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Neue Regierung in Israel und das Ende der Ära Netanyahu

Das hat sich Netanyahu selbst eingebrockt

Analyse
Neue Regierung in Israel und das Ende der Ära Netanyahu
Yair Lapid (l.), Naftali Bennett (M.) und Mansour Abbas (r.) bei der Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung am 3. Juni Ra'am-Partei

Eine Koalition unwahrscheinlicher Partner manövriert Israels gewieftesten politischen Überlebenskünstler aus. Dass Benjamin Netanyahus Tricks nun nicht mehr ziehen, hat mehrere Gründe.

Es brauchte schon dieses eine Foto, auf dem Yair Lapid, Naftali Bennett und Mansour Abbas am 3. Juni 2021 ihre Unterschrift unter die Koalitionsvereinbarung setzen, bis viele Israelis und auch politische Beobachter sich wagten, es auszusprechen: Die Ära Netanyahu ist vorbei.

 

Denn nicht ohne Grund hielt sich der Likud-Politiker, mit Unterbrechungen, zweieinhalb Jahrzehnte an der Spitze der israelischen Regierung, zu oft war sein politisches Ende herbeigeschrieben, zuweilen herbeigesehnt worden. Zu oft hatte der der 71-Jährige immer wieder seine Resilienz unter Beweis gestellt, seine politischen Rivalen geschickt ausgekontert, kooptiert und an ihren Wahlversprechen scheitern lassen.

 

Es mag auf den ersten Blick überraschen, warum Netanyahu diesmal nicht als Regierungschef aus den Wahlen hervorging, schließlich war er in seiner politischen Karriere schon mit ungünstigeren Konstellationen gestartet. Als er 1996 zum ersten Mal die erste Reihe der politischen Bühne betrat, hatte sein Likud die Wahlen eigentlich gegen die damals noch robuste Arbeiterpartei verloren. Doch die Direktwahl des Premiers – 2001 wieder abgeschafft – verhalf ihm schließlich ins Amt.

 

2009 musste sich seine Partei an der Urne der Likud-Abspaltung Kadima geschlagen geben. Dennoch ging Netanyahu aus den Verhandlungen als Regierungschef hervor, und nicht Kadima-Kandidatin Tzipi Livni, die die israelische Politik inzwischen verlassen hat.

 

Dem Premierminister gingen zuletzt die Optionen aus – sowohl politisch wie taktisch

 

Und auch in diesem Jahr entledigte sich Netanyahu seines vermeintlich ärgsten Konkurrenten: Benny Gantz, Ex-Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, war bei den vergangenen Wahlen angetreten, gegen Korruption in der Politik vorzugehen und Netanyahu aus dem Amt zu jagen. Stattdessen ließ er sich nach dem Wahlgang 2020 auf ein Machtteilungsmodell ein und fügte sich in die Regierung.

 

Die Quittung folgte ein Jahr später an der Urne: Seine »Blau-und-Weiß«-Allianz stürzte um 20 Prozentpunkte auf gerade einmal 6 Prozent ab. Netanyahus Likud dagegen ging mit 24 Prozent und über 11 Prozent Vorsprung auf die Partei Yesh Atid von Yair Lapid aus den Wahlen hervor. Ein gutes Ergebnis – doch die Schwächung der Gegner reichte dennoch nicht für klare Mehrheiten, sondern bedeutete wieder einmal langwierige Verhandlungen.

 

Dem Premierminister gingen zuletzt die Optionen aus – sowohl politisch wie auch taktisch. Dass Netanyahus Tricks nun nicht mehr ziehen, hat zwei Gründe: Zum Einen hat er sich mit der Instrumentalisierung des Korruptionsprozesses in die Ecke manövriert, mehr als etwas Zeit zu kaufen, vermochte er damit aber nicht auszurichten. Ebenso bemerkenswert ist, dass auch die neuste Runde in der Auseinandersetzung mit der Hamas ihm taktisch kaum nützte. Sein Narrativ, als Einziger Israels Landesverteidigung garantieren zu können, verfing nicht. Auch Israels bemerkenswerter Impferfolg im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie kostete ihn letztlich Zeit: Seit April läuft der im letzten Jahr verschobene Prozess wieder an.

