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Armee und Muslimbrüder in Ägypten

Zur Zusammenarbeit gezwungen

Analyse

Nach dem Angriff von Extremisten auf ägyptische Grenzposten auf dem Sinai rücken Armee und Muslimbrüder zusammen – ein Hinweis auf das künftige Machtarrangement der politischen Antagonisten am Nil?

Der Überfall auf einen Polizeiposten an der ägyptisch-israelischen Grenze unweit des Gaza-Streifens am frühen Sonntagabend kostete nach Angaben der staatlichen ägyptischen Nachrichtenagentur MENA und des ägyptischen Staatsfernsehens mindestens 16 ägyptischen Grenzpolizisten und fünf Angreifern das Leben. Staats-TV und ägyptische Militärangehörige bezichtigten islamistische Extremisten der Urheberschaft, offiziell hat sich bisher niemand zu dem Anschlag bekannt.

 

Schwer bewaffnete Angreifer hatten ersten Erkenntnissen zufolge kurz nach dem Fastenbrechen am frühen Abend den ägyptischen Stützpunkt in der Provinz El-Arish überfallen, zwei gepanzerte Armeefahrzeuge entwendet und damit versucht, den Grenzübergang nach Israel in Karm Abu Salem zu überqueren.

 

Wie der israelische Militärrundfunk berichtet, waren die israelischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste frühzeitig über mögliche Angriffe ausgehend von ägyptischem Boden informiert und die israelische Luftwaffe konnte beide Fahrzeuge zerstören, bevor sie die Grenze überqueren konnten. Ein Sprecher des ägyptischen Präsidenten Muhammad Mursi bezeichnete die Angriffe als »feige Attacke« und kündigte eine »harte Antwort« auf den Überfall an.

 

Das ägyptische Militär verlegt derweil massiv Truppen auf die Sinai-Halbinsel. Neben gepanzerten Fahrzeugen und frischem Personal sollen Helikopter in die Provinzhauptstadt El-Arish und die Grenzstadt Rafah verlegt worden sein. Die Nachrichtenagentur dpa berichtet zudem über Armeekontrollen an allen Zufahrtsstraßen zum Sinai.

 

Entführungen, Schmuggel und Anschläge machen den Sinai zur Unruheprovinz

 

Die Sinai-Halbinsel ist vor allem seit der Ägyptischen Revolution und dem Rücktritt des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak im Februar 2011 vermehrt Schauplatz von Entführungen ausländischer Touristen und Auseinandersetzungen zwischen Schmugglern, Beduinen und Ägyptens Polizeiapparat.

 

Zudem werden auf dem Sinai ansässige Islamisten für zahlreiche Raketenabschüsse auf Israel sowie regelmäßige Anschläge auf die im Nord-Sinai verlegte Gaspipeline, die Israel und Jordanien mit vergünstigtem ägyptischem Erdgas versorgt, verantwortlich gemacht. Erst im Juni mehrten sich Reisewarnungen für den Sinai seitens europäischer Behörden und dem State Department in Washington, nachdem mehrfach Touristen von Beduinen entführt worden waren.

 

Noch am Wochenende hatte das US-Außenministerium die Reisewarnung für die Region aktualisiert und verschärft. Präsident Mursi traf sich noch am Abend mit Vertretern des Obersten Armeerates, um die Eskalation der sicherheitspolitischen Situation in der Ostprovinz des Landes zu besprechen.

 

Ein ranghoher Vertreter der ägyptischen Sicherheitsbehörden bezichtigte palästinensische Extremisten des Angriffes, sie seien durch einen der zahlreichen illegalen Versorgungstunnel zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen auf den Sinai eingesickert und hätten schließlich ihren Angriff auf die nicht derart stark bewachte ägyptisch-israelische Grenze lanciert.

 

Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak bezeichnete den Überfall als »Weckruf« für Ägyptens Regierung, sich endlich intensiver mit dem Sicherheitsproblem auf dem Sinai zu beschäftigen. Trotz der Klausel im Friedensvertrag zwischen Tel Aviv und Kairo von 1979, die eine reduzierte ägyptische Militärpräsenz auf dem Sinai vorsieht, hatte Israel 2011 eine zusätzliche Entsendung von schwerem Gerät und Personal auf die Halbinsel gefordert und zugelassen.

 

Der führende Hamas-Funktionär Mahmud Al-Zahar betonte gegenüber der staatsnahen ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram und als Antwort auf Vorwürfe, die Hamas stünde hinter dem Überfall, dass diese nichts mit dem Angriff zu tun habe. Im Gegenteil, Hamas sorge sich um Ägyptens Sicherheit und würde »niemals Waffen auf die ägyptische Armee richten«.

 

Währenddessen berichtet Al-Ahram, dass der einzige Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen in Rafah Sonntagabend geschlossen worden sei. Kurz nach seiner Amtseinführung vor fünf Wochen hatte Präsident Mursi noch angekündigt, den Grenzverkehr zwischen Gaza und Rafah in Ägypten zu lockern – trotz massiver Kritik seitens der israelischen Regierung.

