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Wahlen und Neuauszählung im Irak

»Die kleine und die große Mafia«

Analyse
Presseschau

Erst fuhr Muqtada Al-Sadr einen Überraschungssieg ein, dann ordnete das Parlament Neuauszählung per Hand an und das Lagerhaus mit den Stimmzetteln geht in Flammen auf. Eine Presseschau zum Nachgang der Wahlen im Irak.

Am 6. Juni beschloss das irakische Parlament eine Neuauszählung der Stimmen der Parlamentswahlen vom 12. Mai. Damit reagierte es auf lauter werdende Vorwürfe der Wahlmanipulation, die den amtierenden Premierminister Haidar Al-Abadi von »gravierenden Verstößen« sprechen ließen. Am 10. Juni fing ein Lagerhaus im Bezirk Al-Russafa in Bagdad Feuer, in dem etwa 1,2 Millionen Wahlzettel aufbewahrt wurden. Zuvor hatte das irakische Parlament für eine Änderung des Wahlrechts gestimmt. Damit werden Stimmen annulliert, die im Ausland oder in innerirakischen Flüchtlingslagern abgegeben wurden. Außerdem sollen neun Richter die Leitung der Wahlkommission ersetzen und den Prozess der manuellen Neuauszählung der Stimmzettel überwachen.

 

Bei den Parlamentswahlen am 12. Mai hatte die Sa’irun-Allianz des schiitischen Gelehrten Moqtada Al-Sadr 54 der 329 Parlamentssitze gewonnen. Ihm folgten Hadi Al-Amiris Iran nahestehende Fatah-Allianz und die »Sieges«-Allianz des amtierenden Premierministers Haidar Al-Abadi. Die Wahl, an der rund 44,5 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen hatten, war die erste seit der Vertreibung des sogenannten Islamischen Staates (IS) aus weiten Teilen des Iraks im Dezember 2017 als auch die erste, in der die Stimmzettel elektronisch ausgewertet wurden.

 

Kitabat

Recht und Gerechtigkeit hätten im Irak eine lange Tradition, meint Ali Salim Omar Ali vom irakischen Nachrichtenportal Kitabat. Seit 2003 verschlechtere sich die Situation stetig, und heute plagten Betrug und Korruption das Land. Iraks Politiker hätten ein Spiel perfektioniert, in dem sie sich gegenseitig der Korruption bezichtigen, sie doch gleichzeitig selbst betreiben. Am Ende erhielte so jeder sein Stück vom Kuchen. Die Wahlen, so Omar Ali, seien daher eine »plumpe Fassade«, gar ein »Schauspiel«.

 

Nach den Parlamentswahlen 2010 hatte sich Ayad Allawi von der Irakischen Nationalbewegung nicht gegen seinen Opponenten Nuri Al-Maliki durchsetzen können, obwohl Allawi die größte Anzahl der Sitze im Parlament gewonnen hatte. Omar Ali ist der festen Überzeugung, dass Moqtada Al-Sadr nicht das gleiche Schicksal ereilen werde. Sadr, dessen Milizen bereits gegen Truppen der US-geführten Koalition sowie den IS kämpften, sei weitaus mächtiger. Durch Kontrolle über Polizei und Armee sei Sadr ein »Reformer«, der tatsächlichen Wandel herbeiführen kann. Die Neuauszählung der Stimmen sei daher ein fataler Schritt, der das gesamte Land »verätze«.

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Rudaw

Alan Mumtaz Noory, Politikprofessor an der American University of Iraq in Sulaimaniyeh, wird im der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) nahestehenden Nachrichtenportal Rudaw zitiert. Auf der englischsprachigen Website erklärt er das schlechte Abschneiden der kurdischen Opposition mit dem von ihr verübten »grenzenlosen Betrug« während der Wahl, sowie mit der Desillusion ihrer Wählerschaft. Gorran, die größte Oppositionspartei in der Autonomen Region Kurdistan, hatte bei den Wahlen vier ihrer bisher neun Sitze im Parlament eingebüßt. Hintergrund der Animosität des Kommentators ist wohl auch das Unabhängigkeitsreferendum, dem der irakische Zentralstaat im Herbst 2017 ein Ende gesetzt hatte. Gorran hatte sich damals gegen das Plebiszit ausgesprochen und Masud Barzani, Präsident der Kurdischen Autonomiebehörde vorgeworfen, lediglich seine Macht zementieren zu wollen.

 

Laut Noory habe Gorran Stimmen verloren, da die Partei darauf gesetzt habe, nun auch ihr »Stück vom Kuchen« abzubekommen. Dadurch hätte sie bei früheren Unterstützern an Glaubhaftigkeit eingebüßt, weshalb viele der Wahl fernblieben. Nichtwähler würden sich nach politischer Veränderung sehnen, könnten aber aufgrund von Korruption nicht mehr zwischen der »kleinen und großen Mafia« aus Opposition und etablierten Parteien unterscheiden.

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Niqash

Unabhängig davon, ob es zur Neuauszählung der Stimmen kommt, hat Mustafa Habib für den unabhängigen Blog Niqash drei mögliche Szenarien für die Zukunft des Iraks entworfen. In Variante eins werden Allianzen entlang ethnischer und religiöser Trennlinien geformt. Es ist die bisherige Praxis, die sich seit der US-Invasion etabliert hat. Sie gefährde jedoch die Demokratie im Land. Variante zwei sieht vor, dass sich die politische Landschaft des Iraks in ein pro- und ein anti-iranisches Lager spaltet. Dies sei jedoch »riskant«, da sich im so entstehenden pro-iranischen Lager bewaffnete Gruppen befänden, die zudem auch die Zivilbevölkerung gegen die Regierung anstacheln könnten. »Praktikabel« sei wohl die dritte Variante: Ein Bündnis der stärksten Parteien. Dieses würde nicht nur Kurden, Schiiten und Sunniten gleichermaßen an der Macht beteiligen, sondern auch die »Rechtsstaat«-Allianz unter Nuri Al-Maliki vom politischen Entscheidungsprozess fernhalten.