 

Gerade noch rechtzeitig vor Ablauf des Mandats zur Regierungsbildung nutzten seine politischen Rivalen dieses Zeitfenster – und manövrierten Netanyahu mit dessen eigenen Mitteln ins vorläufige politische Aus. Denn die Koalition aus acht Parteien ist erstaunlich ähnlich zusammengesetzt wie das Bündnis, das der Likud-Chef formen wollte, um sich weiter im Amt zu halten.

 

Lapid ging in die Offensive, weil es auch für ihn ums politische Überleben ging

 

Eine Schlüsselrolle dafür spielten die arabischen Wählerinnen und Wähler, die Netanyahu vor den Wahlen im März umgarnte, ebenso wie der Vorsitzende Ra'am-Liste Mansour Abbas, mit dem der Likud nach der Abstimmung in Verhandlungen getreten war. Dass Netanyahu willens war, eine arabische Partei, die noch dazu den Muslimbrüdern nahesteht, ins Boot zu holen, offenbart zunächst, dass er letztlich mehr Machtmanager denn Ideologe ist. Zugleich verliert seine wütende Anschuldigung, dass die neue Regierung nun »Israel an den Negev verkauft«, an Gewicht.

 

Netanyahu brandmarkt das neue Regierungsbündnis zudem als Ausverkauf an die Linke. Tatsächlich ist die Teilnahme der Arbeiterpartei und von Meretz bemerkenswert, schließlich hatten sich die linken beziehungsweise linkszionistischen Parteien in früheren rechtslastigen Koalitionen – unter Netanyahu – aufgerieben. In der neuen Regierung werden sie sich vor allem auf soziale Themen wie etwa Miet- und Lohnentwicklung konzentrieren – eigene Akzente im Friedensprozess werden sie dagegen kaum setzen. Zumindest stellt die einst stolze Arbeiterpartei wieder das Staatsoberhaupt: Fast unbemerkt vom Tohuwabohu um Netanyahu wählte die Knesset vor wenigen Tagen Isaac Herzog zum neuen Präsidenten Israels.

 

Als wohl größter Gewinner aus den Verhandlungen geht aber wohl die zentristische Yesh Atid (»Es gibt eine Zukunft«) und ihr Vorsitzender Yair Lapid hervor. Er gilt als der Architekt des Bündnisses und entscheidende Schnittstelle zwischen den so unterschiedlichen Koalitionspartnern. Lapid ging in die Offensive, weil es auch für ihn ums politische Überleben ging: Der frühere TV-Journalist war vor fast zehn Jahren angetreten, als Quereinsteiger gegen den politischen Klüngel vorzugehen, hatte sich aber ebenso von Netanyahu einspannen lassen und wurde nach nur einem Jahr als Finanzminister gefeuert. Nun fuhr seine Partei das zweitstärkste Ergebnis bei den Wahlen ein – und der 57-Jährige wollte unbedingt verhindern, dass er ebenso wie Benny Gantz wieder einmal von Netanyahu entzaubert wird.

 

Die größte Volte legte wohl Netanyahus designierter Nachfolger als Regierungschef hin

 

Entscheidend für seinen Erfolg bei den Gesprächen aber war die Positionierung der rechten Parteien – und gegen die richtet sich denn auch der Zorn des scheidenden Premiers und seiner Anhänger. Da wäre zum Einen die Liste »Neue Hoffnung« von Gideon Sa'ar. Netanyahus langjähriger Innenminister und Parteigenosse zog die Konsequenzen aus der Fokussierung auf die Person des Premiers und gründete Ende 2020 eine Abspaltung, die dem Likud bei den Wahlen immerhin fast 5 Prozentpunkte abluchste. Ein weiterer langjähriger Weggefährte, Ex-Außenminister Avidgor Lieberman von der säkular-rechten Partei »Unser Haus Israel« – selbst in der Vergangenheit im Fokus strafrechtlicher Ermittlungen – distanzierte sich in den letzten Monaten ebenso öffentlich vom Premier und warf ihm Größenwahn vor.

