Unter den Trümmern von Mosul liegen noch immer Hunderte Tote. Freiwillige versuchen, die Körper zu bergen. Aber jemand hindert sie daran.
Das zerstörte Gebäude fällt uns sofort auf. Das Dach und die Wände – nicht mehr als ein Gerippe. Die Zerstörung ist sogar für die Verhältnisse hier in der Altstadt von Mosul bemerkenswert. Wir vermuten, dass mehr dahintersteckt. Als uns die Bewohner aus der Nachbarschaft erzählen, was hier geschehen war, ist uns klar: Wir haben uns nicht getäuscht.
Das Haus wurde im Kampf um Mosul von zwei Raketen getroffen, berichtet uns der 33-Jährige Muhammad. Er habe es selbst gesehen. »Der Besitzer war ein hochrangiger IS-Anführer in der Stadt. Hier lag eine Annahmestelle für religiöse Steuern. Im Keller wurden Ölfässer gelagert. Als die Gefechte um die Befreiung der Stadt begannen, wurden hier zahlreiche IS-Familien untergebracht. Eine Woche später wurde das Haus bombardiert – die ganzen Kinder und Frauen waren noch drinnen.«
Muhammad, der nur wenige Häuser weiter lebt, erinnert sich genau: »Die Bombardierung begann gegen drei Uhr am Nachmittag, zwei Stunden lang hörten wir ununterbrochen die Schreie der Frauen und Kinder. Dann war plötzlich Stille.« Er zeigt auf die Trümmer: »IS- Kämpfer haben die Verletzten aus dem Haus herausgeholt, aber die Toten liegen hier noch immer. Dutzende Leichen wurden bis heute nicht geborgen.«
Ein weiterer Nachbar, Khaled Ezzat, wurde ebenfalls Zeuge der Bombardierung. Während der 58-Jährige mit uns spricht, schmeißen Kinder aus der Nachbarschaft Müllbeutel in die ausgebrannte Ruine. Khaled Ezzat berichtet von einer Frau, die den Raketenangriff überlebte: »Sie erzählte uns, dass 64 Menschen hier wohnten. Dass ihr ganzes Geld noch in dem Haus sei. 14 Menschen seien evakuiert worden, einige von ihnen verletzt, andere tot. 50 Leichen müssten also noch in den Trümmern liegen.«
Wie betreten das Haus und bewegen uns darin mit großer Vorsicht – überall könne noch Sprengstoff herumliegen, wurden wir gewarnt. Aus dem Schutt ragen hier und da menschliche Knochen, an einer Stelle finden wir die Überreste eines Sprengstoffgürtels. Alle Nachbarn berichten uns, wie sehr es sie belastet, dass so viele Leichen noch nicht geborgen sind, psychologisch und gesundheitlich:Die Ruine ziehe Straßenhunde, Schlangen, Skorpione und andere gefährliche Tiere an.
»Der Gestank bringt uns um. Der Gestank des Todes und die Insekten, Skorpione und Schlangen, die von den verwesenden Leichen angezogen werden«
Am 10. Juli 2017 erklärte Iraks damaliger Premier Haider Al-Abadi den Sieg über den IS in Mosul. Wenig später ließ er die irakische Flagge in der Stadt hissen, nach mehr als neun Monaten massiver Gefechte. Drei Jahre lang hatte die Terrorgruppe Mosul kontrolliert, in der Al-Nuri-Moschee hatte ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi das »Kalifat« ausgerufen.
Der Krieg ist vorbei – andere Schlachten werden noch geschlagen. Wer in die Stadt zurückkehrt, lebt mit Armut und Krankheiten. Und mit Leichen, die unter dem Schutt zerstörter und verminter Häuser liegen. Geborgene Leichen sind hier keine Schlagzeile mehr wert, sie sind Alltag.
Das Viertel Al-Schahwan gehört zu den Gebieten, das die größten Schäden erlitt. Nach Angaben von Bürgermeister Zuhair Al-Araji sind 80 Prozent der Altstadt zerstört: 15 der 54 Wohnbezirke seien dem Erdboden gleich gemacht worden, in 23 Vierteln sei die Hälfte der Häuser zerstört, während in 16 Vierteln »nur« geringe Schäden zu verzeichnen wären.
