Lesezeit: 8 Minuten
Balanceakt des tunesischen Präsidenten

Kais Saied und die Kritik

Analyse
Balanceakt des tunesischen Präsidenten
Protest im Oktober 2021 gegen die Notstandsgesetzgebung des tunesischen Präsidenten Kais Saied Dodos photography / Wikimedia Commons

Tunesiens Präsident hat für seinen autoritären Kurs bisher mehrheitlich Rückendeckung aus der Bevölkerung erhalten. Doch die Stimmung in Tunesien droht zu kippen. Dabei spielt auch eine Online-Befragung eine Rolle.

2022 werde das »Jahr des Volkes« – so das Versprechen Kais Saieds. Im Dezember hatte der tunesische Präsident seinen Fahrplan für das neue Jahr vorgestellt, um Tunesien aus der derzeitigen innenpolitischen Krise zu steuern. Der Plan sieht eine digitale Befragung der tunesischen Bevölkerung, ein Referendum über eine Wahlrechtsreform und vorgezogene Parlamentswahlen vor.

 

Über eine digitale Plattform können die Tunesier derzeit 30 Multiple-Choice-Fragen zu Themen wie Politik, Wirtschaft, Bildung und Gesundheit beantworten. Stichtag ist der 20. März, der Tag der tunesischen Unabhängigkeit vom französischen Protektorat. Im Anschluss wird eine Expertenkommission die Ergebnisse auswerten und Vorschläge für Verfassungs- und Wahlrechtsreformen ableiten, über welche die tunesische Bevölkerung wiederum im Rahmen eines Referendums am 25. Juli abstimmen wird – dem Jahrestag der Massenproteste gegen die alte Regierung, die Kais Saied vor sechs Monaten dazu veranlasst hatten, das Parlament auszusetzen und die Regierungsgeschäfte im Alleingang zu übernehmen.

 

Für den 17. Dezember, dem symbolgeladenen Jahrestag der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi, welchen Kais Saied kurzerhand als neuen Revolutionsfeiertag ausgerufen hatte, sind schließlich Legislativwahlen angesetzt. Bis dahin bleibt die Arbeit des Parlaments eingefroren und staatliche Entscheidungen werden entweder von der seit Oktober amtierenden Premierministerin Najla Bouden und ihrer Technokraten-Regierung getroffen oder von Kais Saied per Dekret erlassen.

 

Tunesien zeigt sich nunmehr gespalten angesichts dieser Ankündigungen und während Unterstützer des Präsidenten argumentieren, Saied habe nun wie zuletzt im In- und Ausland gefordert, einen Fahrplan für sein weiteres Vorgehen geliefert, bezeichnen dessen Kritiker das Programm als zu ambitioniert und mit zahlreichen Problemen behaftet.

 

Vor allem gegenüber der digitalen Volksbefragung kursieren große Vorbehalte

 

Das harte Durchgreifen Kais Saieds als Reaktion auf die Proteste des 25. Juli wird in Tunesien auch im Rückblick von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als notwendiger Befreiungsschlag aus einer politischen Sackgasse gewertet. Doch von der ersten Euphorie ist auf Tunesiens Straßen derzeit nicht viel zu spüren, die Stimmung ist zunehmend bedrückt und der Applaus für den Fahrplan des Präsidenten blieb bislang aus.

 

Vor allem gegenüber der digitalen Volksbefragung kursieren große Vorbehalte. Ein Hauptkritikpunkt ist die Tatsache, dass nicht einmal die Hälfte aller Tunesier über einen funktionierenden Internetanschluss verfügt, verbunden mit der Sorge, dass Bewohner ländlicher Regionen sowie die zwei Millionen Analphabeten von der Befragung ausgeschlossen werden.

