Zarifa Ghafari ist vor den Taliban geflohen. Nun fordert die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans sie zum Gespräch auf.
Wenn ich an die Zukunft meines Landes denke, sehe ich dunkle Zeiten auf uns Afghanen zukommen. Seit der Machtübernahme der Taliban befinden wir uns auf einer andauernden Talfahrt. Menschenrechte werden verletzt, Frauen unterdrückt, die Wirtschaft bricht zusammen – überall herrscht Chaos.
Ich wurde gefragt, wie ich mir meine Heimat in zwanzig Jahren vorstelle. Das ist eine Vorstellung, die ich mir zum aktuellen Zeitpunkt überhaupt nicht ausmalen kann. Denn wenn ich den Blick in die Zukunft wage, dann sehe ich vor mir, wie die letzten zwei Jahrzehnte waren. Ich sehe ein Land, das geblutet und gelitten hat. Aber auch ein Land, das erleben durfte, was es bedeutet, Freiheiten und Hoffnung zu haben.
Und wenn ich darauf zurückblicke, frage ich mich, ob diese Jahre Traum oder Albtraum waren. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer scheint mir: Wir lebten einen wunderschönen Traum. Denn trotz aller Widrigkeiten glaubten wir daran, dass sich die Dinge ändern können, blickten zuversichtlich in die Zukunft. Das gelingt mir heute nicht.
Wir dürfen nicht noch einen Krieg in Afghanistan führen
Denn in meiner Heimat wich die Zuversicht der Verzweiflung. Dort, wo wir früher friedlich demonstrieren konnten und Frauen sich frei auf den Straßen bewegten, herrscht Angst. Dabei könnte alles anders sein. Afghanistan ist ein wunderschönes Land, voller Kultur und wunderbarer starker Menschen. Voller Farben, unterschiedlicher Kulturen und nicht enden wollenden Bergketten.
Wenn man Menschen außerhalb des Landes fragt, woran sie bei dem Wort »Afghanistan« denken, dann verbinden sie sie es vor allem mit Krieg und Terror und nicht mit schönen Landschaften. Dieses negative Bild vom Krieg hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt.
Für mich ist der Gedanke an Krieg die Vorstellung, vor der ich mich am meisten fürchte. Wir dürfen nicht noch einen Krieg in Afghanistan führen. Doch immer öfter bekomme ich zu hören, wie sich unterschiedliche Gruppierungen gegenseitig vorwerfen, Schuld an der Misere zu tragen. Auch unter den Taliban scheint Uneinigkeit zu herrschen.
Wenn ich von Frieden spreche, dann meine ich damit nicht nur, dass keine Bomben mehr vom Himmel fallen
Aber für die vergangenen sowie aktuellen Entwicklungen in Afghanistan und somit auch für die Zukunft meiner Heimat sind nicht nur interne Akteure von Bedeutung. Leider spielten und spielen auch externe Mächte wie Pakistan stets eine Rolle. Deshalb muss man Druck auf Islamabad ausüben, sich nicht mehr in unsere Angelegenheiten einzumischen.
Von den westlichen Mächten erhoffe ich mir, dass sie nicht dieselben Fehler begehen wie die Regierungen unter den US-Präsidenten Donald Trump und Joe Biden. Die internationale Gemeinschaft kann gerne unterstützen – aber führen müssen wir. Es ist wichtig, dass die Welt sieht, was gerade in Afghanistan geschieht und wie Menschen gefoltert und gebrochen werden.
Wir wollen Frieden. Und wenn ich von Frieden spreche, dann meine ich damit nicht nur, dass keine Bomben mehr vom Himmel fallen. Ich spreche von einem Frieden innerhalb der afghanischen Bevölkerung. Zwischen Frau und Mann. Regelmäßig erhalte ich Bilder von Menschen, die gefoltert werden, höre von Hausdurchsuchungen. Diese Entwicklungen machen uns zu einem Land, dass sich in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft bewegt.
Während meiner Zeit als Bürgermeistern in der Stadt Maidan Shahr litt auch ich unter der Unterdrückung von Taliban-Sympathisanten. Regelmäßig wurde mir gedroht, weil ich eine Frau bin. Sie haben Anschläge auf mich verübt und mir Steine in den Weg gelegt. Bis sie schließlich meinen Vater erschossen. Damit haben sie mir alles genommen.
Den Dialog mit jenen suchen, die das Land in Schrecken versetzen, um diejenigen zu schützen, die um ihr Leben fürchten
Während meiner Amtszeit habe ich nie mit Anhängern der Taliban kooperiert. Damals schien es unmöglich, überhaupt mit ihnen zu sprechen. Doch es ist an der Zeit umzudenken. Denn die Taliban sind jetzt an der Macht, und von nun an geht es darum, das Überleben der Bevölkerung zu sichern und Grundrechte für die Menschen einzufordern.
Deshalb würde ich mich gerne mit den Taliban-Anführern an einen Tisch setzen. Denn Frieden bedeutet ja auch immer der Spaziergang mit dem Feind. Und genau das ist es, was wir von nun an machen müssen. Den Dialog mit jenen suchen, die das Land in Schrecken versetzen, um diejenigen zu schützen, die um ihr Leben fürchten.
Deshalb ist der Dialog wichtig. Um zum einen den Frieden zu wahren, aber auch, um Frauen- und Menschenrechte zu gewähren und einzuhalten. Denn dort fängt die Zukunft an. Was ich mir in 20 Jahren von meinem Land erhoffe, ist schwer zu sagen, da es an einem Nährboden für ein gerechtes Land fehlt. Aber in einem gerechten Land möchte ich leben. In einem gerechten Land sollten alle Afghanen leben dürfen.
Deshalb müssen wir uns auf die Gegenwart konzentrieren. Darauf, dass wir jetzt anfangen, Menschenleben zu schützen und die Rechte der Frauen zu stärken. Denn ein Afghanistan, das diese Rechte nicht anerkennt, Menschen verfolgt und tötet – das ist ein Afghanistan ohne Zukunft.
Zarifa Ghafari (28) wurde 2019 Afghanistans jüngste Bürgermeisterin in Maidan Shahr, einer Stadt mit 35.000 Einwohnern in Zentralafghanistan. Im August musste sie das Land vor den anrückenden Taliban verlassen.