Überall verbrannte Autos, Berge von Schutt: In Al-Schahwan kommt man sich vor wie in einem Film über den Zweiten Weltkrieg. Zwangsläufig stößt man auch auf die Überreste menschlicher Knochen oder ganze Skelette von Menschen, die in den Gefechten ums Leben gekommen sind.
Die 64-jährige Umm Muhammad gehört zu den wenigen, die nach der Befreiung Mosuls in das Viertel zurückgekehrt sind. Sie sitzt, wie so häufig, im Eingang ihres Hauses, eine lange weiße Gebetskette in der Hand – sie zählt die Zahl der Opfer, erinnert sich an bessere Zeiten, an ihre Nachbarn von früher, von denen sie viele nie wiedersehen wird. »Diese Gegend war früher ein Paradies für mich«, sagt sie, während sie die Kette in ihrer Hand bewegt. »Als ich zurückkam, war alles zerstört. Zum Glück haben mir wohltätige Menschen Geld gespendet, um unser Haus wiederaufzubauen. Aber der Gestank bringt uns um. Der Gestank des Todes und die Insekten, Skorpione und Schlangen, die von den verwesenden Leichen angezogen werden.«
Umm Muhammad nimmt uns mit auf eine Tour durch das Viertel. In den Gassen steht an manchen baufälligen Wänden geschrieben: »Hier lebt eine Familie«. Daneben ist ein Pfeil gemalt, der in die Richtung weist, wo die Familie zwischen Trümmern, Leichen und Schlangen haust. In einem Haus sehen wir dann die Skelette – überdeckt mit Kleidungsresten, Schuhen und Laken, in einigen Ecken liegen auch noch Sprengstoffgürtel herum.
»Jedes Objekt könnte eine Gefahr darstellen – der Kühlschrank, der Lichtschalter. Ein Knopfdruck und eine Bombe kann hochgehen«
Diese Häuser zu betreten, ist mit Gefahren verbunden: Minen und Blindgänger sind in der ganzen Altstadt verstreut. Die für die Suche, Beseitigung und Entschärfung von Minen zuständige UN-Behörde UNMAS schätzt, dass Tausende Tonnen Sprengstoff noch irgendwo in Mosul liegen. Zehn Jahre könne es dauern, die Stadt von dieser Last der IS-Herrschaft und des Krieges zu befreien, schätzte die Organisation 2019.
»Viele Gebäude sind über den Menschen zusammengestürzt. Andere wurden mit Sprengfallen versehen, um zu verhindern, dass die Bewohner wieder in ihrer Häuser zurückkehren. Dazu kommen die Blindgänger«, erklärt Paul Heslop der die Räumungsarbeiten von UNMAS koordiniert. Zwei Jahre hätten die IS-Kämpfer Zeit gehabt, Sprengfallen und Bomben zu platzieren. »Jedes Objekt könnte eine Gefahr darstellen – der Kühlschrank, der Lichtschalter. Ein Knopfdruck und eine Bombe kann hochgehen. Wenn Suchteams unterwegs sind, kann ein falscher Schritt ein ganzes Gebäude zusammenstürzen lassen.«
Umm Muhammad seufzt beim Gang durch ihr zerstörtes Viertel und möchte dennoch hier bleiben, trotz allem, was sie in den letzten Jahren erlebt hat: »Das ist das Land meines Vaters und meines Großvaters. Wo sollte ich sonst hin? Wir möchten nur von der Regierung entschädigt werden für die Zerstörung unseres Hauses, für den Tod unserer Kinder.« Umm Muhammad blickt auf eine Erhebung in der Nähe. »Seht ihr den Hügel dort? Eigentlich ist es ein Trümmerberg. Kürzlich ist ein Kind dort in den Keller eines zerstörten Hauses gefallen.«
Sie erzählt uns von ihrem Ehemann, der an Krebs gestorben ist und von ihren Söhnen. IS-Kämpfer hatten sie mit dem Tod bedroht, weil sie als Polizisten gearbeitet hatten. Sie sind aus Mosul geflohen und nie zurückgekommen. Früher hat sie hier auf der Straße Brot und Gemüse verkauft, erzählt Umm Muhammad, heute kann sie nur dank Spenden überleben: »Könnt ihr euch vorstellen, dass Menschen dieses Stück Land ihre Heimat nannten?«, fragt sie und zeigt auf die Brache rund um ihr Haus, die den Blick freigibt auf den Fluss Tigris, der die Stadt in zwei Hälften teilt.
