Regisseurin Pary El-Qalqili sucht in ihrer Dokumentation »Schildkrötenwut« eine Annäherung an ihren palästinensischen Vater. Statt einfacher Antworten bietet der Film ein komplexes Porträt einer Vater-Tochter-Beziehung.
»Setz dich mal hier hin, jetzt setzt dich doch bitte mal hier hin!«, sagt eine junge Frau appellierend und ein bisschen gereizt zu einer anderen Person, die sich außerhalb des Bildes befindet. Man sieht, neben ihrer Silhouette, zunächst nur einen kargen Raum mit schwarzweißen Kacheln auf dem Boden. An der Wand der Kellerecke, als einziger Schmuck zwei Steckdosen, davor ein dünnes Sitzkissen, was kaum die Sterilität der Fliesen bezwingen kann. Die Lichtquelle des Raums: eine nackte Glühbirne, die den Raum nur spärlich beleuchtet, die Kontraste verstärkt und der es gerade gelingt, den Radius um das Sitzkissen zu erhellen.
Die Frau ist Pary El-Qalqili, eine deutsch-palästinensische Dokumentarfilmerin, die sich in ihrem Film »Schildkrötenwut« mit ihrem Vater Musa, dessen Vergangenheit und seinem aktuellen Dasein auseinandergesetzt. Was zunächst als rein biografischer Film geplant war, wurde auch ein Film über eine Vater-Tochter-Beziehung, über dringende Fragen, mögliche und unmögliche Antworten und den Versuch, sich miteinander auseinander zu setzen, sich kennen und verstehen zu lernen.
Die zentrale Frage für Pary El-Qalqili ist die nach Musas Beweggründen, seinem Leben in Berlin und damit auch dem Entschluss, seiner Familie den Rücken zu kehren, für einen Traum vom Hausbau und einem Leben in seiner ursprünglichen Heimat. Mit dem Film macht sie sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihres Vaters, folgt ihm in seine Heimat und konfrontiert sich mit seinen Wurzeln, die auch ihre sind und ihn mit ihren Fragen.
Eine Begegnung zwischen Neugier und Wut
Der Film beeindruckt mit den kontraststarken Bildern, die den Vater in Berlin und in Palästina zeigen. Der Zuschauer bemerkt eine Wesensänderung zwischen dem Mann im Wald oder im Kellergeschoß des Reihenhauses und dem in Palästina, auf den langen Taxifahrten, im Kontakt mit zufälligen Bekanntschaften oder seinen Verwandten.
Wirkt ersterer wie ein eingesperrtes Tier, das vor der randstädtischen Enge in den Grunewald flüchtet, fast verbissen Holz sägt oder unermüdlich Schnee schippt, erscheint letzterer befreit, lebendig und wirkt um fast zehn Jahre jünger. Es macht den Eindruck, als hätte man ihn in Palästina in die Freiheit gelassen, was vor dem Hintergrund von israelischen Grenzkontrollen, Absperrungen und der großen Mauer nachdenklich stimmt und berührt.
Immer wieder unterbrochen werden die Aufnahmen von der wiederkehrenden Kellerszene, in der Vater und Tochter gemeinsam auf dem schmalen Kissen sitzen, redend, streitend und manchmal hilflos schweigend. Der Zuschauer spürt die ungebrochene Zuneigung der Tochter zu ihrem Vater, ihre Neugier aber auch ihre Wut auf diesen Mann, der vor allem traumatisierter Flüchtling, resignierter Kämpfer, gebrochener Mensch und irgendwo bei diesen vielen Schicksalen auch Vater ist. Der aber viel und lange weg war; physisch und noch immer psychisch.
Der Film liefert keine Lösungen, er stellt Fragen, sucht nach Antworten und hinterlässt neue Fragen. Das Unaussprechliche bleibt unausgesprochen, wird angedeutet, es bricht zwischendurch hervor, in Fragmenten, die kurz aufblitzen und andeuten, was verdrängt wurde und wird.
Der Zuschauer stellt sich nach dem Film auch Fragen und denkt noch lange nach über dieses Bild zweier Menschen, die sich einerseits nah und gleichzeitig aber unüberwindbar getrennt sind durch die Erfahrungen und Erinnerungen des Vaters und sein Unvermögen, sie mit seiner Tochter zu teilen. Lesen Sie hier ein Interview mit Regisseurin Pary El-Qalqili auf Alsharq.de.
Schildkrötenwut
Buch & Regie: Pary El-Qalqili
Kamera: Aline László
Produktion: Kaissar Film in Coproduktion mit arte und Bayerischer Rundfunk in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Fernsehen und Film
Länge: 70 Minuten