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Syrischer Philosoph Muhammad Schahrur

Mir doch halal!

Portrait
Syrischer Islamgelehrter Muhammad Schahrur
Illustration: Aroussi Tabbena

Muhammad Schahrur provozierte zu Lebzeiten. Aber erst dank Youtube wird das Werk des syrischen Islamgelehrten nun vollendet.

Von Muhammad Schahrur ist folgender Ausspruch überliefert, der eine Ahnung gibt, warum er als einer der kontroversesten islamischen Denker unserer Zeit gilt: »Alles, was haram ist, ist haram. Alles andere ist halal.« Ein Ansatz, der die Grundsätze islamischer Rechtsprechung und Koranexegese, die traditionell den islamischen Rechtsschulen obliegt, infrage stellt. Ein Ansatz, der kritisiert, dass eben diese Schulen darüber bestimmen, was verboten und was erlaubt ist, was Gesetz ist.

 

1938 in Damaskus geboren, studierte Schahrur zunächst Bauingenieurswesen in Moskau und Dublin, wo er 1972 promoviert wurde. Danach arbeitete er als Lehrer an der Universität in Damaskus und gründete 1973 seine eigene Beratungsfirma im Bereich Bodenmechanik. Die arabische Niederlage im Krieg gegen Israel 1967 war auch für den jungen Schahrur Anlass, über die Reformbedürftigkeit islamischer Gesellschaften und Staaten nachzudenken. Aus dem promovierten Bauingenieur wurde mehr und mehr der islamische Philosoph.

 

Nach über 20-jähriger Forschung veröffentlichte Schahrur 1990 sein Werk »Das Buch und der Koran – eine zeitgenössische Auslegung«. Sein Fazit: Der Islam von heute sei nicht mehr der Islam, den der Prophet Muhammad begründet habe, die Muslime seien aufgefordert, das antiquierte Verständnis des Koran und der islamischen Rechtsprechung aus dem 7. und 10. Jahrhundert hinter sich zu lassen.

 

Eine Auffassung, die die Autorität der islamischen Intellektuellen selbst angriff. Und damit auch die der politischen Machthaber: »Hier berufen bis heute die Staatspräsidenten die Mullahs, die wiederum ihre Fatwas nach politischem Gutdünken erlassen.« Schahrur konstatiert, dass die islamischen Gesellschaften durch eine Atmosphäre der Angst, einer Kultur des Verbotes klein gehalten werden. Bevor es politische Reformen geben könne, müsse die islamische Mentalität reformiert werden.

 

Sein Lebenswerk umfasst zwölf weitere Veröffentlichungen, die einige der heißesten Eisen des Islam verhandeln, etwa die religiösen Grundlagen der Ehe. Schahrur sah sich zeitlebens massiver Kritik ausgesetzt. Viele Intellektuelle warfen ihm vor, die Schriften so zu verdrehen, um einen westlichen Lebensstil zu rechtfertigen, einige schimpften ihn gar einen Atheisten.

 

Seine Anhänger indes glauben, die Kritik sei politisch motiviert und ziele insgeheim auf sein Verständnis einer demokratischen, mündigen Gesellschaft. Diese islamische Gesellschaft könne und dürfe nicht nur alle Inhalte des Koran zum Gegenstand einer Debatte machen, sie müsse es sogar, getreu Schahrurs Grundsatz: »Ich lese den Koran, als ob der Prophet Muhammad gestern gestorben sei und ihn mir überlassen hätte.«

 

Am 21. Dezember 2019 ist Mohammad Schahrur im Altern von 81 Jahren nun selbst gestorben. Um seine Thesen ist eine heftige Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern entbrannt, vor allem in den sozialen Netzwerken. Seine ins Netz gestellten Reden auf Youtube sind mitunter wüsten Anfeindungen ausgesetzt. Die Kommentarfunktion ist meist vorsorglich deaktiviert. Zugleich generieren ebenso Videos junger Leute hohe Klickzahlen, die um einen Mann trauern, der ihnen als Vorbild gilt. Als liberaler Freigeist, der die Konfrontation nicht scheute und gleichzeitig das Bewahren eines modernen Islam anstrebte.

 

Ist der Streit im Netz nun Ausdruck der zeitgemäßen Auseinandersetzung, die er sich für die islamischen Gesellschaften wünschte? Eines war auch dem Bauingenieur Schahrur immer klar: »Es ist einfacher, einen Tunnel oder einen Wolkenkratzer zu bauen, als die Leute zu ermutigen, das Buch des Herren mit den eigenen Augen zu lesen.« Vielleicht ändert sich das gerade. Mohammad Schahrur hätte es gefallen.

Von: 
Sam Alrefaie

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