Sie läuft weiter, zählt die Namen ihrer Nachbarn auf und zeigt auf die Orte, an denen früher deren Häuser standen. »Hier hat Kenan gelebt – er wurde während der Kämpfe getötet. Das da vorn ist das Haus meiner Tante. Sie liegt immer noch in den Trümmern. Da drüben wohnte der Onkel meines Mannes mit seiner Familie. Seine beiden Söhne wurden auch getötet. Einer von ihnen war Sanitäter, er wurde von einer Kugel in die Brust getroffen, als er einem verletzten Freund helfen wollte.« Umm Muhammad zählt weiter auf, »da hat Riad gewohnt, ein guter Freund von uns«, und kann ihre Tränen kaum noch zurückhalten.
»Die anständigen jungen Leute sind alle weg. Tot. Das Viertel ist tot. Wir haben hier früher harmonisch zusammengelebt. Jeder war für den anderen da«, erzählt sie unter Tränen. »Als mein Mann gestorben ist, haben mir alle Nachbarn geholfen. Jetzt sind sie weg. Wer nicht gestorben ist, wurde vertrieben und ist nicht zurückgekehrt.«
Im Juli 2017, nach dem Ende der Schlacht um Mosul, bezifferte die irakische Regierung die Zahl der Toten auf 3.176. Nach Angaben der für die Statistiken und Daten zuständigen Kriegsmedienabteilung waren 1.429 von ihnen Zivilisten. Die Listen der identifizierten Toten und die hohe Zahl der Leichen, die noch immer in der Altstadt geborgen werden, lassen vermuten, dass die offiziellen Angaben nicht dem wahren Ausmaß entsprechen.
In Mosul treffen wir Brigadegeneral Hussam Khalil, den Leiter des Zivilschutzes im Gouvernement von Niniweh. Er zeigt uns die Listen, auf denen die Zahl der geborgenen Leichen verzeichnet ist: »Wir haben 2.600 Leichen bergen und sie Menschen zuordnen können, die während der Kämpfe getötet wurden. Von ihnen sind ungefähr 750 Frauen und 850 Kinder.
»Ohne das richtige Gerät kamen wir nicht an die Leichen heran, die tief unten in den Trümmern begraben waren«
Dazu kommen rund 2.200 unidentifizierte Leichen von IS-Kämpfern. In der Summe sind das 4.800 Menschen.« Seine Zahlen sind deutlich höher als die, die die Kriegsmedienabteilung herausgegeben hat. Khalil sagt, dass seine Abteilung die Bergung der Leichen fast abgeschlossen hat. »Zu 98 Prozent.« Er fügt hinzu, dass der Zivilschutz angewiesen ist auf Hinweise von Bürgern und den Behörden, die verantwortlich dafür sind, den Schutt abzuräumen.
»Hier Leichen zu bergen, ist ziemlich anspruchsvoll. Die Straßen und Gassen in der Altstadt sind eng und in weiten Teilen zerstört, da kommt man mit schwerem Gerät kaum hin. Und dann sind da noch die Sprengfallen des IS und Blindgänger unter den Trümmern.« Am Anfang hatte sich ein noch grundsätzlicheres Problem ergeben, berichtet er. Denn als Mosul befreit wurde, habe der Zivilschutz über keinerlei Gerät und Ausrüstung verfügt.