 

Doch die größte Volte legte wohl Netanyahus designierter Nachfolger als Regierungschef hin. Denn bis dato hatte Naftali Bennett seit 2013 insgesamt fünf Portfolios in Netanyahus Kabinetten geleitet. Auch Bennett war immer wieder mit dem Regierungschef aneinandergeraten. Dass aber ausgerechnet der politische Arm der Siedlerbewegung einer Regierung vorstehen würde, die eine arabische und zwei linke Parteien umfasst, damit hatten wohl die wenigsten politischen Beobachter gerechnet, und auch Netanyahu hatte Bennett so viel politische Chuzpe wohl kaum zugetraut.

 

Denn auch in den eigenen Reihen seiner »Neuen Rechten« stößt das Regierungsbündnis auf wenig Gegenliebe. Die entscheidenden und auch letzten Unterschriften für die Koalitionsvereinbarung kamen aus Bennetts Lager.

 

Netanyahu brandmarkte denn auch insbesondere Bennetts Volte als »Verrat des Jahrhunderts«. Sein Sohn Yair Netanyahu, der in den sozialen Medien in etwa eine Rolle einnimmt wie Donald Trump Jr. in den USA, beleidigte Bennett auf Twitter als »Abschaum«, dessen Parteikollegin, Ex-Justizministerin Ayelet Sheket, als »Satan«. Noch am Abend demonstrierten aufgebrachte Anhänger der »Neuen Rechten« wie des Likud vor den Domizilen der beiden Politiker. Bennett selbst wiederum inszenierte sich bei seinen ersten TV-Auftritten nach Bekanntgabe des Bündnisses als politischer Märtyrer, der die eigene Popularität für das Wohl Israels opfere.

 

Für den Likud stellt sich immer akuter die Frage, ob die Rückkehr in die Regierung nicht ohne Netanyahu einfacher zu bewerkstelligen ist

 

Gerade am rechten Flügel liegt die Achillesferse dieser Koalition – niemandem ist das bewusster als Benjamin Netanyahu, der sich weiterhin weigert, das Handtuch zu werfen. Er mobilisiert nun seine Anhänger, um Druck auf die Knesset auszuüben. Dort sitzt noch immer einer seiner wichtigsten taktischen Optionen: Parlamentssprecher Yariv Levin kam erst im Mai 2020 ins Amt und ist ein treuer Gefolgsmann Netanyahus. Kein Wunder also, dass das neue Bündnis als ersten Schritt verkündet hat, Levin abzulösen, um Netanyahus Hinhaltetaktik – dazu gehört etwa die ständige Verschiebung von Abstimmungen – ein Ende zu setzen.

 

Für die neue Regierung, in der zunächst Bennett und gemäß eines Rotationsmodells Lapid den Premierposten übernehmen soll, ist es wichtig, die Vereidigung schnell voranzubringen – und Netanyahu wenig Zeit zu lassen, Abgeordnete aus dem rechten Lager unter Druck zu setzen und zum Rückzieher zu bewegen. Schließlich kommt das Bündnis inklusive aller Abgeordneter auf genau die notwendigen 61 von 120 Stimmen.

 

Diese knappe Mehrheit macht die neue Regierung natürlich instabil. Doch solange auch nur theoretisch die Möglichkeit besteht, dass Netanyahu Abweichler gewinnt, hält sie sie auch zumindest auf kurze Sicht zusammen. Für den Likud stellt sich immer akuter die Frage, ob das nicht ohne den Störfaktor Netanyahu einfacher zu bewerkstelligen ist. Und auch Netanyahu muss nun abwägen, worauf er seine Energie fokussiert. Der Prozess gegen ihn hat bereits im April mit den ersten Aufnahmen von Zeugenaussagen den Betrieb wieder aufgenommen.

Von: 
Robert Chatterjee

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