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Big Data am Hindukusch?

Big Data am Hindukusch?

Feature

Statistische Studien versuchen, Afghanistan fassbar zu machen. Martin Gerner hat zwei jüngste Untersuchungen zum Anlass genommen, über die Aussagekraft der wachsenden Anzahl an Umfragen zu reflektieren.

Die »Asia Foundation«, eine US-Organisation, die sich laut Eigendarstellung der Stärkung von Zivilgesellschaften in 18 asiatischen Ländern verschrieben hat, veröffentlicht am 18. November 2014 zum zehnten Mal ihren jährlichen »Survey of the Afghan People«. Das ist viel, in einem Land, das bislang über wenig gesicherte Statistiken verfügt. Nicht einmal die genaue Zahl der Einwohner von Afghanistan ist bekannt.

 

Auch ein Melderegister für die Menschen im Land gibt es bislang nicht, weshalb bei jeder Wahl bisher maßgebliche Manipulationen und Fälschungen ebenso möglich sind wie der massive Handel mit Wählerausweisen. Zugleich – und als Folge internationaler Gelder, deren Bürokratien und Institutionen bemüht sind, ihre Investitionen nach Afghanistan mit positiven Schlagzeilen zu belegen – boomt das Geschäft mit Studien und Umfragen in diesem Jahr des Abzugs des internationalen Militärs.

 

Das scheint kein Zufall zu sein. So entsteht der Eindruck, mittels dieser Studien könne über »Big Data« der Eindruck wettgemacht werden, Afghanistan lasse sich nicht beherrschen, schon gar nicht wissenschaftlich. Viele der oft über 100 Seiten starken Untersuchungen kommen mit großen, bunten Diagrammen und ästhetisierenden Grafiken daher. Sie wirken oft wie eine einfache Antwort auf komplexere Wirklichkeiten. Afghanistan lässt sich also doch domestizieren – und somit für uns Auswärtige verstehen – lautet die Botschaft.

 

In diesen Trend der Umfragen passt auch eine neue Studie der Kabuler Tageszeitung Hasht-e Subh (zu Deutsch: »8 Uhr am Morgen«). Die Zeitung ist bei den wenigen regelmäßigen Lesern in Kabul beliebt, aber durch statistische Untersuchungen bisher nicht aufgefallen. Nun wird auf 107 Seiten dargestellt, was die afghanische Bevölkerung von der neuen Ghani-Regierung erwartet.

 

Finanziert wird die Studie von »Tawanmandi«, einem »Konsortium zur Stärkung der afghanischen Zivilgesellschaft«, das laut Website von den Regierungen Dänemarks, Norwegens, Schwedens, der Schweiz und Großbritanniens finanziert wird. Um es vorwegzunehmen. Die Ergebnisse der beiden hier erwähnten Studien bleiben – gerade im Verhältnis der investierten Mittel – sehr  allgemein. Man könnte auch sagen unpräzise.

 

Bei näherem Hinsehen stellen sich zugleich eine Reihe von Fragen an Exaktheit und Glaubwürdigkeit der Ergebnisse. 54,7 Prozent der Afghanen, so der Survey der »Asia Foundation«, finden, dass Afghanistan sich »in die richtige Richtung bewege«. Zugleich – so die Umfrage von Hasht-e Subh – erwarteten mehr als 90 Prozent der Afghanen von der neuen Ghani-Regierung, dass sie Korruption zunächst und vor allem auf Ebene der Regierung bekämpfen solle.

 

Wer in Afghanistan schon einmal Interviews vorbereitet und geführt hat, weiß, dass es Zeit braucht, damit sich die Menschen dem Fremden für sein fragendes Unterfangen öffnen – gleich ob dieser Fremde ein Ausländer ist oder ein Einheimischer aus einer der afghanischen Metropolen.

 

Durchschnittlich 38 Minuten pro befragter Person (»Asia Foundation«) erscheinen damit als recht wenig Zeit pro Befragung, zumal acht von zehn Befragten auf dem Land befragt worden seien, so die Studie. Auf dem Land sind Fragekonzepte mit Multiple-Choice-Verfahren insgesamt fremd, selbst wenn es Menschen betrifft, die sich vielleicht schon zum zweiten Mal an der Umfrage beteiligen.

 

77 Prozent der befragten Afghanen haben Angst, wenn sie auf ISAF-Truppen treffen

 

Natürlich liegt die Idee, vor allem die ländliche Bevölkerung für solche Studien zu befragen, auf der Hand, denn von ihr erfährt man in unseren Medien wenig. Zugleich schlägt hier der Puls des Landes. Allerdings ist Vorsicht bei der Rezeption der Daten noch aus einem anderen Grund angebracht: Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass oft schon Besuche bei Familien im Speckgürtel beziehungsweise in den unmittelbaren Einzugsgebieten der größeren afghanischen Städte als »ländliche Bevölkerung« in die Statistik einfließen.