Damals wurde auch das »Komitee zur Bergung der Leichen« gegründet, angeführt von Duraid Hazem. Der Ingenieur berichtet uns bei einem Treffen von noch einmal ganz anderen Zahlen. Von 2017 bis zum Ende des Jahres 2019 seien 5.524 Leichen geborgen worden, davon hätten 2.872 identifiziert werden können. Er rechnet damit, dass die tatsächlichen Zahlen noch höher liegen: »So lange in der Stadt noch Trümmer und zerstörte Häuser stehen, so lange werden wir auch noch Leichen finden.«
Etwa in der Gegend zwischen dem Scharin-Markt und der Fünften Brücke in der Altstadt. Sie war der Schauplatz der letzten Kämpfe zwischen der irakischen Armee und dem IS. »Das waren heftige Gefechte, inklusive Luftangriffe«, erinnert sich Hazem.
Der Staat, sagt er, verfügt nicht über die notwendigen Mittel, um die Masse des Schutts zu bewältigen. »Unser Komitee hat mit der Stadtverwaltung, dem Zivilschutz und der Abteilung für Gerichtsmedizin zusammengearbeitet. Aber ohne das richtige Gerät kamen wir nicht an die Leichen heran, die tief unten in den Trümmern begraben waren.«
»Manche Gassen sind nur zwei oder drei Meter breit. Um da überhaupt hinzukommen, musste vieles abgerissen und von Bulldozern planiert werden«
Qlayaat ist eines der ältesten Stadtviertel Mosuls. Hierhin zogen sich die Assyrer nach dem Untergang ihres Reiches im Jahr 612 vor Christi Geburt zurück. 2017 fand hier die »letzte Schlacht« statt, wie die Einwohner von Mosul sie nennen. Die verbliebenen IS-Kämpfer und ihre Familien waren eingeschlossen und konnten nicht mehr entkommen, als die irakische Armee mit Artillerie feuerte und die internationale Militär-Koalition aus der Luft Bomben abwarf.
Zurückgeblieben sind Berge von Schutt. Der Zivilschutz konnte 500 Leichen bergen, hauptsächlich von Frauen und Kindern, bevor die Bergungsarbeiten in der archäologischen Stätte gestoppt wurden. Nawfal Al-Aqub, damals Gouverneur von Niniweh, hatte die Anordnung gegeben, die Gegend zu planieren, so dass der Boden an Investoren verkauft werden kann. Dampfwalzen und Bulldozer rollten an und begruben ungezählte Leichen und die reiche Geschichte der Stadt unter dem plattgewalzten Boden.
Nach Vorwürfen der Korruption und der Veruntreuung öffentlicher Gelder wurde Aqub im März 2019 aus dem Amt geworfen. Der Ex-Gouverneur ließ alle unsere Anfragen zum Thema Qlayaat unbeantwortet und war auch nicht zu einem persönlichen Gespräch bereit.
Ingenieur Hazem meint dagegen, dass die Entscheidung damals von den lokalen Behörden getroffen wurde, in der Hoffnung, Straßen wieder befahrbar zu machen, um die Gegend wieder mit Leben zu füllen. »Die Stadt ist so alt, mit ihren heruntergekommenen Häusern – manche Gassen sind nur zwei oder drei Meter breit. Um da überhaupt hinzukommen, musste vieles abgerissen und von Bulldozern planiert werden.«
Als wir Hazem auf die Beschwerden der Bewohner hin auf die überall in Wohngebieten verstreuten Leichen und Körperteile ansprechen, scheint er das Ausmaß herunterspielen zu wollen: »Es gibt keine Leichen im buchstäblichen Sinne mehr – vielmehr Skelette und einzelne Körperteile. Das Fleisch ist inzwischen verwest. Ich glaube, die Bewohner übertreiben ein bisschen. Die verbleibenden Toten zu bergen, ist außerdem ziemlich schwer, bei dem Grad der Zerstörung. Es ist nicht so einfach, wie die Leute glauben.«
Wir verlassen Hazems Büro und treffen in den Straßen der Altstadt eher zufällig auf Omar Muhammad. Der 35-Jährige beginnt gleich, sich aufzuregen. »Die Altstadt ist voller Leichen. Der Gestank ist fürchterlich. Und dann breiten sich ja auch Krankheiten aus. Der Zivilschutz steht in der Pflicht, die Toten zu bergen.«
