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Studie über Palästinenser in Deutschland und der Schweiz

Was es bedeutet, Palästinenser zu sein

Essay
Studie über Palästinenser in Deutschland und der Schweiz
Die von Naji Salim al-Ali 1969 erschaffene Comicfigur des Handala stellt einen palästinensischen Flüchtlingsjungen dar. Harry Pockets / Flickr

Kulturwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi hat untersucht, wie mehrere Generationen der palästinensischen Diaspora Vorurteile und fehlende Empathie verarbeiteten. Auch, um einen Ausweg aus der Sprachlosigkeit zu finden.

Anfang Januar veröffentlichte die Kulturwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel über den Schmerz der Palästinenser in der Diaspora. »Der Westen will das Leid nicht sehen«, titelte sie und führte aus, dass sich Palästinenserinnen und Palästinenser aktuell gesellschaftlich isolierter als je zuvor fühlten. Denn von der Mehrheitsgesellschaft sei kaum Anteilnahme wegen des Kriegs in Gaza spürbar. Vielmehr würden palästinensische Menschen für den Angriff der Hamas mit Empathielosigkeit bestraft.

 

Der Artikel löste eine Flut von gehässigen, bisweilen gar feindseligen Kommentaren aus. Da wurde vom »ewigen Gejammer wegen der Nakba«, von der »palästinensischen Unfähigkeit, das Schicksal endlich zu akzeptieren« gesprochen. Man unterstellte allen Palästinensern in der Diaspora pauschal Sympathien für die Hamas-Terroristen. Der Autorin wiederum wurde billige Propaganda vorgeworfen, ihre Redlichkeit als Wissenschaftlerin in Frage gestellt.

 

Dass sich Menschen mit palästinensischen Wurzeln in der Diaspora mit ihrem Schmerz tatsächlich allein gelassen fühlen, ist nichts Neues und in deren Identität tief eingeschrieben. El Bulbeisi weiß, wovon sie spricht, nicht nur weil sie die Tochter eines Palästinensers und einer Schweizerin ist, sondern auch, weil sie eine aufwendige Studie zum Thema verfasst hat. Damit hat El Bulbeisi im deutschsprachigen Raum Neuland betreten, denn zur Geschichte der palästinensischen Diaspora in hiesigen Breiten ist bisher kaum geforscht worden.

 

Die Gesprächspartner der ersten Generation erlebten die Vertreibung von 1947/48 als Kinder

 

Die Migration von Palästinensern nach Deutschland verlief in drei Wellen: In den 1960er- und 70er-Jahren kamen größtenteils junge Männer, die in der Bundesrepublik einen Studien- oder Arbeitsplatz suchten. Während der 1980er-Jahre flüchteten infolge des Bürgerkriegs Palästinenser aus dem Libanon. Und in jüngerer Zeit erfolgte die Fluchtmigration jener Palästinenser, die seit 1948 in den syrischen Flüchtlingslagern lebten und diese aufgrund des Kriegs in Syrien verlassen mussten. Mit etwa 80.000 Menschen bildet die palästinensische Gemeinschaft in Deutschland die vermutlich größte in Europa. In der Schweiz leben nach Schätzungen nur einige Tausend Menschen mit palästinensischem Hintergrund.

 

El Bulbeisis Forschung baut auf 39 biografisch-narrativen Gesprächen auf, die zu einem großen Teil auf Arabisch geführt wurden. Die Gesprächspartner der ersten Generation erlebten die Vertreibung von 1947/48 als Kinder. Nach der israelischen Besatzung von Gaza und des Westjordanlandes sowie der Annexion von Ost-Jerusalem im Jahre 1967 durften sie nicht mehr nach Hause zurückkehren – für diese Generation eine zweite Vertreibungserfahrung. Manche von El Bulbeisis Gesprächspartnern waren überdies von den Massenausweisungen aus Deutschland nach der Geiselnahme von München 1972 betroffen und gezwungenermaßen in die Schweiz umgezogen.



Studie über Palästinenser in Deutschland und der Schweiz

Tabu, Trauma und Identität

Subjektkonstruktionen von PalästinserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015

Sarah El Bulbeisi

transcript Verlag, 2020

322 Seiten, 45 Euro

 


Unter dem Titel »Wie spricht man aus dem Nichts heraus« schildern die Männer der ersten Generation ihre Exilerfahrungen. Politische Arbeit wurde in Deutschland und der Schweiz mit Ausweisungen, Nichtverlängerung von Aufenthaltsbewilligungen oder Nichteinbürgerung bestraft. Das Dasein im Exil war also eng verknüpft mit der Erfahrung der Ohnmacht. Dazu kam die Verletzung durch die Nichtanerkennung ihrer Geschichte, denn in Deutschland und der Schweiz dominierte das Narrativ von der selbstverschuldeten und freiwilligen Flucht aus dem ehemaligen Mandatsgebiet. »Die Öffentlichkeit, in der sie lebten«, so El Bulbeisi, war somit »nicht Zeugin für das widerfahrene Unrecht, sondern eine zu überzeugende, dass einem nämlich Unrecht widerfahren« war.

 

Der Rechtsstatus der jahrelangen Duldung und die damit verbundene Staatenlosigkeit führten zu gesellschaftlicher Isolation

 

Die systematische Gewalt Israels gegenüber den Palästinensern wurde in Deutschland und der Schweiz, außer in linken Kreisen, weitgehend tabuisiert. Dieses Tabu kam einer sozialen Norm gleich und äußerte sich in Sprechverboten. Das Leiden der Palästinenser wurde diskursiv ausgelöscht, das Palästinensisch-Sein per se zu etwas Gefährlichem, ja sozial Verworfenem stilisiert. Das ständige Anreden gegen Vorurteile wirkte sich zermürbend aus. Die Männer der ersten Generation verfielen ins Schweigen und machten sich gleichsam unsichtbar.

