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»Gezi – Eine literarische Anthologie«

»Glühwürmchen mit nie verlöschendem Feuer«

Feature

Mit »Gezi – Eine literarische Anthologie« erscheint zum Jahrestag der Demonstrationen im gleichnamigen Istanbuler Park eine abwechslungsreiche Sammlung, die angesichts der Proteste nach Soma über den Sommer 2013 hinausreicht.

»Wo es besonders finster ist, strahlen die Sterne noch einmal so schön. Gegen die Finsternis in diesem Land strahlen nun überall Sterne.« Mit diesen Worten beginnt Burhan Sönmez die Sammlung seiner Gedanken zum »türkischen Sommernachtstraum 2013«, als Bürger gegen ein Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks protestierten. Ein Jahr später wiederholen sich die Bilder angesichts des Grubenunglücks in Soma und des Todes zweier Menschen in Istanbul durch die Hand der Polizei.

 

Die Übersetzerin und Schriftstellerin Sabine Adatepe konnte nicht wissen, dass ihr Experiment einer literarischen Anthologie angesichts der politischen Atmosphäre so passend erscheinen würde. Zum Jahrestag der Ereignisse am 28. Mai lebt in den Texten 19 zeitgenössischer türkischer Autoren und Autorinnen der Geist der Bewegung wieder auf, wenn teils auch nur als Bühnenbild wie bei Barış Uygurs Kommissar Süreyya. Alle Urheber waren unmittelbar an den Demonstrationen 2013 beteiligt, weshalb die Anthologie vor allem die Sichtweise der von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan als »Plünderer« verbrämten Protestierenden schildert.

 

Verarbeitet wurden die Eindrücke des Sommers 2013 in verschiedenster literarischer Form, unter anderem in einer Fabel, einem Leserbrief, einem Kapitel für einen neuen Kriminalroman und Gedichten. Von Bestseller-Autoren wie Ayşe Kulin und Barış Uygur bis hin zu Nachwuchsschriftstellern wie Nermin Yıldırım und Janset Karavin finden sich einige Themen über die gesamte Anthologie hinweg immer wieder.

 

Während mancher diese Wiederholung als literarischen Mangel ansehen möchte, lässt sich daraus auf der anderen Seite die Essenz der Gezi-Proteste gewinnen: Freiheit, Menschlichkeit, Solidarität und Humor der Demonstranten stehen einem Herrschaftshabitus gegenüber, in dem der Einzelne nicht über das eigene Leben und die eigene Stadt bestimmen darf, das Volk in eine gute und eine böse Hälfte unterteilt wird und Tierdokumentationen und Seifenopern den Bürger ruhig stellen sollen, statt die Realität der Straßen in die Wohnzimmer zu senden.

 

Viele der 21 Texte versuchen die Gründe für die Proteste nachzuzeichnen, oftmals beschreiben sie alternativ dazu die Stimmung im Gezi-Park. Burhan Sönmez fasst sie in seiner Gedanken-Collage zusammen: »Es geht nicht nur darum, etwas nicht zu wollen, sondern vor allem darum, etwas anderes zu wollen. Es herrschen freundschaftliche, gegenseitige Hilfe und Solidarität. Jeder kann frei seine Meinung äußern. Hier ist der Mensch kein Kunde, hier ist er Mensch.«

 

In Cevat Çapans Gedicht »Haydar Haydar« sind die Demonstranten »Glühwürmchen mit nie verlöschendem Feuer«, die eine brandneue Sprache sprechen, nämlich die der Liebe. Der alte Schamane in der Fabel »Der Farbengarten« von Barış Müstecaplıoğlu, der ähnlich wie die ältere türkische Generation in jungen Jahren gegen Tyrannei gekämpft und des Verlierens müde geworden ist, erkennt mit einem Mal »warum sein Enkel hier sein wollte. Hier veränderte sich jeder zum Besseren, Tugendhafteren; das Gefühl, das Richtige zu tun, förderte ihre innere Schönheit zutage.«

 

Diese Schönheit der Menschen machte den Taksim-Platz 2013 zur »Republik der Freiheit«, wie Karin Karakaşlı in ihrem politischen Aufsatz »Der Tropfen zum Überlaufen« schreibt: »Alles schien ein großes Heft zu sein, darin schrieben wir unsere Geschichten ein.« Eine dieser ganz persönlichen Entwicklungen beschreibt Nermin Yıldırım in »Das Gezi-Tagebuch einer Mutter«. Darin verfolgt der Leser die Verwandlung einer Mutter, die anfangs nicht versteht, wieso ihr 22-jähriger Sohn zwei Bäume retten will und am Tag 9 der Proteste mit Maske und Spinat-Börek im Gezi-Park steht und Gaskapseln wirft.

 

Wie andere Protagonisten auch fühlt sie sich nicht als Vaterlandsverräter oder Terrorist, sondern verlangt Beachtung. Diese Einforderung von Aufmerksamkeit und Menschlichkeit sieht die Autorin Ayfer Tunç vielmehr als Pflicht jedes einzelnen Bürgers an. In einem Brief an einen Leser macht sie dies in ihrem Abschlusssatz deutlich: »Ihnen und Ihren Lieben wünsche ich eine lichte Zukunft, die Ihnen keinen Kummer bereitet und für die Sie sich nie zu schämen brauchen.« Diesem Leserbrief mit seinem pessimistischen Unterton steht jedoch auch ein Text von Barış Uygur gegenüber, in dem er die zukünftige Entwicklung optimistisch einschätzt.

 

Der bekannte Schriftsteller stützt sich dabei auf den Umstand, dass keiner der Demonstranten im Gezi-Park den Slogan „No Future!“ verwendete. Hier wird deutlich: Diese literarische Anthologie verlangt nach einem Pendant mit verstärktem politischen und analytischen Fokus ähnlich wie es Nader Hashemi und Danny Postel mit »The People Reloaded: The Green Movement and the Struggle for Iran's Future« nach den Protesten 2009 im Iran gelang.

 


Gezi – Eine literarische Anthologie

Sabine Adatepe (Hg.)

Binooki, 2014

130 Seiten, 19,90 Euro

Von: 
Lena Späth

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