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Israel 1979 - Ein Essay

Gefährliche Liebschaft

Essay
Israel 1979 - Ein Essay

Die Psychoanalyse sagt: Wir Israelis rechnen immer mit dem Schlimmsten. Aber wer mit Ägypten Frieden schließen kann, dem müsste es auch mit Iran gelingen. Die Hoffnung haben wir jedenfalls noch nicht ganz aufgegeben.

Das 40-jährige Jubiläum des Camp-David-Abkommens nahm die israelische Öffentlichkeit lediglich zur Kenntnis – mehr nicht. Natürlich, der 17. September fiel in diesem Jahr in die Ferienzeit rund um das Versöhnungsfest Jom Kippur. Und außerdem haben wir ja bereits 2017 einen Jahrestag begangen, der die Ereignisse von vor vier Jahrzehnten ins Gedächtnis rief und dem wir viel Aufmerksamkeit schenkten: dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar Al-Sadat in Jerusalem und seine historische Rede in der Knesset.

 

Haben wir Israelis also gerade andere Dinge im Kopf? Sind wir jubiläumsmüde?

 

Vielleicht gibt es einen anderen Grund, warum der Jahrestag für so wenig Wirbel sorgt: Das Abkommen von Camp David ist Teil unser aller Leben geworden. Teil der natürlichen Ordnung des Nahen Ostens. Damals hingegen bedeutete der Durchbruch bei den Verhandlungen absolutes Neuland: Ein arabisches Land, das Frieden mit dem jüdischen Staat schließt.

 

Vierzig Jahre später ist das nicht mehr außergewöhnlich, Ägypten steht ja nicht mehr alleine da. Auch der 1994 geschlossene Friedensvertrag mit Jordanien und unsere Beziehung zur Palästinensischen Autonomiebehörde – so schwierig sie sich auch gestaltet – sind integraler Bestandteil unseres Alltags.

 

Vierzig Jahre nach dem historischen Handschlag, der den Frieden besiegelte, ist Israel so verankert in der Region wie nie zuvor. In einem Interview mit The Atlantic im Frühjahr 2018 hatte Saudi-Arabiens Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) »kein schlechtes Wort« übrig für Israel – ein deutliches Zeichen für eine Entspannung der Beziehungen.

 

Selbst der Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate in Washington saß zum Staatsbankett jüngst am selben Tisch wie sein israelischer Amtskollege – in aller Öffentlichkeit. Natürlich, unter der Bevölkerung in den arabischen Staaten ist Israel noch immer unfassbar unbeliebt. Doch zumindest auf Regierungsebene ist das Kontakttabu gebrochen.

 

Und auch die Trennlinien zwischen den Menschen werden durchlässiger. 2005 hatte ich meinen Urlaub auf der Sinai-Halbinsel geplant. Acht Monate zuvor kostete eine Anschlagsserie auf das Hilton im Badeort Taba Dutzende Menschenleben. Würden sich israelische Touristen angesichts des Terrors, der ja auch auf die Besucher aus unserem Land zielte, noch auf den Sinai wagen? Als ich am Bahnhof von Tel Aviv in den Reisebus stieg, drehten dort einige Kamerateams. Das Thema Tourismus auf dem Sinai hatte einen Nerv getroffen.

 

Als der Bus die Grenze erreichte, dauerte es vier Stunden, bis ich auf der anderen Seite angelangte – denn Tausende Israelis strömten trotz der Sicherheitsbedenken ebenfalls dorthin. Hier an der Ostküste der Halbinsel fanden wir eine kleine Ecke in der arabischen Welt, in der Israelis reisen und entspannen konnten (und ja, nicht nur Sonne und Meer, auch das Marihuana lockte uns an). Eine Nische, in der Araber uns Israelis als Gäste willkommen hießen.

 

Frieden war hier mehr als nur Verhandlungsmasse zwischen Generälen und Diplomaten. Für den Großteil der vergangenen vierzig Jahre wurde auch diese Nische für uns zur neuen Normalität.

 

Für gewöhnlich diktiert das israelische Selbstverständnis, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Der Glaube, dass Frieden reine Routine ist, kann ja leicht in Nachlässigkeit abgleiten

 

Dasselbe lässt sich über die diplomatische Präsenz in unserem Land sagen. In einem unscheinbaren Gebäude in der Basel-Straße in Tel Aviv gibt von außen nur der Flaggenmast preis, wer hier residiert. Die ägyptische Botschaft fügt sich architektonisch in die Wohnblocks der Nachbarschaft ein.

