Was 2011 begann, ist noch längst nicht vorbei.
Zehn Jahre sind vergangen, seit Proteste und Aufstände die Arabische Welt veränderten. Über die epochale Bedeutung des Arabischen Frühlings lässt sich streiten, ebenso über dessen Bilanz. Vordergründing sieht sie so aus: Nur in einem einzigen Land hat sich seit 2011 eine fragile Demokratie entwickelt. Deutlich mehr Länder der Region erlebten Krieg- schaos oder die Restauration repressiver, autoritärer Regime. Aber vielleicht ist das Entscheidende am Arabischen Frühling eher, dass er Alternativen aufzeigte. Möglichkeiten, Politik, Staat und Gesellschaft anders zu gestalten.
So jedenfalls blickt die ägyptische Journalistin Lina Attalah im vorliegenden Dossier auf Ägypten, wo die Hoffnungen auf Demokratie der Ernüchterung über eine autoritäre Regression gewichen sind: als eine Möglichkeit von vielen. Nur deshalb sieht sie noch einen Sinn in ihrer Arbeit – wissend, dass auch bessere Szenarien möglich sind.
Vor zehn Jahren entfaltete sich dieser Möglichkeitsraum. Dass die arabischen Staaten mal anders beherrscht wer- den könnten als durch Autokraten wie Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten, Saleh im Jemen oder Gaddafi in Libyen, war bis zu diesem Zeitpunkt zwar theoretisch möglich, gleichwohl jedoch kaum vorstellbar.
Das ist heute anders. Seit 2019 gibt es neue Massenproteste in der Region, diesmal allerdings in Ländern, an denen die »erste Welle« des Arabischen Frühlings vorbeirollte. So unterschiedlich die Umstände in Algerien, im Sudan, im Irak und im Libanon auch sein mögen: Der Traum von einem möglichen Wandel wäre ohne 2011 wohl kaum so stark.
Anders ist heute auch der Blick auf Despoten, die dem Ansturm der Massen trotzen und – wie während der aktuellen Corona-Pandemie – immer wieder Vorwände suchen, um Demonstrationen und freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. Auch dies ist eine Folge: In Syrien ließ das Regime die Proteste brutal niederschlagen. Es folgte ein bewaffneter Aufstand mit Unterstützung regionaler Mächte und schließlich ein weltpolitischer Konflikt, der mittlerweile seit einem Jahrzehnt andauert.
Viele der Hoffnungsträger von einst, aber auch viele Berichterstatter sind seitdem verschwunden oder weitergezogen. Einer, der den Krieg und das internationale Ringen um Syrien von Anfang an beobachtet hat, ist der Journalist Ibrahim Hamidi, diplomatischer Korrespondent von Asharq al-Awsat und Syrer aus der Provinz Idlib. In diesem zenith-Dossier erzählt der sonst um Objektivität und Distanz bemühte Hamidi seine persönliche Geschichte.
Der Arabische Frühling – Beginn einer Zeitenwende? Diese Frage steckt im Kern dieses Hefts. Wir geben darin den Menschen Raum, die 2011 oder 2019 dabei waren. Sie erinnern sich, reflektieren, wie die Ereignisse von damals aufgearbeitet werden können, und fragen, wie es weitergehen kann. Nicht zuletzt prägten die Kernforderungen der Revolutionen – Freiheit und soziale Gerechtigkeit – im letzten Jahrzehnt auch die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika. Das Dossier zum zehnjährigen Jubiläum der Umbrüche entstand in Kooperation mit und mit Unterstützung der FES und ihrer zahlreichen regionalen Büros.
Die inhaltliche und redaktionelle Gesamtverantwortung liegt wie immer bei zenith.