In ihrem neuen Roman »Ali und Ramazan« erzählt Perihan Magden die Geschichte einer schwulen Liebe zwischen zwei Waisenhausjungs in Istanbul – und brachte damit Konservative gegen sich auf.
Ein Waisenhaus in Istanbul: Hier, im Hof einer alten Medrese, trifft das Stadtkind Ramazan zum ersten Mal auf Ali aus dem ländlichen Anatolien. Ramazan, gerissener Überlebenskünstler, hat gelernt, seine naturgegebene Schönheit zu nutzen: Schon früh erkämpft er sich mithilfe sexueller Gefälligkeiten die Gunst der Erwachsenen. Um sein Leben erträglich zu halten, bildet er sich ein, das unbekannte Kind eines reichen Vaters und einer berühmten Schauspielerin zu sein, die ihn irgendwann aus der Hölle des Waisenhauses befreien werden.
Ali, großgewachsen, doch schüchtern, hat in seinem Dorf mit ansehen müssen, wie seine Mutter den gewalttätigen Vater erschlug und daraufhin Selbstmord beging. Von Schuldgefühlen gequält, ist er unfähig, über seine Erinnerungen zu sprechen. Ramazans loses Mundwerk und seine offene Zuneigung verschaffen Ali Linderung. Zwischen den Jungs, die am Anfang der Pubertät stehen, entspannt sich eine zärtliche Liebesbeziehung.
Als sie volljährig werden, fehlt ihnen aufgrund ihrer Herkunft und mangelnden Ausbildung jegliche Perspektive. Nach einer kurzen Zeit beim Militär kehrt Ramazan schnell wieder dazu zurück, sexuelle Dienste für Geld anzubieten. Ali flieht aus Eifersucht in die betäubende Welt der Klebstoff- und Lösungsmittelschnüffler: »Je öfter Ramazan weggeht, um Typen zu ficken, und mit Knutschflecken am Hals und Bissspuren im Nacken wiederkommt, desto mehr klammert Ali sich an Lösungsmittel, Bier, Wein und betäubende Beruhigungspillen.« Das nagt an ihrer Liebe. Bald kommt es zu gewaltsam ausgetragenen Streits, einmal sticht Ali in seiner Wut und Eifersucht Ramazan ein Messer zwischen die Rippen.
Menschen wie Ali und Ramazan kommen im Selbstbild der türkischen Gesellschaft nicht vor
Die Geschichte kann kein gutes Ende nehmen – das nimmt die Autorin bereits zu Anfang vorweg: Die Liebe zwischen Ali und Ramazan endet mit einer reißerischen Meldung auf Seite drei der Boulevardpresse. Perihan Magdens Roman basiert auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1992: Beim Fluchtversuch aus der Wohnung eines übergriffigen Freiers reißt das Kabel, an dem sich der Stricher Ramazan aus dem sechsten Stock abseilen will. Er ist sofort tot. Sein drogenabhängiger Freund Ali nimmt sich kurze Zeit später das Leben.
Es war eine dieser Meldungen, die Magden zum Verfassen des Romans anregte. Die studierte Psychologin arbeitete jahrelang für die linken Tageszeitungen Radikal und Taraf, während sie nebenbei einen Erfolgsroman nach dem anderen schrieb. Inzwischen widmet sie sich nur noch der Literatur. Mit »Ali und Ramazan« rührt die Autorin gleich an zwei Tabuthemen in der Türkei: Homosexualität und das prekäre Sozialsystem.
Menschen wie Ali und Ramazan kommen im Selbstbild der türkischen Gesellschaft nicht vor – und wenn, dann drängt man sie lieber noch weiter an den Rand. Die Zeitschrift für schwules, lesbisches, bi- und transsexuelles Leben KAOS GL ging kürzlich online, mit der Begründung, dass es dem Großteil der Betroffenen immer noch unmöglich sei, eine solche Zeitschrift in der Printausgabe zu erwerben. Auch die konservativ-islamische AKP-Regierung setzt sich nicht gerade für diese Bevölkerungsgruppe ein: Noch vor einem Jahr geriet Familienministerin Selma Aliye Kavaf in die Schlagzeilen, als sie Homosexualität als behandlungsbedürftige Krankheit bezeichnete.
