Lesezeit: 11 Minuten
Saudi-Arabien 1979 - Ein Essay

In einem Königreich, vor meiner Zeit

Essay
Saudi-Arabien 1979 - Ein Essay
Ein Plakat in der Hafenstadt Dschidda zeigt Mitglieder des saudischen Königshauses, darunter sind Pläne für den Wiederaufbau der historischen Altstadt zu sehen. Foto: Florian Guckelsberger

Saudis, die in den 1980er und 1990er Jahren aufwuchsen, brauchen nur ihre Eltern und Großeltern zu fragen, wie ein anderes Saudi-Arabien aussehen kann. Vierzig Jahre nach 1979 kann unsere Generation endlich den Kurs des Landes mitbestimmen.

Ich repräsentiere eine Generation, die in den Jahren nach 1979 geboren wurde – dem Schicksalsjahr, das den Nahen Osten im Allgemeinen und Saudi-Arabien im Besonderen entscheidend veränderte. Vorausgegangen waren die Niederlagen der arabischen Staaten in den Kriegen gegen Israel. Der jähe Zusammenbruch des Nasserismus öffnete dem religiösen Extremismus Tür und Tor. Der Nahe Osten am Ende der 1970er Jahre war eine Region, die mit den Nerven am Ende war.

 

Unsere Generation der in den 1980er Jahren Geborenen verpasste aber auch andere Facetten der Zeit vor 1979. Denn in den Jahrzehnten zuvor waren Literatur, Musik, Film und Theater aufgeblüht. In meiner Jugend waren die Stars dann Kleriker, die bestimmten, was in den Medien erlaubt und nicht erlaubt war. Ihr Wort verlangte Respekt, schließlich sprachen sie ja im Namen der Religion.

 

»Wir gegen den Rest der Welt« und »Wer nicht wie wir denkt, liegt falsch« – diese Mentalität war mir fremd und so war ich eine Außenstehende in diesem gesellschaftlichen Klima. Ich wurde in den Vereinigten Staaten geboren und meine Eltern gehörten der Welle junger Saudis an, die es zum Studium ins Ausland gezogen hatte.

 

Natürlich nahmen sie Teile der westlichen Kultur auf, vor allem aber entwickelten sie eine viel größere Toleranz gegenüber anderen Zivilisationen und lernten, Diversität als Teil der menschlichen Natur zu verstehen.

 

Es war schwer, in ein Saudi-Arabien zurückzukehren, in dem das sogenannte islamische Wiedererwachen in vollem Gange war. Vieles war zusammengekommen: Die Revolution in Iran, vor allem aber die Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch die Extremisten um Juhayman Al-Otaibi – danach war nichts mehr wie zuvor. Dazu kam in den 1980er Jahren der »Dschihad« in Afghanistan, der Figuren wie Osama Bin Laden und Organisationen wie Al-Qaida hervorbrachte.

 

Und vergessen wir nicht die Muslimbrüder, die zu diesem Zeitpunkt bereits das saudische Bildungssystem unterwandert hatten. Viele ihrer Mitglieder waren in den 1960er und 1970er Jahren als politische Flüchtlinge nach Saudi-Arabien umgesiedelt, wo sie sich prompt als Experten im Erziehungswesen empfahlen und etwa auf Geschlechtertrennung im Unterricht drängten.

 

Meine Generation wurde in Dauerschleife mit religiöser Predigt überzogen. Statt Musik-Tapes zirkulierten Kassetten mit religiösen Inhalten. Die ältere Generation muss gespürt haben, wie sich die Gesellschaft damals massiv veränderte. Die Jüngeren hingegen wurden in eine zusehends nach innen gewandte Gesellschaft hineingeboren, die ihr Heil in den Lehren des Islam suchte.

 

Meine Großeltern hatten noch eine Zeit erlebt, die viele dieser Zwänge nicht kannte. Damals, in den 1960er und 1970er Jahren im Hedschas an der Westküste. Die Heimatregion der Heiligen Stätten war schon damals das kosmopolitische Zentrum Saudi-Arabiens. Kein Wunder, schließlich strömten Pilger aus aller Herren Länder hierhin. Sie stiegen nicht in Hotels ab, sondern quartierten sich bei Gastfamilien in Mekka und Medina ein. Das gab den Gastgebern die Möglichkeit, Menschen aus verschiedenen Kulturen kennenzulernen.