 

Und so wich das Hochgefühl, das den Durchbruch von 1979 begleitete, einem Gefühl von Routine – der schlichte Pragmatismus der Botschaftsgebäude ist der physische Ausdruck dieses Zustands. Der Frieden mit Ägypten ist Normalität. Selbst die im Fahrwasser des Friedensschlusses aufgetretenen Regionalkonflikte nehmen wir heute als gegeben.

 

Ein anderes Schlüsselereignis jedoch begleitet uns ebenfalls seit vierzig Jahren, gab uns aber nie das Gefühl berechenbarer Routine: Als wir Israelis im Februar 1979 mitansehen mussten, wie die Regierung in Teheran von Freund zu Feind wurde, konnten wir kaum erahnen, welche Folgen diese Revolution für unser Land haben würde. Heute ist klar, dass das Worst-Case-Szenario eingetreten ist: Das iranische Regime hat sich als unerbittlicher Feind Israels etabliert.

 

Die Feindseligkeit der Islamischen Republik gegenüber Israel hat in den vierzig Jahren seit der Islamischen Revolution keinen Deut nachgelassen. In den vergangenen Jahren hat Teheran seine Bemühungen, das eigene Revolutionsmodell zu exportieren, sogar ausgeweitet. Am erfolgreichsten – und aus israelischer Perspektive am unheilvollsten – im Libanon, aber auch im Jemen, Syrien und im Irak.

 

Ebenso energisch trieb Iran sein Atomprogramm voran, was ihm ein Druckmittel gab, mit dessen Hilfe sich das Regime das Abkommen von 2015 erhandeln konnte. Es ist kein Geheimnis, dass der Deal mit Teheran die meisten Israelis, gelinde gesagt, sprachlos zurückließ.

 

Ein Land, das im Januar 1979 noch als idealer Kandidat erschien, um Beziehungen zur islamischen Welt aufzubauen, wurde plötzlich unser größter Feind – und bleibt es bis heute. Und doch empfindet Israel diese Konstellation nicht als Teil der Routine. Auch vierzig Jahre nach der Islamischen Revolution wollen wir Israelis einen feindseligen Iran nicht als permanenten Teil des Nahen Ostens akzeptieren.

 

Das liegt auch daran, dass Iran für Israel eine ähnliche Bedeutung hat wie Kuba für die Vereinigten Staaten: ein Sehnsuchtsort, voller nostalgischer Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit, der impertinente Revoluzzer jäh den Garaus machten. Bis zu dem Tag, an dem alles wieder zur Normalität zurückkehrt. So wie viele Amerikaner davon träumen, wieder im Tropicana Club in Havanna zu tanzen.

 

In der Generation meiner Eltern ist diese Denkweise durchaus verbreitet: Unter den Urlaubsmitbringseln meines Vaters, der 2013 verstarb, fand ich eine Broschüre aus den frühen 1970er Jahren: »Diese Woche in Teheran«, stand auf dem Faltblatt mit Unternehmungstipps für die iranische Hauptstadt. Herausgeber: die israelische Fluglinie El Al.

 

Das Erbe dieser gekappten Verbindung liegt auch der Kommunikationspolitik des Premierministers zugrunde. Seit einigen Jahren wendet sich Benyamin Netanyahu direkt an das iranische Volk und ermutigt es, das Joch der Kleriker-Herrschaft abzuwerfen. Viele Kritiker empfinden das als zynische, andere als wenig effektive PR-Strategie. Aber das trifft den Kern der Sache nicht.

 

Denn Netanyahu, Israels wohl gewieftester Politiker, kann die Botschaft glaubhaft vortragen, weil er weiß, dass sie im eigenen Land wenig Kontroversen auslöst. Iran kann sich ändern, sagt Netanyahu. Die vergangenen vierzig Jahre waren ein Irrweg, nickt sein israelisches Publikum zustimmend. Es wird niemals Routine sein.

 

Für viele Israelis ist diese Haltung Ausdruck einer hoffnungsvollen Vision. Der Frieden mit Ägypten ist Routine, der Konflikt mit Iran nicht. Eigentlich eine sehr ungewöhnliche israelische Haltung: Denn ansonsten diktiert das israelische Selbstverständnis, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen, wenn es um den Nahen Osten geht.

