2019 gingen die Iraker zu Hunderttausenden auf die Straßen. Über ein Volk, das sich endlich sicher und zugehörig fühlen will.
Im Irak bringt der Frühling keine Hoffnung. Frühjahr und Sommermonate bedeuten sengende Hitze. Erst der Herbst bringt Erleichterung, indem er nicht nur die Luft, sondern auch den Zorn der Menschen über mangelnden Strom für Klimaanlagen abkühlt. Im Oktober 2019 erlebte der Irak jedoch genau das Gegenteil: ein Anschwellen öffentlicher Wut, das zur Oktoberrevolution und einem Frühling des kollektiven Bewusstseins führte. Irakerinnen und Iraker gingen auf die Straße, um für jene Rechte und Repräsentationsmöglichkeiten zu kämpfen, die ihnen seit der Invasion von 2003 verweigert werden.
Saddam Hussein säte Angst und Misstrauen in die irakische Gesellschaft, indem er Menschen dazu zwang, sich gegenseitig auszuspionieren. Er führte einen psychologischen Krieg gegen seine eigene Bevölkerung, der zur Entfremdung zwischen Menschen und Staat führte.
Die US-Besatzung im Irak legte keinen Fokus auf Friedenssicherung oder den Aufbau institutioneller Kapazitäten, sondern ließ sich beim Wiederaufbau des Landes von ökonomischen Imperativen leiten. Das State-Building ohne Verständnis für die Komplexitäten des Landes führte zu einer radikalen Neuordnung der Gesellschaft.
Viele Jugendliche wissen so gut wie nichts über die Verbrechen des alten Staates.
Insbesondere die Auflösung der Armee und des Gesundheitssystems unter dem Mantel der Entba’athifizierung führte schon früh zur Desintegration von Staat und Gesellschaft. Alle Bürger mit einer nominellen Zugehörigkeit zur Ba’ath-Partei, zuvor eine Notwendigkeit auf dem Arbeitsmarkt, wurden plötzlich ökonomisch, rechtlich und gesellschaftlich marginalisiert und mit den eigenen Unterdrückern gleichgesetzt.
Die Aussicht auf Geld und Macht brachte auch Nachbarn wie Iran auf den Plan, die ebenfalls eine Rolle in der Bildung des undemokratischen, konfessionellen Systems spielten, das sich seither durch Korruption und ausländische Kredite über Wasser hält. Dadurch wurde die ethnokonfessionelle Diskriminierung institutionalisiert. Quoten hievten nicht gewählte Politiker an die Macht und bevorzugten einige religiöse und ethnische Gemeinschaften, während andere ganz ausgeschlossen blieben – besonders den Minderheiten der Jesiden, Assyrer, Mandäer und Ahl-El-Haqq wurden die Teilhabe am politischen Prozess verwehrt.
Iraks Regierungen seit 2003 betrieben Geschichtsrevisionismus und veränderten Lehrbücher, um die frühere Ba’ath-Regierung aus der öffentlichen Erinnerung zu tilgen. Letztlich trat das Gegenteil des gewünschten Effekts ein: Viele Jugendliche wissen so gut wie nichts über die Verbrechen des alten Staates. Zudem dominieren parteinahe Medienhäuser den öffentlichen Diskurs und leisten dem Narrativ eines ewigen konfessionellen Krieges Vorschub.
Der Krieg gegen den IS schweißte die irakische Gesellschaft über Konfessionen hinweg für eine Weile zusammen. Politiker beraumten zwar Untersuchungen zum Fall Mosuls an, Ergebnisse wurden aber nie öffentlich gemacht, und ein transparenter Prozess zur Rechenschaftspflicht blieb aus. Da realisierten viele, dass ihr eigentlicher Feind nicht der IS ist – es sind jene Politiker, die die Gesellschaft bewusst spalten. Bis heute wird der Öffentlichkeit die ganze Story zum Krieg gegen den IS vorenthalten.
Die höchsten Ebenen des Justizsystems sind politisiert, während niedrige Instanzen eingeschüchtert werden.
Versöhnung kann nicht ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit durch eine Übergangsjustiz erreicht werden. Doch genau das wird den Irakern verwehrt. Die höchsten Ebenen des Justizsystems sind politisiert, während niedrige Instanzen eingeschüchtert werden, wodurch der »Rechtsstaat« zum Repressionsinstrument verkommt. Jene tribalen Strukturen, die das Sicherheitsvakuum im Nachgang der US-Invasion füllten, implementieren dabei schlicht ihre eigenen Regelwerke.
Während der Regierungszeit von Premierminister Nuri A l-Maliki (2006–2014) wurde die Staatsgewalt eingesetzt, um konfessionelle Spaltungen in der Gesellschaft weiter zu vertiefen. Die Diskriminierung der Sunniten, die durch das Dogma der Entba’athifizierung legitimiert wurde, spielte eine zentrale Rolle bei der Entstehung des IS. Der anschließende Krieg militarisierte die Gesellschaft weiter.
