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Ägyptischer Film »In den letzten Tagen der Stadt«

Auf der Jagd nach Kairos Seele

Portrait
So fühlt Kairo
»In den letzten Tagen der Stadt« ist der Debutfilm des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said. Er ist angesiedelt zwischen Realität und Fiktion, zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Zero Productions

»In den letzten Tagen der Stadt« ergründet mit Bildern, Tönen und Geräuschen persönliche Momente im Kairo vor der Revolution.

An einem Morgen im Dezember 2009 fahren die Freunde Bassem (Bassem Fayed), Tarek (Basim Hajar), Hassan (Hayder Helo) und Khalid (Khalid Abdalla) durch Downtown Kairo und filmen nahezu leere Straßen. Sie sind Regisseure und Khalid ist dabei, einen Film zu drehen. Seine Freunde stammen aus Beirut, Bagdad und Berlin. Khalid fühlt, dass in der Stadt etwas Ungreifbares vorhanden ist, das er festhalten möchte. Er möchte Kairo filmen und begibt sich auf eine Suche, die ihn nicht mehr loslässt. Der Film »Fi Akher Ayam El Medina« (zu Deutsch: »In den letzten Tagen der Stadt«) beschreibt die Suche nach der Seele einer Stadt. Der Debutfilm des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said ist angesiedelt zwischen Realität und Fiktion, zwischen Dokumentar- und Spielfilm. El Said betont jedoch, dass es kein Film über die ägyptische Revolution sei. Der Film ist revolutionär in seiner Produktion und im cineastischen Sinne. In der Weise, wie er Bilder und Töne zu einem Moment zusammenbringt.

 

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Die ägyptische Filmindustrie blickt auf eine lange Geschichte zurück und in Kairo treffen Mainstream-Streifen und unabhängige Filme aufeinander. Der ägyptische Film hatte aber auch immer wieder mit Zensur zu kämpfen. »In den letzten Tagen der Stadt« hat zehn Jahre bis zu seiner Fertigstellung gebraucht. 2007, in der ersten Phase der Filmproduktion, gründete El Said eine eigene Firma mit dem Namen »Zero Productions«. »Wie mein Freund Khaled Abdallah immer sagt: Du musst den Boden bauen, um darauf gehen zu können, und ein Dach, um dich zu schützen.« Diese Initiative ermöglichte es, unabhängige Filme wie sein Debüt zu unterstützen. Die Idee für »In den letzten Tagen der Stadt« liegt nun schon zwölf Jahre zurück. Anstatt die Revolution als Haupthandlung zu wählen, wie in indirekter Form im Film »Eshtebak – Zusammenstoß« von Mohammad Diab (2016), der zwei Jahre nach der Revolution spielt, stellt dieser Film die Charaktere in den Vordergrund, die der politischen und sozialen Entwicklung während der letzten Mubarak-Jahre entgegentreten mussten. In Folge der Produktion entstand nach Zero Productions zusammen mit Cinematheque und dem Dokumentararchiv-Kollektiv Mosireen eine alternative Infrastruktur, die jungen Regisseuren die Möglichkeit gibt, ihre Werke zu zeigen und ihr Wissen zu teilen.

 

Trotz internationaler Preise darf El Saids Werk in Ägypten nicht gezeigt werden

 

Seine Weltpremiere feierte »In den letzten Tagen der Stadt« im Februar 2016 auf der Berlinale – und räumte den Caligari-Filmpreis ab. Der Film wurde in vielen internationale Medien besprochen, darunter, etwa The Guardian. Er wurde mittlerweile auf 90 Festivals gezeigt und lief auch in Europa an, zuletzt im September in Deutschland. Nichtsdestotrotz darf der Film immer noch nicht in Ägypten gezeigt werden. Dass bedrückt El Said vor allem, weil die Stadt Kairo in seinem Film als ein eigener Charakter angelegt ist. »Die Menschen in Ägypten werden den Film auf eine andere Art und Weise im vollen Umfang und auf verschiedenen Ebenen verstehen können.«

 

Im Interview mit Qantara berichtet El Said, dass der Film bei der Filmzulassungsstelle eingereicht wurde, doch diese forderte in der Folge mehr Dokumente an als üblich. Obwohl der Filmemacher und sein Team alle Auflagen erfüllten, die Zensurbehörde zögert eine Entscheidung hinaus. »So kann man einen Film auch abwürgen, ohne ihn formal zu zensieren.« Tamer El Said reiht sich so ein in die Reihe berühmter Regisseure, deren Filme in Ägypten der Zensur zum Opfer fielen. Wie Ahmed Shawky Ali in einem Artikel über die ägyptische Filmzensur berichtet, wurde bereits etwa Youssef Chahines »Al Asfour« (1972) zeitweise verboten. Chahine war bekannt für seine sozialkritischen Filme und erlangte vor allem dank seiner Alexandria-Trilogie Berühmtheit.

