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Der Gazakrieg und der Nahostkonflikt

Ein Szenario zur Beendigung des Kriegs in Gaza

Essay
Der Gazakrieg und der Nahostkonflikt
US-Außenminister Anthony Blinken zu Besuch bei seinem saudischen Amtskollegen Faisal Bin Farhan U.S. Department of State

US-Präsident Biden warnte nach dem 7. Oktober, sich nicht von Wut treiben zu lassen. Wie erwartet geschieht aber genau das. Wie könnte eine politische Übergangslösung unter Beteiligung von Israels arabischen Nachbarn aussehen?

Die Politik im Nahen Osten ist derzeit von Wut getrieben. Die Israelis sind wütend über das, was die Hamas und ihre Verbündeten am 7. Oktober getan haben. Teile Israels befinden sich in einer Schockstarre – andere fordern Vergeltung oder sogar Rache – und dementsprechend unerbittlich geht man in Gaza vor. Europäer und Amerikaner empfinden dafür in weiten Teilen Verständnis. Demgegenüber sind die Palästinenser und die Araber insgesamt wütend über die militärische Operation der Israelis in Gaza und auf die unterstützende Haltung seitens der Europäer und Amerikaner. Sie sind auch wütend, weil die israelische Regierung den Siedlern in der Westbank freie Hand dabei lässt, sich an Palästinensern und ihren Besitztümer zu vergreifen, obwohl diese mitnichten für den Terror der Hamas verantwortlich sind.

 

Auch in anderen muslimischen Staaten und solchen des sogenannten globalen Südens merkt man diese Wut auf allen Ebenen. Russen und Chinesen hingegen sind ohnehin stets auf den Westen wütend und haben sich entschieden, den Krieg in Gaza als Instrument im geopolitischen Kampf gegen die Dominanz der USA zu nutzen, was sie teilweise durch ihre kritische Haltung gegenüber Israel zum Ausdruck bringen.

 

Dabei beeinflusst diese Wut die Fähigkeit von Politikern, sich Gedanken zu machen, wie man der Gewalt realistischerweise ein Ende setzen kann. Man verkämpft sich stattdessen in moralischen Grundsatzdebatten, wie viel Gewalt gerechtfertigt ist und wer womit angefangen hat, oder schließt einfach ganz die Augen vor den blutigen Realitäten. Innovative, unorthodoxe Ansätze, die auf Stabilisierung der Lage entsprechend dem Grundsatz »Schritt für Schritt« abzielen, sind dabei kaum zu vernehmen.

 

Das Prinzip Verantwortung

 

Unter den jetzigen Umständen wäre es nur möglich, dass man sich auf eine provisorische Stabilisierung mit nachhaltigen Perspektiven beschränkt. Zukünftige und dauerhafte Lösungen stehen nicht zur Diskussion, auch wenn man sie nicht aus dem Blick verlieren sollte. Klar ist: Überlässt man die Lage in Gaza allein der derzeitigen israelischen Politik und ihrer Militärmacht, wird der Gazastreifen zum Schauplatz einer Jahrzehnte währenden humanitären Katastrophe. Israel ist derzeit nicht in der Lage, so politisch zu denken und zu handeln, wie es für eine Lösung notwendig wäre. Da es seitens der arabischen Staaten keine Anzeichen für eine Bereitschaft zur militärischen Intervention gegen Israel gibt, bleibt für die am Schicksal der palästinensischen Bevölkerung interessierten arabischen und muslimischen Staaten nur der Weg der Diplomatie.

 

Zum diplomatischen Weg gehört das Prinzip der Verantwortung. Mit anderen Worten: Wäre es denkbar, dass sich arabische oder muslimische Staaten bereit erklären, temporär im Gazastreifen Verantwortung übernehmen? Die Verantwortung bezieht sich darauf, die Lebensverhältnisse zu verbessern, Wiederaufbau zu betreiben, die innere Ordnung zu sichern und dafür Sorge zu trafen, dass keine Angriffe gegen Israel von Gaza ausgehen – und umgekehrt.

 

Solche Lösungsansätze setzen voraus, dass Israel arabische Verantwortung für Gaza akzeptiert. Aber warum nicht? Der Gazastreifen stand bis 1967 unter der Verwaltung Ägyptens – und zwar zu einer Zeit, da sich Ägypten und Israel noch im Kriegszustand befanden. In diesem Rahmen sollte die arabische Seite akzeptieren, dass die Herrschaft der Hamas als militärische Macht in Gaza im Zuge der militärischen Operation der Israelis beendet wird. Die Frage, ob die Hamas als politische Kraft weiterhin existieren kann oder wird, ist eine zukünftige, die einmal dahingestellt sei.

 

Derzeit ist hin und wieder von Szenarien die Rede. Sofern sie entworfen werden, klingen sie überwiegend allgemein und vage. Sie beschränken sich meistens auf drei Alternativen: 1. Israel besetzt den Gazastreifen und stellt ihn unter Militärverwaltung, 2. Die Palästinensische Autonomiebehörde wird unter dem Schutz israelischer Panzer im Gazastreifen eingesetzt, 3. Nachdem Israel den Großteil des Gazastreifens buchstäblich in Schutt und Asche gelegt hat, zieht sich die Armee zurück und überlässt das Gebiet seinem Schicksal, was mit einer Rückkehr der Hamas an die Macht verbunden wäre.