Auf genau diesen wunden Punkt zielt Magden: »›Er hat Schwuchteln zu uns gesagt, großer Bruder. Sind wir Schwuchteln? Bin ich jetzt ’ne Schwuchtel?‹ ›Scht‹, macht Ramazan. ›Nimm dieses Wort nicht in den Mund. Wir sind keine Schwuchteln oder so was. Wir sind ’n Liebespaar. Okay? Wir sind einfach ineinander verliebt.‹ Er drückt ihm einen langen Kuss auf die Lippen. Sofort schwirrt Ali der Kopf vor Glück.«
Das Ende stand in der Boulevardpresse
In der Regierung machte die Erfolgsautorin sich mit dieser Direktheit wohl keine Freunde: Türkischen Medienberichten zufolge lehnte der Fonds zur Förderung von Übersetzungen türkischer Literatur (TEDA) es ohne weitere Begründung ab, einer deutschen Übersetzung von »Ali und Ramazan« einen Zuschuss zu gewähren. Vorherige Bücher Magdens hatte die TEDA noch unterstützt, etwa 2008 den Roman »Zwei Mädchen«, der in der Türkei zum Bestseller geworden war. Die Taraf führt diese Haltung auf konservative Kräfte in der Regierung zurück, die am Inhalt der Geschichte Anstoß genommen hätten. Die Verweigerung der TEDA fand sogar einen Nachhall im türkischen Parlament, als im Herbst 2011 die republikanische Abgeordnete Aylin Nazliaka Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan um eine Erklärung bat. Die Antwort blieb formell – eine inhaltliche Diskussion kam nicht zustande.
Suhrkamp entschied, den Roman auch ohne offizielle Unterstützung von türkischer Seite ins Deutsche übersetzen zu lassen. Und Übersetzer Johannes Neuner hat ganze Arbeit geleistet: Magdens unverblümte Sprache, ihr Talent, den sozialen Rahmen der Geschichte auch sprachlich zu setzen, kommt gut zur Geltung. Ihre Romanhelden fluchen, reden Straßenslang, die Sätze sind kurz, einfach, knackig. Auch wenn es um Gefühle geht, verschwendet die Autorin keine Worte; schließlich sind Waisenhausjungs ohne Bildung keine Literaten. So wirken die fantasievoll-unbeholfenen Kosenamen, die Ramazan sich für seinen »Arabär« Ali ausdenkt, authentisch.
Der Autorin wurde vorgeworfen, gelegentlich ins Kitschige abzudriften. Dies mag kulturell erklärbar sein: Denn wie auch die Literaturkritik in der Türkei gern pathetisch daherkommt, mag der Duktus von Magdens Erzählung mit den vielen Vorschauen und zärtlich dargestellten Liebesszenen auf manche deutsche Leser vielleicht zu blumig wirken. Kennt man sich jedoch im türkischen Kontext ein wenig aus, kommt dieser Eindruck gar nicht erst auf.
Der einzige Kritikpunkt ist die Darstellung von Alis und Ramazans Zeit beim Militär. Bei keinem der beiden Protagonisten scheint die Homosexualität für Schwierigkeiten zu sorgen. Die offene Diskriminierung beim schwulenfeindlichen türkischen Militär, die Untersuchungen und Anfeindungen, die der Verdacht der Homosexualität hier normalerweise auslöst, wird nicht thematisiert. Angesichts des gerade erschienenen türkischen Films »Zenne – Der Tänzer«, in dem es ebenfalls um Homosexualität und die damit verbundenen Schwierigkeiten unter anderem mit den Sicherheitskräften geht, erscheint die Ausblendung dieser Thematik wie ein blinder Fleck.
Trotzdem ist »Ali und Ramazan« kaum aus der Hand zu legen, so sehr vermag Perihan Magden einen mit ihren Worten und ihrer Erzählung zu fesseln. Derzeit wird der Roman in der Türkei verfilmt.
Ali und Ramazan
Perihan Magden
Suhrkamp, Berlin, 2011
192 Seiten, 14,40 Euro