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Diplomatischer Druck und der Nahostkonflikt

Zwei ungleiche Seiten

Kommentar

Eigentlich kann nur eine Seite den Nahost-Konflikt beenden. Die pragmatischen Mehrheiten in der palästinensischen und israelischen Bevölkerung wären da, doch internationaler Druck auf die Regierung Netanjahu ist unerlässlich.

Nicht selten beginnen Statements deutscher Politiker zum Nahost-Friedensprozess mit der Formel »Beide Seiten müssen…«.Sicherlich kommen sich alle, die diese gewichtigen Worte in den Mund nehmen, dabei würdevoll und staatsmännisch vor. Diese Floskel ist jedoch das, was der Journalist Glenn Greenwald in seiner Kritik der Mainstream-Presse in den USA als »false equivalence«, also falsche Gleichsetzung, bezeichnet.

 

Die regierungshörige Presse in den USA, so Greenwald, setzt in ihrem Versuch unparteiisch zu bleiben, ein Narrativ einem anderen gegenüber und behandelt sie gleichwertig, auch wenn eines offensichtlich falsch ist. Damit wurden etwa Falschdarstellungen und Verzerrungen von »Spin-Doktoren« der amerikanischen Regierung vor dem Irakkrieg 2003 aufgewertet und legitimiert. Indem die Staatengemeinschaft Israelis und Palästinenser fälschlicherweise als im Grunde ebenbürtige Verhandlungsparteien gleichsetzt, verfällt sie wieder und wieder einem Phänomen, das die Bloggerin Elisheva Goldberg »Verhandlungsfetischismus« nennt.

 

Nur Israel kann den Konflikt lösen

 

Premierminister Netanjahu gibt sich zwar gesprächsoffen; jedoch unternimmt die israelische Regierung keinerlei Schritte, die ein Ende der Besatzung näher bringen. Im Gegenteil: Durch immer neue Siedlungen werden »Fakten« geschaffen, die sehr schwer zurückzunehmen sind. Im sogenannten Nahost-Konflikt ist eigentlich ganz eindeutig, wer die Karten in der Hand hat. Die israelische Regierung hält das Westjordanland besetzt und hält eine nahezu komplette Blockade des Gazastreifens aufrecht.

 

Das israelische Militär kontrolliert den Luftraum, die Grenzen, die Wasser- und Bodenressourcen, die Bewegungslinien innerhalb des Westjordanlands und überwacht die palästinensische Kommunikation. Palästinenser müssen ohnmächtig dem rasanten Ausbau der illegalen Siedlungen zuschauen. Gleichzeitig werden immer mehr Häuser von Palästinensern in Ost-Jerusalem und im sogenannten C-Gebiet (über 60 Prozent des Westjordanlands) mit Abrissverfügungen belegt – ein Damoklesschwert das jederzeit fallen kann und für viele tausend Palästinenser eine existentielle Bedrohung darstellt.

 

Auch auf den »Inseln« des Westjordanlands, auf welchen formal die Palästinensische Autonomiebehörde das Sagen hat, führt das israelische Militär jährlich mehrere Tausend Razzien durch. Wenn der Präsident der Palästinensischen Behörde, Mahmud Abbas, ins Ausland reisen möchte, braucht er eine Genehmigung von den israelischen Behörden. Die staatlichen israelischen Wasserwerke haben die Kontrolle über nahezu das gesamte Wasserversorgungssystem im Westjordanland. Das C-Gebiet steht de facto fast nur den Bau- und Landwirtschaftsaktivitäten der Siedler offen.

 

Der Konflikt ist für die meisten Israelis weit weg

 

Israel hat angesichts dieser Machtasymmetrie aktuell kaum Anreize, die bereits 46 Jahre andauernde Besatzung der Palästinensischen Gebiete zu beenden. Auch wenn die Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Zwei-Staaten-Lösung akzeptiert, ist diese Einstellung unter den Politikern kaum ausgeprägt. Für die Mehrheit der Israelis ist die Besatzung etwas Abstraktes, mit dem sie nicht in Berührung kommen. Selbst während des Militärdienstes kommt nur ein Teil der Soldaten im Westjordanland zum Einsatz.