 

Meine Großeltern hatten noch eine Zeit erlebt, die viele dieser Zwänge so nicht kannte. Damals, in den 1960er und 1970er Jahren im Hedschas an der Westküste

 

Mein Großvater arbeitete als Handelsvertreter für Textilwaren und war regelmäßig auf Reisen, etwa in Syrien, Jordanien und der Türkei. Meine Großmutter hat viele seiner Geschäftsabschlüsse eingefädelt und sich um die Zollfreigabe gekümmert. Niemand hat daran Anstoß genommen, mit ihr zu verhandeln.

 

Auch auf Veranstaltungen ging es viel entspannter zu als später. Auf Hochzeiten etwa sangen, tanzten und feierten Männer und Frauen gemeinsam. Das ausgedehnte Picknick im Park war ebenso ein Event für die ganze Familie wie der Strandtag am Roten Meer. Nicht alle Frauen trugen Schleier und oft war die Verschleierung eher Ausdruck des Respekts gegenüber den Älteren.

 

Familien begegneten einander im öffentlichen Raum, so war es einfacher, sich kennenzulernen. Sich zu verlieben, aber nicht sofort heiraten zu müssen. Noch mehr Möglichkeiten zur Begegnung aber boten die Städte, insbesondere die Kinos in Dschidda. Gerne wurde auch zum Filmabend in die eigenen vier Wände eingeladen. So entstand ein Raum, der zugleich frei und geschützt war. Frei von Fremdbestimmung und Konformitätsdruck gegenüber den religiösen Normen anderer.

 

Meine Mutter hat mir beschrieben, wie sie die Veränderungen in Staat und Gesellschaft damals wahrnahmen, kurz bevor meine Eltern 1979 zum Studium in die USA aufbrachen. In ihrer Erinnerung drängten sich wie aus dem Nichts bärtige Männer in den Vordergrund und forderten von der Gesellschaft einen grundlegenden Wertewandel. Und sie waren gewillt, diejenigen zu bestrafen, die ihnen nicht gehorchen wollten.

 

Die forcierte Geschlechtertrennung war die sichtbarste Folge des gesamtgesellschaftlichen Wandels. Schließlich machten die Sittenwächter auch die Begegnungsstätten dicht, allen voran die Kinos.

 

Zuweilen wurden die Mädchen ermahnt, in Anwesenheit von Männern ihre Stimme nicht zu erheben, um so ihre Sittsamkeit unter Beweis zu stellen

 

Mitte der Achtziger kehrten meine Eltern nach Saudi-Arabien zurück. Für meine Mutter gestaltete sich die Jobsuche schwierig. Der Arbeitsmarkt bot Frauen wenn überhaupt dann meist nur Stellen als Lehrerinnen und Ärztinnen. Und selbst Familien, die vorher nicht besonders fromm gewesen waren, zwangen ihren Töchtern den Schleier auf.

 

Zuweilen wurden die Mädchen auch ermahnt, in Anwesenheit von Männern ihre Stimme nicht zu erheben, um so ihre Sittsamkeit unter Beweis zu stellen. Immer mehr Menschen gaben sich überzeugt, dass nur die Religion Heil in dieser Welt verspricht. Und wer dem nicht entsprach, galt als Feind. Als Feind des Islam.

 

Auch mir ist derartige Bevormundung bekannt. Auf einer internationalen Konferenz, bei der es auch um die Stärkung der Rechte von Frauen ging, fuhren einige meiner Hochschulkollegen aus der Haut: Mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten ein! Wir brauchen eure Ratschläge nicht. Und überhaupt, warum sollten Frauen denn selber Auto fahren, wenn sie vom Fahrer überallhin chauffiert werden könnten? Warum ich auf individuelle Rechte verzichten sollte, konnte ich aber noch nie nachvollziehen.

 

Diese Entrechtung setzt sich bei der Partnerwahl fort und fällt mit einer neuen Oberflächlichkeit zusammen. Dabei kommt den Müttern eine wichtige Rolle zu. Sie halten auf Hochzeiten Ausschau nach Kandidatinnen mit bestimmten äußeren Merkmalen: groß gewachsen, möglichst helle Haut, große Augen, langes, dunkles Haar.

