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Überfüllte Friedhöfe, planierte Viertel und ein Aufstand im Geheimen

Überfüllte Friedhöfe, planierte Viertel und ein Aufstand im Geheimen

Feature

Seit Anfang 2014 steht Falludscha im Westen des Iraks unter der Kontrolle des IS. Mittlerweile lebt nur noch ein Drittel der Einwohner in der Stadt. Trotzdem lehnen die lokalen Stammesführer die Rückkehr der irakischen Armee ab.

In die Stadt Falludscha reinzukommen, ist alles andere als einfach. Zunächst muss man an Dutzenden irakischen Armee-Checkpoints vorbei. Danach folgen ebenso viele Posten, die von den Militanten bewacht werden, die die Stadt jetzt kontrollieren. Wenn humanitäre Helfer die Stadt nicht zu einer vorgeschriebenen Zeit verlassen haben, werden sie als verdächtig betrachtet und möglicherweise inhaftiert. Zusätzlich gaben die Extremisten vor zwei Monaten einen Befehl, wonach alle Journalisten in Falludscha ihre Tätigkeit einstellen müssen. Jede Zuwiderhandlung würde hart bestraft werden.

 

Das bedeutet, dass jeder, der die Stadt betritt – sei es aus humanitären Gründen oder um Verwandte zu besuchen – genau überwacht wird. Maskierte Bewaffnete auf den Straßen beobachten und übermitteln die Bewegungen von Besuchern über ein Funknetzwerk. Sie wollen sicherstellen, dass niemand, der in die Stadt kommt, ein Regierungsspion oder ein Journalist ist. Die Hauptstraßen, die von den vier Eingangsposten aus nach Falludscha führen, sind mit Sprengfallen versehen. Diese wurden auf eine komplizierte Art und Weise angeordnet und niemand außer den Milizen weiß, wo sie sich alle befinden.

 

Das bedeutet, dass niemand Falludscha betreten kann, ohne von einem der Kämpfer hineingeführt zu werden. Ist man erst einmal in der Stadt, ist kaum zu übersehen, wie erschöpft alle aussehen. Die Gesichter der Bewohner reflektieren eine Unzahl an nicht erzählten und traurigen Geschichten. Die meisten haben mindestens ein Familienmitglied während dieser Belagerung verloren. Es sind außerdem viele ernsthafte Verletzungen zu sehen. Viele Einheimische sind den bewaffneten Gruppen, die die Stadt kontrollieren, aus einem Rachebedürfnis beigetreten.

 

Viele Gebäude wurden beschädigt oder komplett zerstört. Jeder, der es schafft nach Falludscha zu kommen, wird eine Stadt sehen, die aussieht, wie auf einem Bild, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschossen wurde. »Manche Gebiete – wie al-Hay, al-Sinaie und Nazzal – wurden komplett planiert«, erzählte Ahmed al-Halbusi, einer der Stammesführer der Stadt. »Die Gebiete sind so zerstört, dass es nahezu unmöglich ist für die Menschen zurückzukehren und hier wieder zu leben. Zusätzlich bombardiert die irakische Luftwaffe diese Gebiete – aber wir haben keine Ahnung warum.«

 

Al-Halbusi sucht momentan nach einem 5-jährigen Jungen namens Othman. »Seine gesamte Familie wurde im Nazzal-Gebiet getötet«, erklärt al-Habusi. »Er spielte im Garten und seine Familie war im Haus, als das Haus angegriffen wurde. Er war der einzige Überlebende.« Es gibt Dutzende ähnliche Geschichten. Die irakische Armee greift Falludscha seit Beginn des Jahres auf zwei verschiedene Weisen an. Zum einen nimmt die Artillerie vom nahegelegenen Armeelager Mazra aus die Stadt jeden Tag unter Feuer.

 

Allerdings sagen die Menschen in Falludscha, dass diese Methode ziemlich ineffektiv sei und nicht viel Schaden anrichten würde. Sie sind weit mehr beunruhigt über die Luftangriffe der Armeehelikopter. Manche Hubschrauber stammen noch aus den Beständen von Saddam Husseins Armee, andere wurden erst vor Kurzem von Russland an die irakische Führung geliefert. Die Helikopter werfen oft Fassbomben ab, sagen die Einheimischen. »Wir wollen keine Zivilisten verletzen«, sagt Karim al-Mamouri, ein Leutnant der irakischen Armee, der eine der Einheiten beaufsichtigt, die Falludscha belagern.

 

»Wir wollen nur die Extremistengruppen treffen. Wir haben Koordinaten ihrer Positionen innerhalb der Stadt und dorthin zielen wir.« Doch angesichts der vielen toten und verletzten Zivilisten ist es offensichtlich, dass dieser Plan nicht immer aufgeht. In einem offiziellen Statement vom 18. August 2014 schrieb Ahmad al-Shami, der in der Verwaltung des öffentlichen Krankenhaus in Falludscha arbeitet, dass seit Beginn des Jahres etwa 700 Menschen getötet und 2.200 verletzt wurden. »Auch das Krankenhaus wurde nicht verschont«, berichtet er. »Es wurde innerhalb der letzten Monate fünf Mal bombardiert.«

 

Die IS-Miliz nutzt die Frustration und das Rachebedürfnis der Jugend von Falludscha aus

 

Nur bei einer Sache liegt der Leutnant richtig, nämlich dass die sunnitische Extremistengruppe, bekannt als Islamischer Staat, oder IS, Falludscha momentan kontrolliert. IS zwang alle anderen sunnitischen Anti-Regierungsgruppen innerhalb der Stadt, ihre Waffen abzugeben. Tatsächlich entschieden sich viele Mitglieder dieser Fraktionen, Falludscha zu verlassen, statt dort zu bleiben und vom Wohlwollen der IS-Miliz abhängig zu sein. Ende August etwa führten IS-Milizionäre Gefangene der »Armee der Mujahedin« mit verbundenen Augen durch das Stadtzentrum.