Ein weiterer Passant stimmt ihm zu. »Früher habe ich hier gelebt. Ich würde gerne zurückkommen. Aber wie? Die Behörden haben ein paar Dutzend Leichen geborgen, aber es sind noch so viele da«, beschwert sich Samed Saleh. »Die Regierung muss schnell etwas unternehmen, damit die Leute in ihre Häuser zurückkehren können.« Wir fragen ihn, was er von der Aussage des Zivilschutzes hält, dass die Bergung fast abgeschlossen sei. »Quatsch, gleich hier um die Ecke war der Gestank eindeutig und kaum auszuhalten. Da kommt einem alles hoch.«
»Er war ein anständiger Mann – ein Polizist. Deswegen wurde er vom IS entführt. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist«
Weder von der Zentralregierung in Bagdad, noch von den Verantwortlichen im Gouvernement Niniweh bekommen wir präzise Todeszahlen der Schlacht um Mosul. Dabei hatte die Kriegsmedienabteilung sehr großspurig bekannt gegeben, dass bei den Kämpfen innerhalb von neun Monaten 30.000 Kämpfer des IS getötet worden waren. Wenn bislang knapp 6.000 Leichen geborgen wurden, dann könnten noch immer mehr als 24.000 Toten unter den Trümmern von Mosul liegen.
Dazu kommt die hohe Zahl der Vermissten. Nach offiziellen Angaben galten 5.000 Menschen als vermisst, als die Stadt vom IS befreit wurde. Eine Datenbank liegt der Stadtverwaltung jedoch nicht vor. Es bleibt im Unklaren, wer vom IS entführt wurde, wer möglicherweise von den Milizen der Volksmobilisierung (Al-Haschd Al-Schabi), oder wer von den irakischen Sicherheitskräften festgenommen wurde. Die Vermissten könnten auch unter den Trümmern der Stadt liegen.
Als wir Umm Muhammad ein zweites Mal besuchen, erzählt sie uns von ihrem früheren Nachbarn Riad. Sie zeigt auf eine leere Fläche. »Hier stand früher sein Haus. Er war ein anständiger Mann – ein Polizist. Deswegen wurde er vom IS entführt. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist.« Umm Muhammad hilft uns, Kontakt zu Riads Familie aufzunehmen. Aus Al-Schahwan wurden sie vertrieben, heute leben sie zur Miete im Osten von Mosul. Die Hoffnung der Familie, Riad jemals wiederzusehen, schwindet mit jedem Tag.
Obeida, der älteste Sohn, ist heute 25 Jahre alt. Er schaut sich häufig Fotos von früher an. »Mein Vater«, erzählt er, »wurde um acht Uhr Abends entführt – das war im April 2017. Eine Gruppe von IS-Kämpfern stürmte das Haus und forderte ihn auf, Abbitte für seine Fehler zu leisten. Sie suchten im ganzen Haus nach seiner SIM-Karte. Ohne Erfolg. Dann nahmen sie ihn mit. Er ist nicht wieder aufgetaucht.«
»Wir befürchteten, dass sich Krankheiten ausbreiten würden. Wer den IS überlebt hat, würde wenig später von einer Epidemie dahingerafft werden«
Wo ihr Vater ist, wissen Obeida, seine Geschwister und seine Mutter nicht. Natürlich kennen sie die Gerüchte, dass die irakische Armee viele Geiseln des IS in Gefängnisse verlegt hat oder, dass der IS noch immer Gefangene in geheimen Verstecken festhalte. »Wenn wir nur wüssten, was mit ihm passiert ist, wäre vieles einfacher«, sagt Obeida. »Mein Vater war beliebt in Al-Schahwan. Wenn Sie nach Riad, dem Polizisten mit dem weißen Corolla, fragen, wird niemand ein böses Wort über ihn verlieren.«
Nach der Befreiung Mosuls wollte Riads Familie in die alte Nachbarschaft zurückkehren, um nach ihm zu suchen. »Die Sicherheitskräfte haben es nicht erlaubt. Erst nach sechs Monaten durften wir in das Viertel. Überall lagen Leichen, viele zerstückelt. Da war es kaum möglich, irgendetwas zu finden, das zu meinem Vater gehört hat.« Im Zuge ihrer Suche trafen und Obeida seine Brüder auf Sorur Al-Husseini. Die 26-Jährige leitet ein kleines Team, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Leichen aus dem Schutt zu bergen. Sechs Freiwillige, Zivilisten, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um den Schleier des Todes von der Stadt zu lüften.