 

Als ich circa 20 Jahre alt war, kamen bei Hochzeiten, zu denen ich eingeladen war, öfter Schwiegermütter in spe auf mich zu und fragten, aus welcher Familie ich käme und wo meine Mutter bei der Hochzeitsfeier säße. Es kam mir so lächerlich vor. Selbst im Supermarkt und im Krankenhaus wurde ich auf diese Weise inspiziert – ausschließlich auf Grundlage meines Äußeren. Anscheinend gaben meine Gesichtszüge ihnen Aufschluss über meine »Fügsamkeit« als potenzielle Ehefrau.

 

Tatsächlich haben sich einige meiner Freundinnen auf diese Art und Weise verkuppeln lassen. Ihr Argument: Das sei immer noch besser, als sich auf Männer einzulassen, die es nicht ernst meinen und die Verpflichtung der Ehe scheuen. Aus diesem Grund empfinde ich die schrittweise Lockerung der Geschlechterschranken, etwa am Arbeitsplatz, in den vergangenen Jahren als immensen Fortschritt. Denn immer mehr Saudis wollen sich die Partnerwahl nicht mehr vorschreiben lassen und selber bestimmen, wen sie heiraten.

 

Wir kommen langsam raus aus dieser Blase, in der wir die vergangenen Jahrzehnte gelebt haben. In der nur diejenigen, die den Vorschriften des Islam strikt folgen, dem Höllenfeuer entgehen. In der Praxis hing das natürlich von der individuellen Auslegung ab, aber es gab genügend Extremisten.

 

Etwa die, denen die Gesichtsverschleierung nicht weit genug ging und mir in der Schule sagten, ich solle doch auch meine Hände bedecken. Als ich 16 Jahre alt war, habe ich mir einmal in unserem Familienauto den Schleier übergezogen – sehr zum Unmut meiner Mutter.

 

Ein paar Jahre zuvor, ich war gerade zehn, bläuten uns unsere Religionslehrer ein, dass Schlaf wie ein »kleiner Tod« sei. Dass wir vor dem Zubettgehen bestimmte Gebete aufsagen sollten, weil unser Geist den Körper bis zum Aufwachen verlassen würde. Nun war ich ein aufmüpfiges Kind und wollte nicht früh schlafen gehen.

 

Als ich einmal meine Seele dabei beobachten wollte, wie sie meinen Körper verlässt, bekam ich Herzrasen und kriegte keine Luft. Jahrelang hatte ich nach derlei Einlassungen religiöser Autoritäten in der Schule mit Schlaflosigkeit und Panikattacken zu kämpfen.

 

Die Lage spitzte sich mit dem 11. September 2001 zu und sensibilisierte die Menschen für den Blick von außen. Der Name Osama Bin Laden war in aller Munde, 15 der 19 Attentäter kamen aus Saudi-Arabien. Die internationalen Medien gingen hart mit meiner Heimat ins Gericht. Den hiesigen Medien hingegen fiel es schwer, darauf zu reagieren, weil sie traditionell auf die eigene Gesellschaft und nicht auf ein westliches Publikum ausgerichtet waren.

 

Damals kursierten viele Vorurteile über das Königreich, dabei standen wir selber im Fadenkreuz von Extremisten: Erst Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), später der sogenannte Islamische Staat. Eine Terrorwelle überzog das Land und forderte viele Opfer, darunter zahlreiche Zivilisten.

 

Ob nun der schlechte Ruf außerhalb der Landesgrenzen oder die Narrenfreiheit der Prediger der Auslöser war, früher oder später setzte bei vielen Saudis eine Erkenntnis ein

 

2003 war ein weiterer Wendepunkt: Massive Sicherheitsvorkehrungen sollten den Extremisten Einhalt gebieten, Rehabilitierungszentren zur Deradikalisierung beitragen. Auf einmal sorgten sich Eltern darum, ihre Söhne in die Moschee zu schicken, aus Angst, dass diese dort für AQAP-Trainingslager rekrutiert würden. Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, als die Mutter einer Freundin ihren Söhnen untersagte, in die Moschee zu gehen. Nicht einmal zum Freitagsgebet wollte sie die Jungs lassen.