 

Diese Miliz, die das Gebiet nördlich von Falludscha kontrolliert, hatte der IS-Miliz den Krieg erklärt. Die Anzahl der IS-Kämpfer in Falludscha ist angestiegen, seitdem die Anti-Regierungskräfte die Stadt im Januar übernommen haben. Anfangs waren geschätzt 600 Mitglieder der IS-Miliz in Falludscha. Mittlerweile kann von 2.000 ausgegangen werden – unter ihnen viele Einheimische und Kämpfer aus dem benachbarten Syrien. Die IS-Miliz nutzte die Verbitterung, die Frustration und das Bedürfnis nach Rache vor allem unter den einheimischen Jugendlichen aus, die in Falludscha Familienmitglieder verloren haben.

 

Die irakische Regierung schätzt, dass die Stadt vor der Einnahme um die 500.000 Einwohner hatte – fast zwei Drittel davon haben die Stadt inzwischen verlassen. »Die Zurückgebliebenen sind nur noch durch Glück am Leben«, sagt Karim al-Bajari, einer der Einheimischen, die noch immer in Falludscha ausharren. »Wir überleben durch ein andauerndes Versteckspiel, wenn der Beschuss losgeht oder wenn wir Flugzeuge hören.« Zwar scheint die Stadt im Belagerungszustand zu sein, allerdings hätten die IS-Kämpfer ihre eigenen Geheimwege in die nördlichen Teile von Bagdad, sagt al-Bajari. Entlang dieser Pfade bringen sie Essen und Medikamente in die Stadt – schließlich obliege ihnen ja die Verantwortung für die Verwaltung der Stadt.

 

Falludschas Stammesführer wollen die Stadt selbst verwalten – allerdings nicht so wie die IS-Extremisten

 

Auch die Toten von Falludscha haben eine Geschichte zu erzählen. Der einzige Friedhof in der Stadt, der »Märtyrer-Friedhof«, ist überfüllt. An manchen Tagen werden die Verstorbenen in Massengräbern verscharrt, erzählte einer der Friedhofsarbeiter. »Einmal waren wir gezwungen, vier Kinder in einem Grab zu begraben«, erzählt der Arbeiter. »Ihre Körperteile wurden zusammengeworfen. Wir begraben mittlerweile sogar Menschen auf den Zugangswegen.« Deswegen sind manche Bewohner dazu übergegangen, ihre toten Angehörigen zu Hause in ihren Gärten begraben.

 

Die, die in den gefährlichsten Gebieten der Stadt wohnen, bewahren die Leichen solange in Kühltruhen auf, bis sie ein Stück Land finden, auf dem sie ihre toten Verwandten begraben können. In Falludscha werden außerdem keine öffentlichen Beerdigungen mehr abgehalten. »Solche Versammlungen werden gewöhnlich von Dutzenden Menschen besucht und das macht sie zu einem leichten Ziel für Kampfflugzeuge«, sagt Siddiq al-Tamimi, ein anderer Stammesführer in Falludscha. »Die irakische Armee hält die Trauerfeiern für Zusammenkünfte von militanten Kämpfern.«

 

»Die Armee hat in den vergangenen acht Monaten mehr als siebzig Mal versucht, Falludscha einzunehmen«, erzählte Abu Aesha al-Thiyabi, ein führendes Mitglied einer der weniger radikalen Milizen innerhalb der Stadt. »Jeder Versuch scheiterte. Das liegt an der Stärke der Stammes-Fraktionen, die die Stadt verteidigen, und an der schlechten Ausbildung der irakischen Armee, die für gewöhnlich kehrt macht und davonläuft, wenn sie direkt konfrontiert wird.« »Wir sind gegen die Gräueltaten der IS-Miliz«, fügt al-Thiyabi hinzu.

 

»Wir unterstützen ihr Handeln nicht, aber wir haben einen gemeinsamen Feind: die irakische Armee, die versucht, uns mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu töten.« Einheimische berichten von einer Anzahl von streng geheimen Treffen in Falludscha seit Anfang August, die von Stammesführern und Köpfen der verschiedenen bewaffneten Fraktionen in Falludscha besucht worden seien. Diese Treffen würden mit dem Ziel abgehalten werden, einen Plan auszuarbeiten, um die IS-Miliz zu vertreiben. Die verschiedenen Stammes- und Milizführer wollen selbst die Stadt führen – allerdings nicht so wie die IS-Extremisten. Trotzdem lehnen sie die Rückkehr der irakischen Armee ab und fordern das Recht auf lokale Polizeikräfte.


Übersetzung und Übernahme mit freundlicher Genehmigung von niqash.org. Seit 2005 berichtet das Netzwerk irakischer Korrespondenten auf Englisch, Arabisch und Kurdisch über Politik, Gesellschaft und Kultur im Irak. Niqash ist ein Projekt der NGO Media in Cooperation and Transition (MICT).

Von: 
Mustafa Habib

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