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1001 Iraqi Thoughts

Im Kontext von Bürgerkrieg und Terrorismus stehe der Irak vor der Aufgabe, den Reifeprozess demokratischer Institutionen zu schützen. Der wichtigste und am stärksten gefährdete Aspekt sei die Meinungsfreiheit, die Hamzeh Haddad vom irakischen Nachrichtenportal 1001 Iraqi Thoughts insbesondere durch die Präsenz von paramilitärischen Truppen gefährdet sieht. Besonders große Gefahr ginge von Parteien aus, die in Verbindung zu Milizen stehen. Trotz Missachtung von Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit würden sie sich als »demokratisch« bezeichnen. Besonders westliche Politikexperten und Medien neigten dazu, das Image dieser Parteien »aufzupolieren«, wie es das Beispiel Al-Sadr zeige: Während der schiitische Geistliche häufig als Reformer und Kämpfer gegen Korruption dargestellt wird, werde dabei seine Vergangenheit als Milizenführer, der das Töten tausender Iraker überwachte, ignoriert.

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Arab News

Baria Alamuddin der saudischen Tageszeitung Arab News sieht die Parlamentswahlen im Irak als »Hohn für die irakische Verfassung« und als Paradebeispiel dafür, warum bewaffnete Gruppen nicht an Wahlen teilnehmen sollten. Als Teil der Fatah-Allianz wurde der Hasch Al-Scha’bi so zur zweitstärksten Kraft und könne nun zur Not auch mit Waffengewalt und mit Unterstützung aus Iran auf politischen Einfluss pochen. Laut irakischer Verfassung ist es Mitgliedern militanter Organisationen verboten, bei Wahl zu kandidieren. Haschd-Anführer hätten für die Wahlen kurzzeitig ihre Uniformen abgelegt, hätten aber nicht vor der gezielten Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Ethnizität oder Religion innerhalb des Staatsgebietes zurückgeschreckt. Primär sunnitische Gouvernements wie beispielsweise Diyala und Salahuddin hatten mehr als die Hälfte ihrer sunnitischen Bevölkerung aufgrund von Repressionen durch Haschd-Milizen verloren. Die vertriebenen Iraker seien dann daran gehindert worden, in ihre Wahlbezirke zurückzukehren.

 

Die manuelle Neuauszählung würde dem Ausmaß dieses umfangreichen Wahlbetrugs nicht gerecht werden. Stattdessen müsse der »toxische« Einfluss paramilitärischer Kräfte untersucht und eingegrenzt werden. Sollte es Al-Sadr nicht gelingen, schnell eine Koalitionsregierung zu bilden und die Milizen einzudämmen, drohe dem Irak erneut Instabilität. Es liege an allen Politikern, sich hinter Al-Sadr zu scharen und seine Vision eines Iraks ohne ausländische, paramilitärische oder konfessionelle Einflüsse zu realisieren.

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Al-Jazeera

Ein weitaus positiveres Bild der Parlamentswahlen im Irak zeichnet Ibrahim al-Marashi für das katarische Nachrichtenportal Al-Jazeera. Durch das »Aufmischen des Status Quo« hätten die irakischen Wähler die alteingesessene Elite herausgefordert und gezeigt, dass sie mit dem aktuellen System voller Korruption und Vetternwirtschaft nicht einverstanden seien. Nachdem Iran eine Hauptrolle bei den Verhandlungen zum Premierposten nach den Wahlen 2010 und 2014 gespielt hatte (»die wichtigsten Gespräche fanden nicht in Bagdad, sondern in Teheran statt«), versuche nun Al-Sadr, sich als schiitischen Kleriker darzustellen, der unabhängig von Iran agiert. Al-Marashi glaubt, dass Al-Sadr die Chance hat, eine eigene, von Iran unabhängige Agenda zu vertreten. Sein Sieg habe nahezu alle Wahlprognosen widerlegt und aufgezeigt, dass irakische Politik fernab konfessionalistischer Agenda möglich sei.

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Al-Ahram

Salah Nasrawi von der staatlichen ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram bezweifelt, dass die Wahlen in Irak das ausgiebige Lob (»demokratisch«, »Weg aus dem Sumpf«) verdienen, das sie von der US-Regierung und westlichen Medien erhielten. Vielmehr hätten die geringe Wahlbeteiligung – nicht einmal 50 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab – sowie Boykotte, Unregelmäßigkeiten im Registrierungsprozess, Bestechung und Manipulation der im Ausland abgegebenen Stimmen die Wahlen »verdorben«. Außerdem spiegelten die Wahlen die in der irakischen Bevölkerung weit verbreitete Apathie und Unzufriedenheit mit der schleichenden Implementierung von Reformen unter Haidar Al-Abadi wider. Außerdem hätte die »Armee« von EU- und UN-Wahlbeobachtern darin »versagt«, Unregelmäßigkeiten innerhalb des Wahlprozesses aufzuzeigen. Nasrawi sieht das Land vor der größten politischen Krise seit der US-geführten Invasion 2003, wofür die internationale Staatengemeinschaft bisher zu geringes Interesse zeige.

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Von: 
zenith-Redaktion

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