Lesezeit: 7 Minuten
Interview mit Türkei-Experte Dimitar Bechev zu den Wahlen

»Kılıçdaroğlu muss im ersten Wahlgang gewinnen«

Interview
von Leo Wigger
Türkische Opposition einigt sich auf Kemal Kılıçdaroğlu
CHP Fotoğraf Servisi

Noch 10 Tage bis zur Schicksalswahl: Türkei-Experte Dimitar Bechev über die Schlüsselthemen im Wahlkampfendspurt – und Erdoğans letzten Trumpf.

zenith: Kann Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu das Momentum aus den Umfragen nutzen und Erdoğan besiegen?

Dimitar Bechev: Die Chancen stehen 50:50. Dem Bündnis um Kılıçdaroğlu ist es gelungen, Differenzen zu minimieren – dazu kommt die Unterstützung der pro-kurdischen HDP. Erdoğan wiederum kommen Kontrolle über Staatsapparat und den Großteil der Medien zugute. Für den Amtsinhaber steht zudem mehr auf dem Spiel: Erdoğan kann sich eine Niederlage nicht erlauben.

 

Welche Faktoren können angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens den Ausschlag für den Wahlausgang geben?

Die Opposition muss die Wahlen bereits im ersten Wahlgang für sich entscheiden – im Falle einer Stichwahl hätte dagegen wohl Erdoğan die besseren Karten. Wichtig ist aber auch der Ausgang der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen. Regierungsarbeit – oder gar Verfassungsänderungen – gestalten sich ohne Mehrheit natürlich schwierig.

 

Im Wahlkampfendspurt verkündete die AKP die Ausschaltung des IS-Führers und die Senkung der Inflation. Wie glaubwürdig sind solche Erfolgsmeldungen?

Die Wählerinnen und Wähler wenden sich vor allem wegen der Preissteigerungen von der AKP ab. Die lassen sich kurzfristig verschleiern, etwa durch Renten- und Lohnerhöhungen. Notwendige Maßnahmen wie Zinserhöhungen lehnt Erdoğan aber ab. Deswegen wird die Inflation nach den Wahlen wieder in die Höhe schnellen – die Türkische Lira ist nämlich derzeit überbewertet.

 

Das verheerende Erdbeben ist gerade drei Monate her. Haben die Menschen dort die Möglichkeit, sich an den Wahlen zu beteiligen?

Von den Wählerinnen und Wählern, die in eine andere Provinz umsiedeln mussten, haben sich etwa 90 Prozent noch nicht umgemeldet. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Behörden in der Lage sind, in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten genug Wahllokale bereitzustellen. All das wirft einen Schatten über die Legitimität dieser Wahlen.

 

Sollte Erdoğan verlieren, wird er dem Beispiel von Donald Trump folgen und die Rechtmäßigkeit des Ergebnis ablehnen?

Als letztes Mittel könnte er seine Anhänger mobilisieren. Allerdings rechne ich nicht mit demselben Effekt wie beim Putschversuch 2016 – damals stand noch viel mehr auf dem Spiel. Übrigens würde auch die Opposition wohl zu Protesten aufrufen, sollte Erdoğan hauchdünn vorne liegen.

 

War es das für Erdoğan, sollte er verlieren, oder hat er das Zeug für ein politisches Comeback?

Mit Blick auf die Wirtschaft steht Kılıçdaroğlu vor riesigen Herausforderungen und seine Koalition ist brüchig. Sollte Erdoğan seine Karten richtig spielen, könnte er sich Garant für Stabilität neu aufstellen – so wie es Netanyahu in Israel gelungen ist.


Dimitar Bechev ist Dozent an der Oxford School of Global and Area Studies (OSGA). Im vergangenen Jahr erschien sein Buch »Turkey Under Erdogan«.

Von: 
Leo Wigger

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