 

Dabei sollte doch das ganze Volk, also gerade auch die sozial und medial Abgehängten, aber eben auch die wachsende tunesische Diaspora über Tunesiens Zukunft mitbestimmen können. Eine Registrierung ist jedoch nur mit einer tunesischen Mobilnummer möglich und die Sprachauswahl ist begrenzt auf Arabisch, das nicht alle im Ausland lebenden Tunesier beherrschen.

 

NGOs wie iWatch und der einflussreiche tunesische Gewerkschaftsverband UGTT kritisieren darüber hinaus die fehlende Transparenz hinsichtlich der Konzipierung und Auswertung der Fragen. Die Onlinebefragung sei nicht repräsentativ und könne einen echten nationalen Dialog nicht ersetzen, da weder politische Institutionen noch zivilgesellschaftliche Gruppen an der tatsächlichen Ausgestaltung der Reformpläne beteiligt werden.

 

Laut letzter Umfragen unterstützen derzeit noch knapp 60 Prozent der Tunesier Saieds Kurs

 

Politische Akteure gehen teilweise noch weiter und werfen Kais Saied ein verfassungs- und gesetzeswidriges Vorgehen zur Instrumentalisierung persönlicher Interessen vor. An vorderster Front steht Abir Moussi, die Wortführerin der »Freien Destour-Partei« und frühere Funktionärin unter Zine El Abidine Ben Ali, die mit ihrer polarisierenden Rhetorik gegen die Revolution und den politischen Islam zuverlässig die schwelende Nostalgie für die Amtszeit des langjährigen Präsidenten bedient. Wären morgen Parlamentswahlen würde ihre Partei laut Umfragen mit knapp über 30 Prozent als stärkste Kraft abschneiden und theoretisch sogar minimal vor einer potenziellen Partei Kais Saieds liegen, welche bisher jedoch nicht offiziell existiert.

 

Auch die moderat islamistische Partei Ennahda, die als stärkste Kraft an den letzten Regierungen beteiligt war, in den jüngsten Umfragen jedoch deutlich an Zustimmung verloren hatte, ruft offen zum Boykott der Umfrage auf. Trotz der Kritik aus den verschiedenen Lagern ist jetzt schon klar, dass die Ergebnisse und die Beteiligungsquote an der Befragung als Stimmungsbarometer fungieren und wichtige Aufschlüsse über das allgemeine politische Klima und die derzeitigen Kräfteverhältnisse liefern werden.

 

Laut der letzten Meinungsumfragen unterstützen derzeit noch knapp 60 Prozent der Tunesier den Kurs Saieds, im August vergangenen Jahres waren es noch deutlich über 80 Prozent. Seine Anhänger feiern in erster Linie seinen erbitterten Kampf gegen die Korruption, als deren Hauptverantwortliche die politische Elite angeprangert wird.

 

Doch das Blatt könnte sich schnell wenden und Saieds Popularitätswerte weiter sinken. Schließlich ist es dem einstigen Hoffnungsträger bisher weder gelungen, die Bevölkerung in einen nationalen Dialog einzubinden, noch den brennenden Alltagssorgen der Tunesier und der immer größer werdenden regionalen Ungleichheit zwischen Stadt und Land etwas entgegenzusetzen.

 

Bei den Protesten am 14. Januar ließen die Sicherheitskräfte auch Journalisten in Gewahrsam nehmen

 

Im Gouvernorat Kasserine sind die Hälfte der Erwerbstätigen im informellen Sektor beschäftigt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 40 Prozent, die Armutsquote bei über 50 Prozent. Neben brodelnden sozialen Unruhen in den Regionen wird auch in der Hauptstadt Tunis die Kritik gegenüber Saied hörbar lauter.