Einige der in dieser Zeit entstandenen Milizen kämpfen heute als erweiterter Arm der irakischen Armee und gedeihen als Hybrid-Akteure in den Grauzonen zwischen Staat und Gesellschaft. Manchen gelang nach den Wahlen von 2016 sogar der Einzug ins Parlament. Doch gleichzeitig agieren sie entgegen staatlicher Interessen, indem sie politische Gegner erpressen, einschüchtern, oder ermorden.
Im primär schiitischen Zentralirak und Süden des Landes waren die Menschen besser organisiert und hatten mehr Protesterfahrung.
Unterdessen sind alle Ebenen des Staatsapparates von Korruption durchsetzt. Von faulen Verträgen mit inexistenten Firmen über die Veruntreuung öffentlicher Gelder bis hin zu Geldwäsche und Erpressung – die politische Elite im Irak hat es inzwischen auf Platz 162 des Korruptionsindexes von Transparency International geschafft. Währenddessen verarmt ein immer größerer Teil der Bevölkerung, grundlegende Bedürfnisse bleiben aufgrund fehlender Gesundheits-, Elektrizitäts- oder Wasserversorgung unbefriedigt. Die hohe Arbeitslosigkeit sowie eine aufgeblasene Bürokratie, in der nur durch Schmiergelder etwas zu erreichen ist, heizen den öffentlichen Zorn weiter an.
Zwar hat das Land in den letzten Jahren regelmäßig Proteste erlebt, aber die Aufstände im Oktober 2019 waren von einem anderen Kaliber. Die Proteste in den sunnitisch dominierten Provinzen im Westen und Norden wurden zwar recht schnell durch die Verhaftung von Aktivisten eingedämmt. Doch im primär schiitischen Zentralirak und Süden des Landes waren die Menschen besser organisiert und hatten mehr Protesterfahrung. Tausende füllten die Plätze und blockierten die Straßen. In den folgenden Monaten töteten die Sicherheitskräfte sowie paramilitärische Scharfschützen mehr als 700 Demonstranten, über 20.000 wurden verletzt, und bis heute sind viele Aktivisten spurlos verschwunden.
Hinter diesen Zahlen stecken die Geschichten von Menschen, die in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Entschlossenheit auf die Straße gegangen sind. »Ich hole mir meine Rechte zurück« und »Wir wollen eine Heimat«, riefen sie auf den Demonstrationen. Die Parolen umschreiben die kollektive Empfindung und spiegeln die tiefe soziale und politische Entfremdung der Gesellschaft – die Iraker wollen sich endlich zugehörig und sicher fühlen können.
Die Proteste brachten Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammen und kreierten so eine neues Gefühl von Einheit. Auch Frauen zeigten sich das erste Mal seit Jahrzehnten wieder als Anführerinnen, mobilisierten sogar in den konservativsten Städten des Landes. Dafür erfuhren sie auch von männlichen Demonstranten Unterstützung: »Ihr seid Revolution!«.
Sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure gingen mit ganzer Härte gegen die Demonstrationen vor.
Sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure gingen mit ganzer Härte gegen die Demonstrationen vor – sie setzten nicht nur auf Alarm- und Leuchtbomben, sondern auch auf Rufmordkampagnen in den Sozialen Medien. Die Regierung stellte zeitweise das Internet ab, um den Kontakt unter den Aktivisten und mit der Außenwelt zu kappen. Daraufhin verwendeten die Protestierenden Radios zur Kommunikation. Aktivisten in den nicht betroffenen kurdischen Gebieten sprangen ein, um die Informationslücken zu schließen und über Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Diese Bewegung hat gezeigt, wie sehr die Iraker gesehen und gehört werden wollen.
Daraufhin versuchten die politischen Parteien und Milizen, die Proteste zu kapern und einen Keil zwischen die Menschen auf den Straßen zu treiben. Bewaffnete mischten sich unauffällig in die Proteste, um Gewalt anzuzetteln. Die Menschen auf den Straßen waren sich der repressiven Taktiken jedoch bewusst und ließen sich auch nicht von Politikern beeindrucken, die sich opportunistisch auf ihre Seite schlagen wollten. Jede Ermordung eines Aktivisten wurde als Mordanschlag auf alle gesehen, der Geburtstag eines gefallenen Aktivisten als Geburtsstunde der Revolution gefeiert.
Obwohl die Pandemie eine Protestpause erzwang, gehen weiterhin viele Menschen auf die Straßen – auch wenn Aktivisten von paramilitärischen Gruppen mit dem Tode bedroht und ermordet wurden. Die Kultur der Angst kehrt zurück, doch für die Demonstranten gilt: »Wir haben nichts mehr zu verlieren.« Die Proteste beweisen, dass die Iraker dem Tod nicht das letzte Wort überlassen wollen.
Ruba Ali Al-Hassani ist Rechtssoziologin am Tahrir Institute for Middle East Policy und promoviert an der Osgoode Hall Law School im kanadischen Toronto. Sie beschäftigt sich mit sozialer Gerechtigkeit, dem Irak, sozialen Bewegungen und sozialer Kontrolle.