Zeina Abirached erzählt in »Ich erinnere mich« von ihrer Kindheit im Bürgerkrieg. Doch der Comic ist vor allem deshalb lesenswert, weil er so vieles nicht zeigt.
Wenn Libanesen über den Bürgerkrieg in ihrem Land sprechen, bekommt er häufig einen anderen Namen: Er heißt dann »die Ereignisse«. Das ist insofern zutreffender, als sich zwischen 1975 und 1990 nicht ein Krieg zugetragen hat, sondern ein Mosaik vieler Kämpfe zwischen wechselnden Allianzen und Parteien. Und so erzählt Zeina Abirached in ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Comic »Ich erinnere mich« keine durchgängige Geschichte, sondern trägt ein Mosaik der Erinnerungen zusammen. 1981 geboren, scheint ihre Kindheit in Ostbeirut bruchstückhaft und schlaglichtartig durch, fast ohne Chronologie.
Vielmehr steht jede Seite für einen eigenen Mosaikstein, und es liegt am Betrachter, sie zusammenzufügen und das ganze Bild zu sehen. Das Buch ist zwar schwarz-weiß gezeichnet, doch die Erinnerungen sind es nicht: das Familienauto mit den Einschusslöchern, der erste Kurzhaarschnitt, japanische Zeichentrickserien, Nächte im Schutz der Schulturnhalle… Die Kindheit Abiracheds erscheint ebenso bunt wie viele andere. Dabei bleibt der Krieg immer präsent und ist nie zu sehen: Zur Schule fährt sie mit dem Taxi, denn der Schulbus wagt sich nicht in ihr Viertel hinein.
Allerdings erzählt sie nur vom überlangen Fingernagel des Taxifahrers und nichts über die Gefahren auf dem Schulweg; der Leser ist gezwungen, sie sich vorzustellen. Als sie zum Ende des Krieges mit ihrer Familie nach Westbeirut flüchtet, ist sie überrascht, dass die Menschen dort auch Arabisch sprechen – sie kann nicht glauben, dass sie immer noch in der gleichen Stadt ist. Durch die Augen eines Kindes erlebt der Leser den Krieg, und durch die einer Erwachsenen blickt er auf ihn zurück.
Als 2006 der Sommerkrieg zwischen der Hizbullah und Israel losbricht, ist Abirached in Paris. Zwischen ihr und ihrer Familie klafft eine Schlucht, ihre Mutter versucht sie mit SMS zu überbrücken, doch vergeblich: »Ich weiß, dass das, was sie erlebt haben, in all den SMS steckt, die sie mir nie geschickt hat.« So wie in ihrem Comic alles auf den Seiten steht, die Abirached nie gezeichnet oder einfach nur schwarz gelassen hat: Keine einzige Waffe ist auf den 95 Seiten abgebildet, und warum der Vater im Krieg beginnt, extrem laut Wagner zu hören, bleibt offen; sie erzählt es einfach.
Jahre später liegt sie bei Gewitter panisch im Bett und denkt an die Bomben ihrer Kindheit. Die Bomben werden aus all dem für den Leser greifbar, ohne dass er sie sieht. So ist »Ich erinnere mich« ein eindrücklicher Comic, den man ebenso gut in zehn Minuten durchblättern wie auch über mehrere Tage verteilt studieren kann. Beides lohnt sich.
Ich erinnere mich
Zeina Abirached
Avant-Verlag, 2014
96 Seiten, 14,95 Euro