 

Die Oberflächlichkeit in der Ausformulierung solcher Szenarien ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass man sich nicht aus der Deckung wagen möchte. Denn wird man konkret, setzt man sich der Gefahr aus, dass Kritiker solche Szenarien verhetzen, auf Inkohärenzen hinweisen oder diese gar mit der Begründung verwerfen, sie seien überhaupt nicht durchsetzbar. Szenarien aber leben davon, dass sie dynamisch bleiben. Dass man auf ihnen aufbaut, sie verfeinert und als Denkanstoß betrachtet, um Auswege aus einer verfahrenen Situation zu finden.

 

Errichtung einer gemeinsamen arabisch-palästinensischen Verwaltung

 

Worin könnte ein alternatives Szenario nach dem Prinzip der arabischen Verantwortung bestehen? Hier einige mögliche Schritte:

 

1. Israel erklärt sich bereit zu einer mehrwöchigen Feuerpause, welche für politische Verhandlungen genutzt wird. Diese Feuerpause muss nicht morgen beginnen und kann unterbrochen werden, um zum Beispiel Raketenbeschuss aus Gaza zu unterbinden. Sie sollte aber zeitnah erfolgen und verbindlich angekündigt werden. Der Stopp der flächendeckenden Zerstörung ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich irgendeine Macht jenseits der Hamas dazu bereiterklärt, Verantwortung zu übernehmen, was im dringenden Interesse Israels sein dürfte.

 

2. Man beruft eine ständig tagende Gaza-Konferenz ein, bestehend aus Israel, den USA, der Europäischen Union, den Vereinten Nationen und den Vetomächten des UN-Sicherheitsrats sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde und jenen arabischen Staaten, die bereits durch Engagement im Nahostkonflikt in Erscheinung getreten sind. Ägypten, Jordanien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko, Saudi-Arabien oder auch der Golfkooperationsrat insgesamt stellen ad-hoc eine ständige multinationale, arabische Militär- und Polizeimacht zusammen, deren Führung einer vertrauenswürdigen, integren arabischen Persönlichkeit übertragen wird.

 

3. Zugleich wird eine Versammlung von Experten, Notabeln und respektierten Familien aus dem Gazastreifen einberufen, welche den Chef einer provisorischen Zivilverwaltung benennt. Dieser übernimmt gemeinsam mit dem arabischen »Interimsgouverneur« die Regierungsgeschäfte und verfügt über ein eigenes Budget. Im Gegenzug garantiert Israel ein sofortiges Moratorium für den Bau und die Erweiterung von Siedlungen im Westjordanland sowie jedwede Enteignungen von palästinensischem Besitz in Jerusalem; darüber hinaus verfügt die Regierung die Entwaffnung von Siedlermilizen durch die israelischen Streitkräfte.

 

4. Das arabische »Mandat« über Gaza sowie die Zivilverwaltung wird auf einen Zeitraum von vier Jahren begrenzt. Israel sichert denjenigen arabischen Staaten, mit denen es bereits diplomatische Beziehungen unterhält, sowie den internationalen Garantiemächten vertraglich zu, dass sie unbehelligt den Gazastreifen über Ägypten, das Mittelmeer oder auch die Luft versorgen können, sobald eine Landebahn unter Aufsicht des arabischen »Interimsgouverneurs« eingerichtet wurde. Israel garantiert ferner die Strom- und Trinkwasserversorgung zu marktüblichen Preisen.

 

5. Die am Abkommen beteiligten Mächte – einschließlich Israels – zahlen nach einem fair zu verhandelnden und den Möglichkeiten der jeweiligen Macht entsprechenden Schlüssel in einen Fond ein, welcher zur humanitären, gesundheitlichen Versorgung und zum Aufbau vitaler Verwaltungsstrukturen verwendet wird.

 

Ungelöste Frage: Soll man die Freilassung der Geiseln ausklammern oder zur Vorbedingung machen?

 

Eine drängende Frage, welche in diesem Szenario gleichwohl noch unbeantwortet bleiben muss, ist die Freilassung der israelischen und internationalen Geiseln der Hamas im Gazastreifen. Einerseits wäre es schwer vorstellbar, dass Israel einer Feuerpause zustimmt, ohne dass dies gewährleistet ist. Andererseits ist die Hamas im hier beschriebenen Szenario keine Verhandlungspartei. Ferner ist unklar, wo sich die Geiseln befinden, und ob es außer der Hamas noch andere Akteure gibt, die sie gefangen halten. Gleichzeitig könnte der hier beschriebene Weg die bereits laufenden Verhandlungen torpedieren bezihungsweise in die Länge ziehen, sofern er nämlich Gegenstand einer diplomatischen Gesamtlösung würde. Hier einen klugen Weg zu finden, die Prozesse miteinander konfliktsensibel zu verzahnen, obliegt denjenigen beteiligten Mächten, die den Stand der Verhandlungen am besten kennen.

 

Bei jeder Lösung sollte es um ein diplomatisches Geben und Nehmen gehen, was unzweifelhaft zeigt, dass sofortige Stabilisierung der Lage möglich ist, wenn man es schafft, die Wut aller Beteiligten dadurch zu kontrollieren, dass ihre Sichtweise des Konflikts in die möglichen Lösungsansätzen gleichermaßen einfließen. Dass dies keine leichte Aufgabe ist, liegt auf der Hand. Für den ersten Schritt sollte man zum jetzigen Zeitpunkt weder über die zu weit entfernte Zukunft, noch über die Vergangenheit diskutieren.

Von: 
Naseef Naeem und Daniel Gerlach

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