 

Innerlich fühlten sich die Interviewten jedoch dem Palästinenser-Sein verpflichtet. El Bulbeisi interpretiert diese Haltung in Hinwendung auf ein klassisches Konzept der palästinensischen Geschichte als »inneren sumud«, also als »Standhaftigkeit«. Der innere Zwiespalt zwischen »sumud« und wahrgenommener gesellschaftlicher Unsichtbarkeit habe die Herausbildung einer eigenen Subjektivität verhindert und zu einer traumatischen Existenz geführt, »zu einem Leben in Verneinung und Abwesenheit (…), der Schuldzuweisung nach innen, und der Selbstverneinung nach außen«.

 

Der Rechtsstatus der jahrelangen Duldung und die damit verbundene Staatenlosigkeit führten zu gesellschaftlicher Isolation. Misstrauen gegenüber der Umwelt und die Kontrolle durch die staatlichen Institutionen in den Gastländern lösten Angst aus. Nur verschämt lebte man die eigene Kultur. Beispielsweise sprachen die Väter der ersten Generation mit ihren Kindern nicht arabisch; gegenüber Deutschen gaben sie sich als Libanesen oder Jordanier aus. Die Abspaltung der leidvollen Lebens-, aber auch der Kollektivgeschichte zeigte sich in einem melancholischen Lebensgefühl.

 

So schreibt El Bulbeisi im Oktober 2014 folgende Zeilen in ihr Forschungstagebuch: Der Interviewpartner »K. G. serviert mir Kaffee, die Freunde kommen, wir gehen zu der Veranstaltung. Wir suchen sie, finden sie nicht. Er wird sehr müde und mag nicht mehr laufen, will zurück, wir kehren um. Er scheint die Umkehr als Kapitulation zu begreifen, denn er fragt mich plötzlich ungeduldig, wozu das, was ich täte, eigentlich gut sei, was ich mir eigentlich verspräche an wissenschaftlicher Erkenntnis. Verlegen erkläre ich ihm die Arbeit, dass mich die Erfahrung interessiert, in einer Gesellschaft zu leben, die die eigene Geschichte nicht anerkennt. Als ich aufschaue, um zu fragen, ob er verstehe, sehe ich etwas wie eine Träne in seinem Auge. Sein Freund sagt schnell, ja er versteht schon. Da wird mir klar, dass es wirklich eine Träne ist.«

 

El Bulbeisi plädiert dafür, das palästinensische Leid als zugehörig zu einer übernationalen Erfahrungsgemeinschaft zu begreifen

 

Die Gespräche mit Vertretern der zweiten Generation zeigen, dass die Kinder wenig über das Leben ihrer Väter wissen. »Im Exil fehlten die Väter durch ihre emotionale Abwesenheit psychisch, auch wenn sie physisch anwesend waren«. So fand eine Entfremdung zwischen den Generationen statt, zumal die Vätergeneration über ihre Leidensgeschichte schwieg. Manche aus der Generation der Kinder lehnen das »Palästinenser-Sein« ab, weil es im gesellschaftlichen Umfeld ohnehin negativ besetzt sei. Andere ersetzten die »Lücke des Nichterzählens» durch das kollektive Narrativ und näherten sich so der eigenen Geschichte an.

 

Am interessantesten sind die Gespräche, die El Bulbeisi mit den Töchtern der Väter jener ersten Generation geführt hat. Hier stellt die Autorin eine Neigung fest, die Väter retten zu wollen. Damit verbunden ist ein Gefühl der Verpflichtung, die väterliche Erinnerung zu bewahren. »Warum wolltest du die Erinnerungen deines Vaters aufschreiben«, fragt El Bulbeisi ihre Gesprächspartnerin K. H.: »Damit sie natürlich nicht vergessen gehen, weil es ein Erbe ist, das wir behalten müssen. Und ich denke, es geht vom Kleinen, also von meinem Vater zu mir, es geht um die Familiengeschichte, um die Volksgeschichte der Palästinenser, und es geht generell um eine Geschichte, die geschehen ist, und von der ich denke, dass sie für die Menschheit – sicher nicht für alle, aber für die, die sich interessieren – sicher wertvoll ist.«

 

El Bulbeisi hat festgestellt, dass sich viele aus der zweiten Generation vom Schweigen der Väter losgelöst haben. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Gaza-Offensive von 2014 führte zu einer Bewusstseinswerdung der zweiten Generation. Im Gegensatz zur Generation der Väter geben sich deren Kinder nun in der Öffentlichkeit als Palästinenser zu erkennen. Dies tun sie auch bei den aktuellen propalästinensischen Kundgebungen, obwohl sie dabei pauschal unter Extremismus- und Antisemitismusverdacht gestellt werden.

 

Im Schlusswort plädiert El Bulbeisi dafür, das palästinensische Leid weniger nationalistisch, sondern vielmehr humanistisch zu sehen und als zugehörig zu einer übernationalen Erfahrungsgemeinschaft zu begreifen. Damit einhergehend müsste auch über die europäische Mitverantwortung für die palästinensische Leidenserfahrungen nachgedacht werden. Letztlich geht Sarah El Bulbeisi mit der deutschen Journalistin Charlotte Wiedemann einig, die in ihrem Buch »Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis« eine Abkehr von der Hierarchisierung von Leiderfahrungen angemahnt hat. Vielmehr solle man inklusiv und solidarisch denken und die Leiderfahrung der einen nicht zur Degradierung der Leiderfahrung der anderen missbrauchen.


Peter Haenger ist freier Historiker mit Forschungsschwerpunkten in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Von: 
Peter Haenger

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