 

»In den letzten Tagen der Stadt« hatte aber auch schon während der Produktionsphase mit Schwierigkeiten zu kämpfen, insbesondere wenn es um Drehgenehmigungen in Kairo ging. El Said fand einen kreativen Umweg – und saugte sich ein komplett erfundenes Drehbuch aus den Fingern, um die Zensoren an der Nase herumzuführen und die Erlaubnis für die Dreharbeiten zu ergattern. Der Film lebt von der Stadt Kairo, die kurz davor steht zu explodieren, seinen Charakteren, die sich simultan zu der pulsierenden Stadt entfalten. Die Beziehung zwischen Khalid und seiner Freundin Laila (Laila Samy) steht vor dem Aus, da sie plant, das Land zu verlassen. Dennoch filmt Khalid sie. Seine Mutter ist sehr krank, und so umgibt Khalid eine gewisse Traurigkeit, die er nicht loswird. Es werden immer wieder Proteste zwischen den Szenen gezeigt, an denen Khalid vorbeiläuft. In einer Szene wird ein Demonstrant von Sicherheitskräften zusammengeschlagen, in einer anderen filmt Khalid, wie eine Frau von einem Mann auf einem Dach verprügelt wird. Mittendrin schreckt er jedoch zurück, filmt sie dennoch, bis der Mann ihn entdeckt.

 

Man muss nicht den Tahrir filmen, um einen Film über die Revolution zu drehen

 

»Hat Khaled das Recht, diese Situation zu filmen? In der Stadt herrscht Druck, der sich schnell ausbreitet. Es brodelt. Je mehr er sich an die Stadt gebunden fühlt, desto bedrückender wird es – und so kann es nicht weitergehen«, erklärt El Said die moralische Dimension solcher Szenen, die durch Geräusche und Bilder Momente schaffen.

 

Der Film stellt die verschiedenen Versionen der Darsteller in einem fiktiven Rahmen zusammen. Auf der Leinwand herrscht eine bedrückende und traurige Atmosphäre, aber gleichzeitig schlägt der Film philosophische und poetische Töne an. Er ist komplex und baut durch die Charaktere verschiedene Ebenen auf, geht aber auch auf die größeren Ereignisse im Kontext der Revolutionstage 2011 ein. El Said sieht »In den letzten Tagen der Stadt« jedoch nicht primär als politisches Statement, sondern als Werk, das seinem Medium treu bleibt. Die Musik spielt in diesem Film zwar eine wichtige aber eher untergeordnete Rolle und tritt nur in wenigen Szenen in den Vordergrund. Im Film spielt auch Maryam Saleh eine kleine Rolle, die vor allem Dingen durch ihre experimentelle Musik und politisch, sarkastischen Texte bekannt geworden ist.

 

Tamer El Said gehört zu einer Reihe von Regisseuren, die indirekt die Diskurse der Revolution ansprechen, ohne diese direkt zu zeigen. El Said sagt: »Selbst, wenn ein Film die politische Seite ignoriert, nimmt er durch dieses Ignorieren eine politische Haltung einnimmt und gibt so ein Statement ab.«

 

Marouan Omara hat auf ähnliche Weise Filme gedreht, die sich zwischen Fiktion und Dokumentation bewegen, und er ist der Meinung, dass man »nicht den Tahrir filmen muss, um einen Film über die Revolution zu drehen. »Crop«, ein Film von Johanna Domke und Marouan Omara, spielt zwar während der Revolution, aber ohne die Geschehnisse direkt einzufangen. Er bewegt sich ausschließlich im Bürokomplex der staatlichen Zeitung Al-Ahram. »Die Realität aus einer anderen Perspektive betrachten«, beschreibt El Said diesen Ansatz, den einer neuen Generation von Filmemachern in der Region mittels neuer Formate heute experimentell erkundet.

Von: 
Tugrul von Mende

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