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Ägyptens Präsident Mursi feuert Verteidigungsminister

Das Mursi-Manöver

Analyse

Ägyptens Präsident Mursi feuert den Verteidigungsminister und den Armeechef – doch die Absetzungen von Tantawi und Annan sind kein Staatsstreich, sondern Ausdruck einer institutionalisierten Aufteilung von Kompetenzen und Befugnissen.

Der innenpolitische Machtkampf um die Führungsrolle in Kairo zwischen Präsident Muhammad Mursi und dem Obersten Militärrat (SCAF) unter Feldmarschall Hussein Tantawi hat eine überraschende Wendung genommen. Nachdem der den Muslimbrüdern nahe stehende Präsident bereits letzte Woche die militärische Eskalation auf dem Sinai ausnutzte und zahlreiche Führungspositionen im Sicherheitsapparat neu besetzte, entließ Mursi gestern den Verteidigungsminister und SCAF-Vorsitzenden Tantawi.

 

Generalstabschef Sami Annan und die Oberkommandierenden von Luftwaffe und Marine mussten ebenfalls ihren Hut nehmen. Die Umbesetzung im Staats- und Militärapparat sei nach Konsultationen mit der Armeeführung erfolgt, sagte Präsidentensprecher Jassir Ali gestern im Staatsfernsehen. Der bisherige Chef des Militärgeheimdienstes, Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi, übernimmt sowohl das Amt des Verteidigungsministers als auch den Vorsitz des Militärrates, während Tantawi und Annan fortan als Berater dem Regime zur Seite stehen sollen.

 

Nach der Entlassungswelle der vergangenen Woche, die unter anderem den Chef des Geheimdienstes Murad Mowafi seinen Posten gekostet hatte, nachdem dieser öffentlich erklärt hatte, seine Behörde sei bereits im Vorfeld über Angriffe auf dem Sinai informiert gewesen, räumt Mursi auch weiter kräftig auf.

 

Zudem ernannte der Präsident den Juristen Mahmud Mekki zum neuen Vizepräsidenten und beendet damit Spekulationen über die Besetzung der seit Ende Juni vakanten Position. Mursi geht mit diesen Manövern auf Konfrontationskurs im innerägyptischen Führungsstreit – und scheint im anhaltenden Machtkampf mit den mächtigen Militärs immer mehr Oberwasser zu bekommen.

 

Tantawi wird auch zukünftig Einfluss auf das politische Geschehen am Nil ausüben

 

Trotz erheblicher Zweifel an Rechtmäßigkeit und Zuständigkeit erklärte Mursi zudem die am 17. Juni vom SCAF proklamierten Verfassungszusätze, die die Machtbefugnisse des Präsidenten zugunsten des Militärrates stark beschnitten hatten, schlicht für ungültig. Der Verfassungszusatz sicherte den Militärs umfangreichen Einfluss auf das Staats- und Militärbudget und erlaubte Kriegserklärungen nur mit Einverständnis der Armeeführung.

 

Zudem behielt der SCAF die Kontrolle über die Ernennung des Verteidigungsministers. Angesichts der Geschlossenheit, mit der Präsident und Armeeführung bislang auf die Ereignisse auf dem Sinai und der umfassenden Personalrotation im Sicherheitsapparat reagierten, erscheint die These von einem anhaltenden Machtkampf jedoch irreführend.

 

Der seit 1991 amtierende Verteidigungsminister Tantawi verbleibt schließlich im engen Machtzirkel und wird auch zukünftig einen nicht unwesentlichen Einfluss auf das politische Geschehen am Nil ausüben.

 

Der Hahnenkampf zwischen SCAF und dem politischen Arm der Muslimbruderschaft, der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), lähmte das politische Geschehen in Kairo nach der Ernennung Mursis zum Staatspräsidenten Ende Juni und fand in der umstrittenen Wiedereinsetzung des Parlamentes durch ein präsidiales Dekret Mitte Juli seinen vorläufigen Höhepunkt.

 

Der Angriff auf den ägyptischen Grenzposten auf dem Sinai vor einer Woche erlaubt es den beiden dominierenden Kräften, im neu zusammengesetzten Regime in Kairo, der Militärführung sowie der Muslimbruderschaft und ihrem politischen Arm, die Weichen für eine zukünftige Machtaufteilung im ägyptischen Staatsapparat zu stellen. Mursi und die FJP sind endgültig im Zentrum der politischen Macht in Kairo angekommen.

 

Mursi und die FJP bauen ihren Einfluss auf Ägyptens Medienlandschaft aus

 

Nach dem umsichtigen Vorgehen in den ersten Wochen nach der Verkündung von Mursis Wahlsieg gehen Präsident und FJP nun deutlich offensiver und aggressiver daran, ihre Machtbasis in Staat und Gesellschaft auszubauen und zu sichern.

 

Die alten mit dem Regime Mubarak verbündeten Fraktionen im Staatsapparat wissen ob der Notwendigkeit, die Muslimbrüder ins ägyptische Machtgefüge zu integrieren und Mechanismen zur Machtteilung zu implementieren. Die Personalentscheidungen sind Ausdruck einer institutionalisierten Aufteilung von Kompetenzen und Befugnissen zwischen den alten technokratischen Fraktionen in Ägyptens Staatsapparat und den Muslimbrüdern.

 

Unterdessen versuchen Präsident Mursi und die FJP ihren Einfluss auf Ägyptens Medienlandschaft auszubauen. Nachdem in der vergangenen Woche wichtige Posten in staatlichen Zeitungen und Rundfunkorganen mit Mursi-Getreuen neu besetzt wurden, entzog die Regierung am Wochenende einem privaten TV-Kanal wegen angeblicher Anstachelung zum Umsturz die Sendelizenz und ließ die Samstagsausgabe der regierungskritischen aber populistischen Tageszeitung Al-Dostour beschlagnahmen.

 

Das Blatt, das mit dem Militärrat sympathisiert, habe den Präsidenten beschimpft und zu konfessionellem Unfrieden angestachelt. Das Zusammenfallen der Entlassungswelle im Sicherheitsapparat, der Machtkonsolidierung von Mursi nach der Entlassung Tantawis und dem zunehmenden Druck auf unabhängige, nichtstaatliche Medienorgane wirft ein düsteres Licht auf die Bestrebungen von FJP und Muslimbrüdern, ihren Einfluss in Staat und Gesellschaft auszudehnen.

 

Befürchtungen von Säkularen, Liberalen und Linken, die Muslimbruderschaft mit Präsident Mursi als ihrem mächtigsten Fürsprecher würden einmal im Zentrum der Macht angelangt eine aggressive Agenda zur Islamisierung Ägyptens verfolgen, bekommen mit den Entwicklungen der vergangenen Woche erneut massiv Auftrieb.

Von: 
Sofian Philip Naceur

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