Politikwissenschaftler Alexander Iskandaryan über Armeniens strategisches Dilemma und Russlands Rolle im Kaukasus nach dem Angriff auf die Ukraine
zenith: Welche Auswirkungen hat der Ukraine-Krieg auf Armenien?
Alexander Iskandaryan: Ökonomisch spüren wir die Folgen noch nicht so stark. Dafür suchen immer mehr Migranten aus Russland aus politischen Gründen Zuflucht. Es sind Tausende. Für ein kleines Land wie Armenien ist das viel. Sie kommen oft aus Sankt-Petersburg und Moskau. Geflüchtete will ich sie nicht nennen, denn sie fliehen ja nicht vor dem Krieg, sondern vor der politischen Situation. Russen, die wegwollen, stehen gar nicht so viele Optionen zur Verfügung: Die Staaten in Zentralasien sowie Aserbaidschan sind ja ebenfalls recht autokratisch.
Kommen auch Ukrainer nach Armenien?
Ja, aber deutlich weniger. Sie können aufgrund des Krieges gar nicht nach Armenien ausfliegen – die Flughäfen sind ja geschlossen. Es reisen vor allem ethnische Armenier aus der Ukraine hierher aus.
Armenien ist Mitglied der »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit«, einem von Moskau angeführten Militärbündnis.
Schlechte Beziehungen zwischen dem Westen und Russland bedeuten für uns nie etwas Gutes. Für uns heißt normalerweise pro-russisch nicht gleich anti-westlich. Insofern stehen wir vor einem politischen Dilemma. Natürlich ist die Regierung jetzt vorsichtig. Ich denke aber nicht, dass Moskau uns um militärischen Beistand bittet. Russland hat gerade andere Sorgen.
Wie sieht es in der zwischen Armeniern und Aserbaidschanern umstrittenen Region Bergkarabach aus?
Eine heikle Frage. Das Überleben der Armenier in Bergkarabach wird von russischen Friedenstruppen gesichert – aber Russland ist im Krieg. Da liegt es auf der Hand, dass Aserbaidschan seinerseits versucht, die roten Linien auszutesten. Die Situation dort kann sich schnell verändern.
Wie reagiert die armenische Zivilgesellschaft auf den Krieg?
Es fanden mehrere pro-ukrainische, aber auch mindestens eine pro-russische Demonstration statt. Die Menschen hier haben nichts gegen die Russen, die gekommen sind. Einige von denen wollen nicht in den Krieg ziehen. Andere haben sich an den Protesten beteiligt. Jeder versteht, dass diese Russen hier sind, weil sie nicht viele andere Möglichkeiten haben.
Der armenische Politikwissenschaftler Alexander Iskandaryan ist Gründungsdirektor des »Caucasus Institute«. Er lebt in Jerewan.