In Palästina und auf der ganzen Welt.

 


Imad Mustafa, 30,

ist gebürtiger Schwabe mit palästinensischem Migrationshintergrund. Er studierte Politik- und Islamwissenschaft an der Universität Heidelberg und der Universität Frankfurt, ein Jahr davon in Damaskus. Er schreibt u.a. für den Blog migrantenstadl.

Von: 
Imad Mustafa

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