 

Oft genug bleiben die tief in Tälern und auf Bergmassiven lebenden Afghanen nicht erreichbar – zum einen weil es zeitlich wie finanziell aufwendig ist. Zum anderen weil es die Sicherheitslage nicht erlaubt. So spiegeln die Ergebnisse einer Reihe von Studien nur bedingt die Ansichten des Landes in seiner menschlichen Vielfalt wider. Die »Asia Foundation« hat ihre über 9.000 Interviewpartner vom 22. Juni bis 8. Juli 2014 befragt.

 

Also unmittelbar nach der umstritten Stichwahl um das Präsidentenamt und bevor das politische Hickhack um gefälschte Stimmauszählungen sich zuspitzte – kein glücklicher Zeitpunkt. Tatsächlich zeichnete sich (an zu) damals die Lähmung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft längst ab. Und natürlich blieben die Wähler davon nicht unberührt.

 

Insofern darf gemutmaßt werden, inwieweit sich die für die Studie Befragten überhaupt freimütig geäußert haben. Im Kontext konfliktsensibler Umfragen in Kriegs- und Krisengebieten erscheinen solche Einschränkungen nur logisch. Zugleich beschreibt es den schmalen Grat, auf dem statistische Untersuchungen in Afghanistan seit Jahren stattfinden. Offen ausgesprochen wird dieses Dilemma von der Forschung nicht.

 

Vielmehr sprechen die Einleitungen zur Methodologie mit der notwendigen Diplomatie von Standortnachteilen, denen man mit möglichst großer Sachlichkeit und Genauigkeit zu begegnen versuche. Meine eigenen Erfahrung in Afghanistan in den letzten Jahren besagt: Es braucht in der Regel viel Vertrauen – und damit Zeit und Einfühlvermögen – damit der Fragende von der interviewten Person eine möglichst offene, authentische und damit belastbare Antwort bekommt.

 

Im umgekehrten Fall kann bei den Befragten – nicht ganz zu Unrecht – der Verdacht entstehen, dass mit den Umfragen Politik gemacht würde.  Tatsächlich interessant sind die in den beiden Studien genannten Zahlen, für die man etwas länger stöbern muss. So haben 77 Prozent der befragten Afghanen Angst, wenn sie auf ISAF-Truppen treffen.

 

Dies ist in etwa das Gegenteil des Bildes, das die offizielle Politik vermittelt. Leider liefern die Umfragen keine Antwort zu den Gründen. Ähnlich ist es beim Blick auf den bewaffneten Widerstand. Immerhin 32 Prozent äußern »große« oder »eine gewisse Sympathie« für Taliban und Aufständische. Auch hier bleiben die Hintergründe unklar.

 

Die qualitative Analyse von Daten im afghanischen Kontext steht oft noch aus

 

Womit ein weiteres Defizit angesprochen ist: die Untersuchungen erschöpfen sich allein im quantitativen Sammeln von Daten. Eine qualitative Analyse, die Beweggründe und den Wechselbeziehungen von Ursache und Wirkung nachgeht, sucht man vergeblich. Damit aber steckt die Wissenschaft genau in jenem Dilemma, die sie einer anderen Zunft von Interviewenden, zum Beispiel den Journalisten, gerne vorwirft.

 

Beide Seiten treten an dem Punkt auf der Stelle. Die qualitative Analyse von Daten im afghanischen Kontext steht – entgegen dem, was die Studien gerne suggerieren – oft noch aus. Dafür müsste vor allem mehr interdisziplinär gearbeitet werden. Überwiegend werden vergleichbare Afghanistan-Studien noch immer von ausländischen Wissenschaftlern angeleitet, konzipiert und ausgewertet.

 

Die Teams aus afghanischen Interviewern, die die Menschen auf dem Land befragen und dort als kulturelle Türöffner dienen, sind vor allem im ersten Jahrzehnt nach 2001 oft nützliches Werkzeug gewesen. In den vergangenen Jahren bemüht man sich nun nach und nach, sie stärker in die konzeptionelle Arbeit einzubinden.

 

Mittlerweile gibt es unabhängige Beratungsunternehmen aus jungen, im Ausland studierten afghanischen Akademikern, die vergleichbare Studien selbst anlegen und veröffentlichen. Auch sie bleiben allerdings häufig genug auf internationale Hilfsgelder angewiesen. Laut Survey der »Asia Foundation« gehören neben den USA übrigens Japan, Indien und Deutschland zu den »meistgenannten« Ländern für Entwicklungshilfe in Afghanistan.

 

Ob sie damit automatisch auch die am meisten »anerkannten« (»recognized«) Länder sind, wäre eine qualitative Nachfrage wert. 40 Prozent der Befragten geben jedenfalls an, gar nicht zu wissen, mit wessen Geld das jeweilige Hilfsprojekt vor ihrer Haustür finanziert worden ist.

Von: 
Martin Gerner

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