 

Während die israelische Tageszeitung Haaretz schreibt, im israelischen Grenzgebiet seien gestern zahlreiche aus dem Gaza-Streifen abgeschossene Raketen eingeschlagen, beruft sich Al-Ahram auf Augenzeugenberichte und berichtet über Artillerie- und Granatenangriffe der israelischen Luftwaffe auf den Gaza-Streifen.

 

Für die innenpolitische Stabilisierung am Nil muss der Machtkampf zwischen Militärs und Muslimbrüdern beendet werden

 

Die sicherheitspolitische Eskalation auf dem Sinai und im Gaza-Streifen sowie die Rhetorik von Präsident Mursi und Ägyptens mächtigen Militärs um den Armeerats-Vorsitzenden und neu inthronisierten Verteidigungsminister Feldmarschall Hussein Tantawi sind zudem Anzeichen einer Beruhigung der innenpolitischen Instabilitäten in Ägypten nach Mursis Amtsantritt Ende Juni.

 

Die Dissonanzen zwischen den herrschenden Militärs und den Mursi nahe stehenden Muslimbrüdern, die aus den ersten Parlamentswahlen in der Post-Mubarak Ära als klare Sieger hervorgegangen waren, gipfelte im Juli in der Wiedereinsetzung des Parlamentes durch Präsident Mursi per Dekret.

 

Das Verfassungsgericht, das auf Grundlage der Interimsverfassung von 2011 operational tätig ist, hatte kurz zuvor das ägyptische Unterhaus für verfassungswidrig erklärt, kurzerhand aufgelöst und damit nach der kurzweiligen Beruhigung der innenpolitischen Situation in Ägypten fast eine Staatskrise ausgelöst.

 

Der Armeerat vollzog vor und nach Bekanntgabe des Wahlsieges von Mursi eine Reihe an Manövern zur Machtbeschränkung des neuen Präsidenten, vor allem um den wirtschaftspolitischen und außenpolitischen Status Quo Ägyptens und die privilegierte Machtposition des Militärs abzusichern. Anfang Juli besuchten der deutsche Außenminister Guido Westwelle und US-Außenministerin Hillary Clinton Ägypten und trafen sich demonstrativ mit dem neu gewählten Staatsoberhaupt.

 

Der Westen ist an einer zügigen Stabilisierung des Landes und einer Integration der Muslimbrüder in den ägyptischen Staats- und Machtapparat interessiert, schließlich bieten sich die Muslimbrüder aufgrund ihrer wirtschaftsliberalen Ausrichtung als neuer strategischer Partner am Nil geradezu an.

 

Doch für eine innenpolitische Stabilisierung am Nil ist die Beendigung des Machtkampfes zwischen Militärs und Muslimbrüder dringend notwendig, die Integration der Muslimbrüder und ihres politische Arms, der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), ist nicht nur zur Erhaltung des wirtschaftspolitischen Status Quo dringend geboten, sondern auch vor dem Hintergrund der Bedeutung Ägyptens für den Nahostkonflikt und der Spekulationen um die mögliche Aufkündigung des Friedensvertrages zwischen Tel Aviv und Kairo, sollten die Konservativen an der Exekutive beteiligt werden.

 

Der Friedensvertrag mit Israel wird mit den Muslimbrüdern an der Macht vorerst nicht in Frage gestellt

 

Der Machtkampf zwischen Armeerat und den Muslimbrüdern in der ersten Julihälfte war gewissermaßen ein Ausloten gegenseitiger Stärken und Schwächen, beide Akteure wissen ob ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und scheinen sich nun nach einem zweiwöchigen Hahnenkampf einander anzunähern. Erst vergangene Woche verkündete Ägyptens neuer Premier Hischam Qandil die Zusammensetzung des neuen Kabinetts.

 

Nicht ganz überraschend übernimmt Tantawi, Armeerats-Chef und langjähriger Verteidigungsminister, auch in der neuen Regierung das Amt des politischen Vertreters der Armee und sichert den Generälen damit einen wichtigen Posten im Kabinett und direkten politischen Einfluss. Noch am Sonntag betonte Präsident Mursi in einer Rede in Ismailia die Bedeutung der Armee für die Stabilität Ägyptens, sprach den Militärs Verantwortung in außenpolitischen Belangen zu und verteidigte die Generäle gegen kritische Äußerungen.

 

Alles deutet darauf hin, dass sich die beiden mächtigen politischen Blöcke am Nil miteinander arrangiert haben, die Konterrevolution findet damit ihr vorläufiges Ende und der Status Quo in wirtschafts- und außenpolitischen Belangen scheint gesichert. Der Sinai-Zwischenfall und die gemeinsame Rhetorik von Militärs und Präsidentenbüro sind zudem Anzeichen einer gemeinsamen Position im Nahostkonflikt, der Friedensvertrag mit Israel wird mit den Muslimbrüdern an der Macht vorerst nicht in Frage gestellt.

 

Wie die FJP und Präsident Mursi zukünftig operational mit dem Gaza-Streifen und dem Terrorproblem auf dem Sinai umgehen werden, bleibt abzuwarten. Die Widersprüche zwischen einer pro-palästinensischen Politik und der Stabilisierung der ägyptisch-israelischen Beziehungen ist ein heikler Drahtseilakt für Mursi.

Von: 
Sofian Philip Naceur

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