 

Der Glaube daran, dass Frieden reine Routine ist, gleitet leicht in Selbstzufriedenheit, Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit ab. Ist uns das nicht 1973 passiert, als wir Ägyptens Intentionen völlig missverstanden und uns der Jom-Kippur-Krieg kalt erwischte? Der Glaube, dass Feindseligkeit überwunden werden kann, birgt die Gefahr falscher Hoffnungen. Und immerhin hält sich das iranische Regime schon seit vierzig Jahren an der Macht.

 

Der Frühling 2011 war für die Ägypter eine Zeit des hoffnungsvollen Aufbruchs, während bei uns Israelis Unsicherheit die Sorge über den Status der Beziehungen überwog

 

So erklärt sich die tief sitzende Skepsis in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft. Die trat auch 2011 zutage, als viele Israelis mit Unbehagen die Ereignisse in Ägypten verfolgten. Das Albtraum-Szenario: Eine Regierung der Muslimbrüder kommt an die Macht und kündigt den Friedensvertrag von Camp David auf.

 

Ich war damals zu Besuch in der ägyptischen Hauptstadt. Im Gegensatz zur Tourismus-Hochburg Sinai wagten sich nur wenige Israelis nach Kairo – wir sind dort wirklich nicht gern gesehen, und das spürt man. Doch in den Revolutionstagen eröffnete sich mir ein kurzer Einblick, den nicht viele Israelis bekommen: Ich spazierte auf dem Tahrir-Platz, wo die Aktivisten ihr Lager bezogen hatten.

 

Plötzlich kamen Kinder auf mich zu – und malten mir mit Wachsstiften die ägyptische Flagge auf die Wangen. Der Frühling 2011 war für die Ägypter eine Zeit des hoffnungsvollen Aufbruchs, während bei uns Israelis Unsicherheit die Sorge über den Status der Beziehungen überwog.

 

Es überwiegt ein Gefühl bescheidener, bodenständiger Hoffnung. Es ist nicht die Ekstase, die am Tag von Sadats Ankunft auf dem Rollfeld in Jerusalem in der Luft lag

 

In den vergangenen Jahren häufen sich die Warnungen israelischer Nahostexperten, nicht auf einen Regimewechsel in Iran zu setzen – die Hoffnung auf dieses Szenario reiche als Grundlage einer kohärenten Regionalstrategie nicht aus. Insgesamt aber finden die Sorge über den Bestand des Friedens mit Ägypten und der Pessimismus bezüglich Iran heute nur am politischen Rand Gehör.

 

Es überwiegt ein Gefühl bescheidener, bodenständiger Hoffnung. Es ist nicht die Ekstase, die am Tag von Sadats Ankunft auf dem Rollfeld in Jerusalem in der Luft lag, sondern die Hoffnung, die auf der Errungenschaft des Friedensschlusses aufbaut. Nicht die Alarmstimmung, die, verständlicherweise, so oft im israelischen Diskurs über das Gefahrenpotenzial Irans anzutreffen ist. Sondern die grundlegende Hoffnung, dass die Islamische Republik eines Tages an den Rand gedrängt wird.

 

Es ist so eine Sache mit der Hoffnung in Israel. Kaum jemand schreibt sie sich auf die Fahne. Die Öffentlichkeit ist nicht sonderlich optimistisch, was eine Lösung des Nahostkonflikts betrifft und auch das Verhältnis zur Politelite ist nach zahlreichen Korruptionsaffären angeknackst. Und tief in uns lauert das Bewusstsein darüber, wie schmal der Grat zwischen Hoffnung und Nachlässigkeit ist.

 

Hoffnung wird bei uns erst sichtbar, wenn wir den Blick weiten und vierzig Jahre in die Vergangenheit schauen. Denn auch die Hoffnung, die Camp David entsprang, ist Teil dessen, was Israel heute ausmacht.


Owen Alterman, 41, ist Senior International Affairs Correspondent beim privaten israelischen Auslandsnachrichtensender i24news. Alterman hat Nahostwissenschaften in Princeton und Jura in Harvard studiert und war zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Institute for National Security Studies« in Tel Aviv.

Von: 
Owen Alterman

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