»Wir waren geschockt, als wir im November 2017 die Leichenberge in den Straßen sahen. Wir beantragten umgehend bei der Stadtverwaltung, dem Gesundheitsministerium und dem Zivilschutz eine Erlaubnis, Leichen bergen zu dürfen. Es dauerte zwei Monate, bis wir die Genehmigung hatten.« Sorge um die Stadt und ihre Bewohner sei der Antrieb für ihr Team gewesen, erzählt uns Husseini. »Wir befürchteten, dass sich Krankheiten ausbreiten würden. Wer den IS überlebt hat, würde wenig später von einer Epidemie dahingerafft werden. Außerdem mussten die Bewohner ja irgendwann zurück in ihre Häuser.«
Mehr als 1.000 Leichen hätten sie und ihr Team geborgen, sagt Husseini. Sie zeigt uns Videos, wie sie die Toten aus den Trümmern holen – einigen fehlt eine Hand, ein Fuß oder auch der Kopf. »Wir bargen die Leichen ohne jede Ausrüstung, von den Straßen, aus Kellern. Dann legten wir sie in Leichensäcke und versiegelten die dann. Die Säcke brachten wir in Gegenden, die weniger stark zerstört waren. Dort konnten sie von der Stadtverwaltung mit Fahrzeugen abgeholt werden. Die hat sich dann auch um die Beerdigungen gekümmert.«
»Am schwierigsten war es, wenn Sprengfallen an Leichen angebracht waren«
Die Bewohner der Viertel und die Soldaten hätten Hinweise gegeben, wo sich Leichen befinden könnten, außerdem orientierten sich Husseini und ihr Team an dem üblen Geruch der Verwesung. »Wir wurden von Sicherheitskräften begleitet. Am schwierigsten war es, wenn Sprengfallen an Leichen angebracht waren. Wir wollten nicht, dass den Jüngeren aus unserer Gruppe etwas passiert. Mit denen haben wir über Walkie-Talkies kommuniziert, wenn wir eine Leiche fanden.«
Ihre Suche nach den Leichen von Mosul brachte Husseini einige Berühmtheit ein und auch juristischen Ärger: In der Sendung »Shabab Talk« der Deutschen Welle traf sie auf den damaligen Gouverneur Nawfal Al-Aqub. »Er regte sich fürchterlich auf und beschimpfte mich als Lügnerin. Er stritt rundweg ab, dass in Mosul noch Leichen in den Straßen liegen würden.«
Kurz darauf wurde Husseini zum lokalen Befehlshaber der irakischen Armee im Gouvernement Ninive zitiert. »Als er herausfand, dass wir als Freiwillige mit der Stadtverwaltung und der Gerichtsmedizin zusammenarbeiten, erklärte er alle Vorwürfe für nichtig.« Aber der Ärger war damit noch nicht vorüber. Zu ihrer Verwunderung erfuhr Husseini, dass Aqub ein Gerichtsverfahren gegen sie angestrengt hatte.
Das Verfahren zog sich über ein Jahr hin, bevor Journalisten Wind davon bekamen und eine Kampagne starteten, sodass die Vorwürfe schließlich fallen gelassen wurden. Letztlich sprach das Gericht Husseini aus Mangel an Beweisen frei. In ihrem Team aus ursprünglich sechs Leuten arbeiten inzwischen 40 junge Frauen und Männer aus Mosul mit.
Mizar Kemal ist freier Journalist und lebt in Bagdad. Diese Reportage wurde durch den Candid Journalism Grant gefördert.