 

Wer in Tel Aviv lebt, nimmt die Besatzung nicht wahr. Dort lebt man sicher; die größten Sorgen für viele Menschen dort bereiten die steigenden Preise für Immobilien und Lebensmittel. Dagegen bildet der Siedlerblock eine sehr gut organisierte politische Front, die im Stande ist, die israelische Politik durch die Besetzung von Schlüsselposten in den Ministerien und den nachgeordneten Behörden zu dominieren.

 

Auch die großen landwirtschaftlichen Betriebe der völkerrechtlich illegalen Siedlungen im Jordantal sind inzwischen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor – ein Großteil des dort produzierten Gemüses und Obsts wird nach Europa exportiert. Die Entdeckung eines großen Ölfeldes im Westjordanland könnte weitere Gelder aus der Besatzung in den israelischen Haushalt fließen lassen.

 

Israel hat alle Karten in der Hand – außer dem »Demografie-Joker«

 

All dies zeigt: Nur eine Seite kann den Konflikt beenden. Israels Regierung könnte durch die Ankündigung eines Rückzugs zu den Grenzen von 1967 und damit der Aufgabe der illegalen Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens dem Konflikt nahezu von heute auf morgen unilateral ein Ende setzen. Auch wenn es weiterhin palästinensische Stimmen gibt, die sich mit der  Existenz Israels nicht abfindet, so befinden sich diese inzwischen in der Minderheit.

 

Die Mehrheit der Palästinenser ist bereit, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 Seite an Seite mit dem Staat Israel zu akzeptieren. Das liegt im Interesse Israels: Denn ungebremster Siedlungsbau und die wirtschaftliche Ausbeutung des Westjordanlands werden das Land zunehmend in die Isolation treiben.

 

Ohne Frage befindet sich Israel derzeit auf dem gefährlichen Weg hin zu einem Apartheidsstaat; darüber können auch der Friedensprozess und die Existenz einer weitgehend machtlosen Palästinensischen Autonomiebehörde nicht hinwegtäuschen. Je offensichtlicher dies wird, desto weniger kann die Staatengemeinschaft, vor allem die EU und die USA, trotz ihres Interesses an stabilen Beziehungen mit Israel darüber hinwegsehen.

 

Wie die Staatengemeinschaft tatsächlich »beiden Seiten« helfen kann

 

Wenn Israel verhindern möchte, sich zwischen seinem jüdischen und seinem demokratischen Charakter entscheiden zu müssen, gibt es für das Land keine Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung. Nach eigener Aussage der israelischen Regierung hat die demografische Entwicklung zwischen Mittelmeer und Jordan inzwischen eine palästinensische Mehrheit hervorgebracht.

 

Jedoch ist die israelische Politik nicht fähig oder willens, das politisch kostspielige Zugeständnis zu machen, das Westjordanland aufzugeben und damit den mächtigen Siedlerblock gegen sich aufzubringen. Durch gezielten Druck (etwa in Form von Kennzeichnung von Siedlungsprodukten, Unterstützung palästinensischer Infrastrukturentwicklung in den sogenannten C-Gebieten sowie Unterstützung für einen eventuellen Gang der Palästinenser vor den Internationalen Strafgerichtshof) kann die Staatengemeinschaft der israelischen Regierung helfen, die pragmatische israelische Mehrheit politisch zu mobilisieren und Unterstützung für diesen schwierigen aber für die Zukunft des Staates Israel notwendigen Gang zu bekommen.

 

Dabei muss die Staatengemeinschaft sich aber auch darauf gefasst machen, mit Widerständen und harscher Kritik konfrontiert zu werden.


Jakob Rieken ist Projekt-Manager bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem. Der Artikel stellt die Meinung des Autors dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Von: 
Jakob Rieken

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