 

Ein Freund erzählte mir von einem Ferienlager, zu dem er sich eines Sommers aufmachen wollte, bevor er Wind davon bekam, dass die Veranstalter in Verbindung zu Extremisten stehen würden. Auch die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung ging spürbar zurück und traf die unabhängigen etablierten karitativen Organisationen, denn der Ruf des gesamten Wohlfahrtssektors litt unter schwarzen Schafen, die Spendengelder zur Terrorfinanzierung missbrauchten.

 

Ob nun aufgrund des schlechten Rufs im Rest der Welt oder durch die Narrenfreiheit der Prediger im Inland: Damals begriffen viele Saudis, dass die extremistische Auslegung der Religion das Zeug dazu hat, Menschen mit Hass zu füllen. Ein Hass, der sich sowohl gegen die eigene Gesellschaft als auch den Staat richtet.

 

Obwohl die Extremisten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachten, wurde endlich reagiert: Die Freitagspredigten wurden für das ganze Land standardisiert und mit Vorgaben versehen, die die Verbreitung von Hass und Intoleranz untersagten.

 

Auch in den Medien deutete sich ein Wandel an: Nach und nach erweiterte sich das Spektrum und bot immer häufiger auch moderaten Journalisten ein Forum, die etwa soziale Gerechtigkeit auf die Agenda setzten. Der Wert von Toleranz, das Geschehen außerhalb der Landesgrenzen und auch das Leben jenseits des eigenen religiösen Rahmens genossen einen höheren Stellenwert. An der Speerspitze dieses Wandels standen vor allem Studenten, die dank des ausgebauten Stipendien-Programms unter König Abdullah Auslandserfahrung sammeln konnten.

 

Und dann spielte natürlich auch die rasante Verbreitung von Internet und sozialen Medien eine entscheidende Rolle. Man muss sich nur einmal die Kommentare von Usern aus allen Ecken Saudi-Arabiens anschauen, um zu erkennen, wie massiv sich ihre Wahrnehmung der Welt verändert hat. Da gibt es auf einmal sogar Raum für Kritik – mitunter gar Zynismus – gegenüber den hanebüchenen Erklärungsmustern vieler Kleriker. Früher war das undenkbar, schließlich galt das Wort der Gelehrten als sakrosankt.

 

»Was in den vergangenen dreißig Jahren geschehen ist, das ist nicht Saudi-Arabien«, fasste Kronprinz Muhammad Bin Salman jüngst zusammen, wie unsere Generation tickt. Ich denke, die Chancen stehen gut, dass wir einiges von dem zurückerlangen, was wir 1979 aufgegeben haben. Ich hoffe, dass die »Vision 2030« Saudi-Arabien modernisiert, transformiert und einen Bauplan liefert. Für ein neues Saudi-Arabien, das auf seine Jugend setzt, das die Abschottung der vergangenen Jahrzehnte hinter sich lässt.

 

Und die Zeichen stehen bereits auf Veränderung: Mehr als 30 Mitglieder des Schura-Rates sind inzwischen Frauen. Unvergesslich war dieses Jahr der Moment, als ich meinen Führerschein in den Händen halten durfte. Kinos und Konzerte kehren in das öffentliche Leben des Königreichs zurück.

 

Lehrer, Banker, Arzt – das waren traditionell die prestigeträchtigsten Jobs. Heute erschließen sich junge Saudis neue Berufsfelder: Sie arbeiten in Einkaufszentren, Cafés, Restaurants, Apotheken – keine Selbstverständlichkeit, denn viele dieser Tätigkeiten waren lange mit einem sozialen Stigma versehen.

 

Natürlich gibt es Bedenken, dass das konservative Spektrum der Gesellschaft diese Veränderungen nicht akzeptieren würde. Dabei ist der Wandel längst Realität, nicht zuletzt, da 60 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind. Unsere Generation ist in der Mehrheit.

 

Und ich bin stolz, ein Teil von ihr zu sein.


Nidaa Abu-Aki, geboren 1983, ist Journalistin, Schriftstellerin. Sie wuchs in Saudi-Arabien und den USA auf und studierte später am »Institute for Defence and Strategic Studies« (IDSS) in Singapur mit Fokus Nahostpolitik und Sicherheitspolitik. Sie hat bislang vier Romane verfasst und schreibt für die in London ansässige Zeitung Asharq Al-Awsat zu den Themen Radikalisierung sowie Literatur.

Von: 
Nidaa Abu-Ali

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.