 

Am 14. Januar, dem Jahrestag der Flucht von Ex-Machthaber Ben Ali und einstigem Feiertag der Revolution, hatten mehrere Parteien die Bürger dazu aufgerufen, trotz Versammlungsverbot gegen den autoritären Kurs des Präsidenten auf die Straße zu gehen. Dabei ließen die Sicherheitskräfte auch Journalisten in Gewahrsam nehmen. Die Vorfälle reihen sich ein in die willkürlichen Verhaftungen hochrangiger Politiker und ehemaliger Minister in den letzten Wochen und Monaten. Betroffen ist etwa auch Moncef Marzouki, von 2011 bis 2014 amtierender Interimspräsident, der als einer der schärfsten Kritiker Kais Saieds gilt.

 

Die Diskussions- und Protestkultur gehört zu den wichtigsten Errungenschaften seit der »Jasmin-Revolution«. Menschenrechtsorganisationen befürchten nun eine Rückkehr repressiver Maßnahmen gegen oppositionelle Stimmen. Sollten freie Berichtserstattung und öffentliche Meinungsäußerung gleich welcher politischer Couleur in den nächsten Monaten verstärkt in Bedrängnis geraten, könnte die zwischenzeitlich verstummte Zivilgesellschaft wieder aufbegehren. Darauf sollte Kais Saied gefasst sein.

 

In dieser innenpolitisch angespannten und wirtschaftlich prekären Phase braucht Tunesien besonnene Akteure, die durch smarte Ideen, klare Visionen und transparente Kommunikation überzeugen und einem medialen Diskurs voller Feindbilder und populistischer Meinungsmache die Stirn bieten. Jedoch ist es den Kritikern Saieds seit seiner Wahl im Jahr 2019 nicht gelungen, sich inhaltlich klar zu positionieren, Anhänger zu mobilisieren und als organisierte Opposition aufzutreten. Es mangelt offensichtlich an politischem Willen zur Interessenbündelung, aber auch an Kompromissbereitschaft, was Kais Saied wiederum in die Karten spielt.

 

Tunesien müsste Strukturreformen präsentieren, bei deren Umsetzung alle Institutionen und Sozialpartner an einem Strang ziehen

 

Gleichzeitig wird die makroökonomische Erholung und Modernisierung Tunesiens politisch ausgebremst und durch System- und Verfassungsfragen überschattet. Unternehmer werden bei Herausforderungen wie der digitalen Transformation und in den Unwägbarkeiten der als eines der Haupthindernisse für unternehmerische Entwicklung geltenden tunesischen Bürokratie, alleine gelassen.

 

Tunesien ist dringender denn je auf internationale Geldgeber angewiesen. Doch die Reformvorschläge, die die Regierung dem internationalen Währungsfonds zuletzt unterbreitet hat, werden angesichts der mehrfach abgesenkten Kreditratings und der horrenden Staatsverschuldung, welche im Zeitraum von 2010 bis 2021 von 40 Prozent auf über 90 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen ist, nicht ausreichen, um eine Vereinbarung zu erreichen.

 

Dazu müsste Tunesien Strukturreformen präsentieren, bei deren Umsetzung alle Institutionen und Sozialpartner an einem Strang ziehen. Doch die wirtschafts- und finanzpolitische Bilanz nach hundert Tagen Bouden-Regierung fällt eher schwach aus. Sollte die Führung nicht die Entschlossenheit und Ehrlichkeit an den Tag legen, gerade wenn es um die Durchsetzung unpopulärer, aber notwendiger Entscheidungen geht, droht dem Land ein Staatsbankrott und der Trend der Abwanderung internationaler Firmen, junger Unternehmer und gut ausgebildeter Fachkräfte wird sich verstärken.

 

Dies hätte gravierende Auswirkungen auf die öffentliche Infrastruktur. Tunesien würde in Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Transport und Zahlungsverkehr noch weiter abgehängt und die wirtschaftliche Misere in Stadt und Land würde weiter ihren Lauf nehmen. Die Verschärfung schon schwelender sozialer Konflikte ist in einem solchen Szenario absehbar und versprechen für Tunesien kein leichtes Jahr.


Caroline Schmidt ist Research Associate beim Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Tunis.

Von: 
Caroline Schmidt

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.