Seit der Stunde Null watet der Irak im dschihadistischen Sumpf der Gewalt – und die Todesschwadronen sind unter der Führung von Abu Bakr al-Baghdadi längst eine entscheidende Kraft im Syrien-Konflikt geworden.
Es ist der 13. Dezember 2003 um 20.30 Uhr in Adwar, einer Ortschaft, 20 Kilometer südlich seiner irakischen Geburtsstadt Tikrit: Saddam Hussein, Bauernsohn, Schnurrbartträger und Diktator mit Vorliebe für kubanische Zigarren, italienische Weine und brutale Folterpraktiken wird in einem Erdloch von Spezialeinheiten der US-Armee gefunden. Mit der Gefangennahme des damals 69-Jährigen war eines der grausamsten Kapitel der jungen irakischen Geschichte geschlossen worden. Doch seit der Stunde Null watet der Irak im dschihadistischen Sumpf der Gewalt.
Nach einer jüngst im Fachmagazin PLoS Medicine veröffentlichten Studie der John Hopkins University und der Simon Fraser University starben vom Beginn des Irakkriegs 2003 bis 2011 fast eine halbe Millon Menschen an den Folgen des Krieges. Der Studie zufolge können zwei Drittel der Todesfälle auf Gewalt, das andere Drittel auf »indirekte Ursachen« – Infrastrukturdefizite, das Fehlen von sauberem Wasser und einer Gesundheitsfürsorge sowie dem Mangel an Nahrung – zurückgeführt werden.
Mesopotamische Todesschwadronen von Mossul bis Raqqa
Das Leuchtfeuer der Demokratie, von dem George W. Bush einst geträumt und geprahlt hatte, wurde nie entzündet. Neben den eklatanten Fehlern, die die USA und jene Waffenbrüder aus dem »neuen Europa« zu verantworten hatten, halfen dabei auch stets inner-irakische Player tatkräftig mit: Alte Baath-Kader, Stammesführer, der Machtpolitiker Maliki – und die Dschihadisten der »Al-Qaida im Irak« (AQI).
Die vom Jordanier Abu Musab al-Zarqawi gegründete Truppe nutzte den lokalen Konflikt, um einen ganz eigenen Kriegszug zu beginnen, an dessen Ende das »Emirat« in der irakischen Provinz Anbar stand. Heute ist Zarqawi tot und die »AQI« nennt sich »Islamischer Staat im Irak und in (Groß)-Syrien« (ISIS). Geführt werden die mesopotamischen Todesschwadronen von Abu Bakr al-Baghdadi. Wie der Name seiner Organisation verrät, operiert die nicht mehr nur im Zweistromland, sondern hat ihren Aktionsradius von der – eigentlich multiethnischen und multireligiösen – Hochburg Mossul bis ins syrische Raqqa ausgeweitet und damit den Fokus auf den syrischen Bürgerkrieg gelegt.
Ein Staat auf der Basis des Steinzeit-Islamismus
Über den 42-jährigen al-Baghdadi ist wenig bekannt, nicht einmal Fotos von ihm existieren. Fest steht lediglich, dass er in Samarra geboren wurde und Dschihadisten aus allen Herren Ländern magnetisch anzuziehen scheint. Das Time Magazine hat den Terrorfürsten vor kurzem ausführlich portraitiert und zitierte ein namentlich nicht genanntes Mitglied der Obama-Administration, das erklärte: »Syrien hat in zweieinhalb Jahren so viele ausländische Kämpfer angezogen wie Afghanistan in zweieinhalb Jahrzehnten.«
Joshua Landis, seines Zeichens Direktor des Nahost-Zentrums der University of Oklahoma und einer der profundesten Kenner der syrischen Gemengelage, skizziert auf seinem Blog die Strategie in al-Baghdadis Herrschaftsgebiet, dem sogenannten »Rattenkorridor« entlang des Euphrats. Landis’ Ausführungen lesen sich so, als habe al-Baghdadi den Hobbschen Naturzustand in den von ihm kontrollierten Gebieten des syrischen Schlachthauses bereits überwunden und ihn durch eine islamistische Steinzeit-Herrschaft ersetzt; ein absolutes Tabakverbot und die verpflichtende Vollverhüllung von Frauen gehören ebenso zu seinem Regierungsprogramm wie öffentliche Hinrichtungen und das Verbrennern von Bibeln.
Der Mythos al-Baghdadi wurde in Abu Ghraib geboren
Dieses rüde Verhalten eines Fremden im eigenen Land verachten viele Syrer – und doch lässt man den irakischen Warlord al-Baghdadi im Norden und Osten des Landes gewähren; angesichts der immer stärker werdenden Waffenkraft seiner Krieger verwundert das nicht. ISIS hat es geschafft, sich einen sicheren Rückzugsraum zu erkämpfen – ergo: Die vom Duo Sykes-Picot vor nunmehr fast hundert Jahren auf dem Reißbrett gezogenen Staatsgrenzen werden sukzessive aufgelöst.
Die al-Baghdadi treu ergebenen Kämpfer schwören mittlerweile ihren Eid auf ihren Führer und ISIS. Der im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet versteckt lebende al-Qaida-Führer al-Zawahiri ist – nachdem ihm al-Baghdadi die Gefolgschaft verweigert und damit einen wichtigen Punktsieg im innerislamistischen Machtkampf gemacht hat – nicht mehr von Relevanz für diese jungen Männer. Al-Baghdadi hatte eine Fatwa abgelehnt, demnach er das syrische Schlachtfeld der »Jabat an-Nusra«-Truppe von Mohammed al-Jaulani hätte überlassen sollen.
Der Mythos al-Baghdadi wurde indes nicht in Syrien, sondern im Irak geboren. Am 21. Juli 2013. An jenem Tag wurde das von al-Baghdadi akribisch organisierte und geführte Attentat auf das noch von der britischen Krone im vergangenen Jahrhundert geplante Gefängnis Abu Ghraib durchgeführt. Seine Männer konnten rund 500 Insassen befreien. Es war die Krönung des Siegeszuges jenes Geistes aus Samarra – der sich fortan weigerte, al-Zawahiri weiter zu gehorchen wie ein Schulbub.
Auf den Punkt gebracht: Über Jahre hat al-Baghdadi sich mit Anschlägen, Hinrichtungen und Folter im Irak in Position gebracht, nun führt er ISIS, sieht sich gar in eine Reihe mit den Umayyaden von Damaskus und den Abassiden von Bagdad. Der wichtigste Warlord finanziert sich durch Erpressungen, Erdölverkauf aus den eroberten Gebieten und Geldern aus dem Golf. Dass dieser Fürst der Finsternis sich ernsthaft unter den Befehl des Oberstern Militärrates in Istanbul stellt oder an Verhandlungen in Genf interessiert ist, können nur Narren glauben. Sein – für die syrische Bevölkerung katastrophales – Motto lautet: Vae victis.