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EU-Beziehungen zu Saudi-Arabien

Wie umgehen mit Riad?

Kommentar
Madawi Al-Rasheed bei einer Panel-Diskussion von Chatham House.
Foto: Wikimedia Commons

Die strategischen Kurswechsel in Saudi-Arabien sollte Europa als Chance begreifen und zu seinem Vorteil ausgestalten – nicht nur in der Geopolitik, sondern auch im Verhältnis zu den eigenen muslimischen Gemeinschaften.

Reiche Ölvorkommen, eine strategisch gute Lage und die Kraft des Islam haben Saudi-Arabien zur unangefochtenen Nummer Eins in der arabischen Welt gemacht. Während die Bedeutung der ersten beiden Faktoren für ein Land wie Saudi-Arabien auf der Hand liegt, braucht es für die Rolle des Islam eine nähere Erläuterung.

 

Seit seiner Gründung im Jahr 1932 strebt man im Königreich eine regionale und internationale Führungsrolle an. Und genau dieser Anspruch führt aktuell dazu, dass die Herrscher des Landes, insbesondere Kronprinz Muhammed Bin Salman (MBS), ihre Haltung gegenüber dem Islam neu definieren.

 

Bereits während des Kalten Krieges spielte Saudi-Arabien eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung der Muslime im Kampf gegen die Sowjetunion. Mit seiner puritanischen und wahhabitischen Auslegung des Islam trat Saudi-Arabien als Führer der sunnitischen Muslime auf. Diese Politik erwies sich jedoch als kurzsichtig, denn sie führte weltweit zu einem Erstarken dschihadistischer Bewegungen und zu religiöser Indoktrination und Radikalisierung. In Europa und anderen Teilen der Welt kam es zu sozialen Spannungen und Terroranschlägen, die zum Teil auf den Import eines ultrakonservativen Islam aus Saudi-Arabien zurückzuführen sind.

 

Das Königreich schwankt zwischen Neutralität und einer vagen Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine

 

2017 verkündete MBS einen Paradigmenwechsel hin zu einem gemäßigteren Islam in Saudi-Arabien. Er zügelte die Macht der Religionspolizei und gewährte Frauen mehr Rechte. Diese vorsichtige Liberalisierung war eine Reaktion auf die Wünsche und Ängste im Land, insbesondere nach den islamistischen Terrorangriffen im Jahr 2008. Aber sie sind auch darin begründet, dass Riad ausländische Unternehmen anziehen will – Akteure, die von radikalem Islam abgeschreckt werden.

 

MBS war außerdem der Meinung, dass ein gemäßigter Islam die Regierungen in Europa und den Vereinigten Staaten nach den Anschlägen des 11. September 2001 besänftigen würde. Doch im Gegenzug erwartete er, dass der Westen – insbesondere die Vereinigten Staaten – bedingungslos Waffen für das saudi-arabische Militär liefern würden.

 

Dieser Paradigmenwechsel Saudi-Arabiens hin zu einem gemäßigten Islam hat Folgen für Europa, auch für Deutschland mit seiner großen muslimischen Gemeinschaft. Die Beendigung der Förderung und Unterstützung muslimischer Einrichtungen wird es erleichtern, muslimische Gemeinschaften in Europa zu integrieren und könnte dazu führen, dass sich ein europäischer Islam konsolidiert.

 

Die Vision eines gemäßigten Islams fügt sich in die Entstehung einer multipolaren Welt ein, in der die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten sich neuen Herausforderungen gegenübersehen, die von Ländern wie China und Russland ausgehen. Während Saudi-Arabien auf klare Vereinbarungen für eine Sicherheitsallianz mit den USA und europäischen Ländern wartet, schwankt das Königreich zwischen Neutralität und einer vagen Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine. Diese Haltung wiederum sorgt für Verwirrung unter den Europäern, die erwarten, dass Saudi-Arabien sich klar auf ihre Seite stellt.

 

Deutschland tut gut daran, sich nicht von Saudi-Arabien gegen andere europäische Länder ausspielen zu lassen

 

Nach dem Besuch von Präsident Joe Biden in Riad im Jahr 2022 ignorierte MBS die Bitte der USA, die Ölproduktion zu steigern. Es wäre ein Zeichen des guten Willens gewesen, die Produktion während der Energiekrise in Europa hochzufahren, um damit die Ölpreise niedrig zu halten. Doch die Priorität des Kronprinzen liegt woanders. Er will sich bei seinen Landsleuten beliebt machen, indem er dem Westen trotzt: Er betont die Unabhängigkeit der saudischen Ölpolitik, nimmt eine uneindeutige Position zum russischen Krieg in der Ukraine ein und tritt der BRICS+-Gruppe bei.

 

Die jüngste Annäherung Deutschlands und Frankreichs an Saudi-Arabien und MBS nach der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi durch ein Spezialkommando aus Riad im Jahr 2018 zeigt, dass in Europa die Realpolitik dominiert. Auf kurze Sicht hat Europa vielleicht keine andere Wahl. Jedoch ist sich Brüssel der langfristigen Kosten einer solchen Besänftigungspolitik bewusst, insbesondere wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt. Die Europäische Union hat aus erster Hand erlebt, welche Konsequenzen die Unterstützung von Diktatoren in der arabischen Welt – wie beispielsweise Hosni Mubarak in Ägypten oder Zine Al-Abidine Ben Ali in Tunesien – während der Aufstände im Jahr 2011 hatte.

 

Es ist gut für Deutschland, dass sich Saudi-Arabien stärker als bisher aus den religiösen Angelegenheiten der Muslime im Ausland heraushält. Denn es ist an der Zeit, die Religion von ausländischer Einflussnahme zu befreien und dem Islam in Europa zu erlauben, sich nach den Bedürfnissen der muslimischen Gemeinschaften in diesen Ländern zu entwickeln, anstatt der Agenda Riads zu folgen. Die europäischen Regierungen – auch die deutsche – sollten muslimische Einrichtungen wie Schulen, Moscheen und Wohlfahrtsverbände kontrollieren und wie andere religiöse Institutionen behandeln. Das bedeutet auch, sie mit ausreichenden finanziellen Mitteln auszustatten. Dies hätte zur Folge, dass sich muslimische religiöse und kulturelle Zentren nicht aus Mangel an finanzieller Unterstützung an das Ausland wenden. Vielmehr werden diese Einrichtungen gegenüber ihren lokalen Gemeinschaften rechenschaftspflichtig, transparent und repräsentativ für deren Bedürfnisse.

 

Auch bei Waffenlieferungen an Saudi-Arabien sollte Deutschland Vorsicht walten lassen. Die Intervention Riads im Jemen seit 2015 zeigt, dass Waffen aus dem Westen für Militäreinsätze genutzt werden, die die Region destabilisieren und die Herausforderungen, vor denen die arabische Welt steht, noch komplizierter machen. Deutschland tut gut daran, sich nicht von Saudi-Arabien gegen andere europäische Länder, insbesondere Frankreich und Großbritannien, ausspielen zu lassen, wenn es um Waffenlieferungen geht. Was wirklich den kurz- und langfristigen Interessen Deutschlands und Saudi-Arabiens dient, ist der Transfer von Investitionen, Technologie und Wissen.


Die englische Version des vorliegenden Textes ist Teil der außenpolitischen Jahrespublikation der Körber Stiftung »The Berlin Pulse« einschließlich einer repräsentativen Umfrage.

Von: 
Madawi Al-Rasheed

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